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Die Lichterpredigt

von Monika Büchel

Schneeflocken wirbelten auf und nieder, getrieben vom Wind. Ich blickte aus dem Fenster im dritten Stock des Krankenhauses auf einen tristen Hinterhof. Eine Buche stand verloren in der Mitte und wirkte wie ein mit Puderzucker dick bestäubtes Skelett. Es war Heiligabend.

Seit drei Wochen lag meine Mutter im Krankenhaus. Vorgestern musste sie zum zweiten Mal operiert werden. Voller Sorge waren mein Vater und ich heute schon nach dem Mittagessen losgefahren, um sie zu besuchen und mit ihr ein wenig Weihnachten zu feiern. Mein Vater hatte seine Bibel eingesteckt. „Plätzchen und Stollen können wir ihr ja nicht mitbringen. Nur unsere Liebe und die Botschaft von Weihnachten“, hatte er erklärt. Weihnachten – mir war wegen des schlechten Gesundheitszustandes meiner Mutter gar nicht danach zumute.

Bleich hatte sie im Bett gelegen, als wir ins Zimmer traten, und uns kraftlos die Hand gereicht. Wir hatten nach ihrem Ergehen gefragt und Grüße von Nachbarn und Bekannten weitergegeben. Ich hatte eine Vase geholt, in die ich Tannenzweige, behängt mit roten und goldenen Sternen, steckte. Dann hatte Vater seine abgegriffene Bibel aus der Tasche gezogen und die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Nicht lange danach war meine Mutter eingeschlafen.

Ich wandte mich vom Fenster ab und setzte mich neben meinen Vater, der die Hand meiner Mutter hielt. Wir waren allein. Die andere Patientin in dem Zweibettzimmer durfte die Feiertage zu Hause verbringen.

Eine Schwester kam und überprüfte den Tropf. „Alles in Ordnung“, sagte sie und eilte wieder hinaus.

Nein, so hatte ich mir dieses Weihnachtsfest nicht vorgestellt. So hatte ich es mir nicht gewünscht. Die Gefühle von Frieden und Freude, die man an Weihnachten gemeinhin erwartet, waren in diesem Jahr überdeckt von der schweren Erkrankung meiner Mutter. Ich war bedrückt, denn es schmerzte mich, sie so abgemagert und schwach zu sehen.

Langsam verstrichen die Minuten. Nun war auch noch mein Vater eingenickt. Das Alter – meine Eltern gingen auf die 80 zu –, die Anspannung und Angst wegen seiner Frau forderten ihren Tribut.

Nach einiger Zeit fasste ich ihn am Arm und rüttelte ihn sacht. „Wir müssen“, flüsterte ich und zeigte auf meine Uhr. Er nickte, seufzte, erhob sich langsam und gab Mutter einen Kuss auf die Stirn. Wir verließen leise das Zimmer, um die Schlafende nicht zu wecken.

Ich fuhr meinen Vater nach Hause und dann weiter zu meiner Wohnung in der nächsten Querstraße. Eine Stunde später holte ich ihn zur Christmette ab. Auch wenn ich am liebsten in den eigenen vier Wänden geblieben wäre, weil ich nicht in Stimmung für einen festlichen Gottesdienst war, machte ich mich meinem Vater zuliebe auf den Weg.

Die Kirche war beinah voll besetzt, als wir eintrafen. Wir fanden noch zwei Plätze im hinteren Teil. Unaufhörlich drängten Menschen herein. Schon mussten manche stehen. Mein Blick blieb an einem Jungen hängen, der von der Bank aufgestanden war und mit den Fingern die brennenden Kerzen am Christbaum rechts vom Altar zählte. An den beