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Die Blume der Heiligen Nacht

von Hannelore Schnapp

„Es war ein guter Entschluss mitzukommen!“, stellte Ruth Harder zufrieden fest, als sie in San José del Cabo aus dem Taxi stieg. Der warme mexikanische Wind streichelte ihre Haut. Die Sonnenstrahlen dieses frühen Dezembermorgens tanzten auf dem unglaublich blauen Meer.

„Genau, meine Liebe. Nicht wieder ein Weihnachten mit Seelenschmerz und Verlustgedanken. Wir müssen nach vorne blicken. Das Leben geht weiter. Auch wenn es hart ist und ich meinen Mann und meine Söhne immer noch wie verrückt vermisse“, antwortete Naomi Harder und kämpfte mit den Tränen.

„Komm, Schwiegermama, eine andere, neue Welt wartet auf uns“, forderte Ruth sie auf und nahm die betagte Dame liebevoll in den Arm.

„Ich hoffe, du bereust es nicht, mit einer so alten Fregatte wie mir in See stechen zu müssen. Aber vielleicht triffst du hier an Bord eine neue Liebe. Bitte nimm keine Rücksicht auf mich. Ich weiß, dass du meinen Sohn über alles geliebt hast“, sagte Naomi mit gefasster Stimme.

Ruth sah sie entschlossen an und antwortete: „Genau. Und deshalb wird es auch keinen anderen Mann mehr für mich geben. Du und ich, wir gehören zusammen. Und jetzt komm, bevor die ‚Christmas-Star‘ den Hafen ohne uns verlässt und wir Weihnachten in einer Hafen-Spelunke statt auf hoher See verbringen müssen.“

„Buenos dias, meine Damen! Darf ich Sie an Bord unseres Schiffes begrüßen? Ich bin Lupe, die Chef-Stewardess und stehe Ihnen während unserer zehntägigen Kreuzfahrt sehr gerne zur Verfügung.“

„Sie sprechen ausgezeichnet Deutsch!“, bemerkte Naomi Harder und schaute die mexikanische Schönheit mit ihren schwarzen, langen Locken von oben bis unten an.

„Ich habe zwei Jahre in Berlin Germanistik und Touristik studiert. Eine wunderschöne Stadt, aber im Winter etwas zu kalt“, meinte Lupe und beendete ihre Begrüßung mit der Einladung: „Darf ich den Damen Ihre wunderschöne Außenkabine zeigen?“

„Ich hoffe, wir verlaufen uns nicht, Ruth. Das ist kein Schiff, sondern eine ganze Stadt“, meinte Naomi, nachdem sie mit drei Fahrstühlen, auf fünf unterschiedlichen Etagendecks und über mindestens vier Flure endlich in ihrer Kabine angekommen waren. Etwas erschöpft ließ sie sich auf das große Bett fallen.

„Ja, gigantisch, aber auch wunderschön. Diese herrliche Weihnachtsdekoration überall mit den goldenen Kugeln, Tannenbäumen und herrlichen Christsternen.“ Ruth war begeistert. „Ein Meer voller Blumen, Farben und Düften. Komm, Schwiegermama, auspacken können wir später. Lass uns an Deck gehen und dem Schiff beim Ablegen zuschauen. Hier hast du deinen warmen Schal.“

An Deck standen bereits viele Passagiere an der Reling. Zu den Klängen von „Feliz Navidad“ navigierten Kapitän und Lotse die „Christmas-Star“ von der Mole durch den Hafen zum offenen Meer.

„Fast wie auf der Titanic!“, sagte Naomi und griff nach Ruths Hand.

„Nun, das wollen wir nicht hoffen!“, entgegnete ein elegant gekleideter Herr in einem hellen Leinenanzug in gebrochenem Deutsch.

„Nein, das wollen wir nicht!“, bestätigte Ruth. Kaum an Bord und schon wird man von fremden Männern angesprochen, dachte sie ärgerlich. Bereits dieser eine Satz war zu viel. „Komm, Schwiegermama, wie wäre es mit einer kleinen Siesta? Ich bringe dich zu unserer Kabine und du ruhst dich ein wenig aus“, bot sie Naomi an, um aus dieser Situation zu fliehen.

„Gute Idee, mein Kind. Das bekomme ich aber alleine hin. Ich bin schon groß. Schau du dich noch ein bisschen um. Bis später.“

Ruth schlenderte durchs Schiff und konnte die Augen nicht von der Blumenpracht um sie herum lassen. Hunderte von Christsternen in verschiedenen Farben schmückten in den Anpflanzungen die Flure, Geschäftspassagen, Restaurants und Bars.

„Gefallen Ihnen die Blumen?“

Ruth schaute den Herrn im Leinenanzug, der sie eben angesprochen hatte, etwas verwirrt an.

„Titanic!“, sagte er schmunzelnd.

„Ja. Ich erinnere mich. Und ja: Ich liebe Blumen. Zu unserem alten Haus gehörte ein Gewächshaus.“

„Das klingt etwas wehmütig.“

„Ist es auch. Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, ich …“

„Nein, bitte entschuldigen Sie mich. Ich wollte nicht aufdringlich wirken. Darf ich mich vorstellen: Mein Name ist Ronaldo del Boas.“

„Angenehm!“, sagte Ruth kühl und ging.

Ihren ersten Abend auf See genossen die beiden Damen in vollen Zügen.

„Was für ein hervorragendes Vier-Gänge-Menü! Ich glaube, ich platze gleich“, flüsterte Naomi Ruth zu.

„Das fand ich auch und dazu nette Leute und gute Gespräche am Tisch. Wie wäre es jetzt mit einem Cocktail in der Bar, Schwiegermama?“, schlug Ruth vor.

„Nur unter der Bedingung, dass du dir endlich die Schwiegermama abgewöhnst und mich Naomi nennst.“

„Das fällt mir schwer. Du warst immer wie eine Mutter für mich.“

Naomi lächelte. „Und was hältst du davon, wenn ich nun deine, sagen wir mütterliche Freundin werde?“

„Das ist ein guter Vorschlag, Schwie..., Naomi. Komm, darauf trinken wir ein Gläschen Sekt!“

Arm in Arm gingen die beiden in die Bar. Während viele Passagiere zu den drei unterschiedlichsten Show-Programmen in die Salons strömten, war es in der Bar angenehm ruhig. Sie fanden eine gemütliche Sitzgruppe und genossen zu leiser Klaviermusik den Sekt und die Knabbereien.

„Schau mal, Ruth. Dort drüben sitzt der nette Herr von heute Morgen. Sehr elegant im weißen Smoking. Er sieht zu uns herüber“, stellte Naomi fest und winkte ihm zu.

„Schwie..., Naomi, lass das bitte. Du benimmst dich wie ein verliebter Teenager. Nachher kommt er rüber zu uns.“ Ruth wurde Naomis Verhalten langsam peinlich.

„Was wäre daran so verkehrt, meine Liebe?“, sagte Naomi und winkte wieder.

„Oh, nein. Jetzt kommt er tatsächlich.“

„Buenos tardes, meine Damen. Darf ich sagen, dass Sie wunderschön aussehen?“

„Ebenfalls guten Abend und danke für das Kompliment, Señor ...?“, sagte Naomi scheinbar verlegen.

„Das ist Ronaldo del Boas“, erklärte Ruth.

„Ach, ihr kennt euch bereits. Wie schön. Ich bin Naomi Harder und das ist meine Schwiegertochter Ruth.“ – „Sehr angenehm!“, bemerkte der Herr im weißen Smoking.

„Möchten Sie Platz nehmen?“, fragte Naomi.

„Wenn es Sie nicht stört.“ Ronaldo sah zu Ruth.

„Keineswegs“, bemerkte diese kurz angebunden.

„Die Damen reisen allein, ohne Gatten?“, fragte er interessiert, als er Platz genommen hatte.

„Ich wüsste nicht, was Sie das angeht, oder ist das so eine Gigolo-Anmache von Ihnen? Ich frage Sie ja auch nicht nach Ihrer Frau. Also, Naomi, ich weiß nicht, wie es dir geht. Ich für meinen Teil habe für heute Abend genug Unterhaltung gehabt. Ich gehe in unsere Kabine!“, platzte es aus Ruth heraus. „Wenn Sie mich bitte entschuldigen. Gute Nacht!“

Ronaldo del Boas stand auf, als Ruth wütend den Tisch verließ.

„Ich scheine alles falsch zu machen. Bitte entschuldigen Sie!“, sagte er verwirrt zu Naomi und wollte gerade gehen, als sie ihn zurückrief.

„Señor del Boas. Sie machen nichts falsch. Bitte nehmen Sie wieder Platz. Ich erkläre Ihnen das Verhalten meiner Schwiegertochter.“ Und Naomi erzählte vom Tod ihres Ehemanns und ihrer beiden Söhne vor drei Jahren, von Abschied und Trauer. „Während meine andere Schwiegertochter zurück zu ihrer Familie gegangen ist, blieb Ruth bei mir. Die Ehen meiner beiden Söhne waren kinderlos, und auf Ruths Wunsch leben wir nun gemeinsam, statt einsam. Im Alltag gelingt uns das einigermaßen, aber an Weihnachten ist es immer furchtbar. Dieses Jahr haben wir beschlossen, eine Kreuzfahrt zu machen, um auf andere Gedanken zu kommen. So, und jetzt gehe ich auch schlafen.“ Damit schloss Naomi ihre Geschichte und stand auf.

„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Señora Harder. Wir sehen uns morgen. Buenos noches!“ Ronaldo erhob sich ebenfalls.

„Ruth ist eine wunderbare Frau. Ich möchte, dass sie glücklich wird!“, stellte Naomi im Gehen fest.

Das möchte ich auch!, dachte Ronaldo und bestellte sich einen Kaffee.

Am Morgen des Heiligen Abends lockte die Sonne die beiden Damen auf das Pool-Deck.

„Schon komisch, gerade heute nicht in der Kirche zu sein!“, bemerkte Ruth auf ihrem Liegestuhl. „Ob sie uns in der Gemeinde vermissen werden?“

„Pfarrer Weidenfels ist informiert. Ich habe ihn vor der Abreise angerufen. Er wünscht uns frohe Weihnachten“, antwortete Naomi, versteckt hinter Sonnenbrille und Reiselektüre.

„Ich glaube, es gibt sogar eine Kapelle und einen Weihnachtsgottesdienst an Bord. Ich schau mich mal um. Weihnachten im Luxus, statt mit Krippe und Stall, ist schon etwas schräg“, meinte Ruth, sprang von ihrer Liege auf und zog los.

Vorbei an dem Meer aus Blumen und allerlei Deko erreichte sie tief im Inneren des Schiffs die Kapelle. Sie war groß und wunderbar erleuchtet. Neben dem Altar war eine mexikanische Krippenlandschaft aufgebaut. Umrahmt von Christsternen wirkten die einfachen Keramikfiguren besonders ausdrucksvoll. Neben der Krippe stand auf verwelkten Blättern eine kleine Figur: ein Indio-Mädchen aus rotem Ton.

Ruth sah sich in der Kapelle um. In der letzten Bank saß ein Mann und betete. Als sie den Raum verlassen wollte, erkannte sie ihn.

„Señor del Boas!“, entfuhr es ihr erstaunt.

Er sah sie an. „Señora Harder!“

„Ich wollte Sie nicht stören“, entschuldigte sich Ruth.

„Sie haben mich nicht gestört. Nach dem Tod meiner Frau habe ich zu Gott gefunden. Oder besser: Er hat mich gefunden. In meiner Welt, in der Geld und Ansehen regierten, glaubte ich, Gott nicht zu brauchen. Erst als Consuela krank wurde und ich mit meinem Geld keine Rettung kaufen konnte, merkte ich, was ich für ein Schwächling und Versager war. Als ich am Ende war, hob Gott mich auf aus dem Dreck von Alkohol und Selbstmitleid. Heute feiern wir die Geburt seines Sohnes, der zu uns in die Scherben unseres Lebens heruntergestiegen ist. An der Krippe treffen wir uns mit all den Menschen, die sich in ihrer Trauer, in ihren Verletzungen, in ihren Sehnsüchten und Träumen eine Hoffnung auf einen Neuanfang wünschen, nicht wahr?“

Lange war es still in der Kapelle. Ruth unterbrach das Schweigen.

„Wer ist das Indio-Mädchen an der Krippe?“

Ronaldo del Boas sah Ruth an und begann mit seiner Erzählung: „Das ist eine alte Legende. Als die Azteken von der Geburt des Kindes im Stall hörten, lief ein kleines Mädchen los, um das Christuskind zu finden. Weil das Mädchen aber arm war und nichts hatte, was es ihm schenken konnte, griff es in den Staub und nahm eine Hand verwelkter Blätter mit. Als das Mädchen zur Krippe kam, das Kind sah und die edlen Geschenke der Weisen, legte es traurig die Blätter vor der Krippe ab. Da geschah ein Wunder: Aus den welken Blättern wuchsen herrliche rote Sterne, Christsterne, wie Sie sie nennen. In unserer Sprache heißt der Christstern ‚Flor de Noche Buena‘ – ‚Blume der Heiligen Nacht‘.“

Ruth berührten die Worte von Ronaldo. „Was für eine schöne Geschichte. Woher kennen Sie diese Legende?“

„Ich züchte Christsterne und verkaufe sie in der ganzen Welt“, erklärte Ronaldo del Boas. – „Kommen Sie heute Abend mit Ihrer Schwiegermutter zur Christmesse, Ruth?“, fragte er leise.

„Bestimmt! Warum fragen Sie?“

Er lächelte sie an. „Vielleicht geschieht in dieser Heiligen Nacht wieder ein Wunder.“

Hoffnung bricht durch

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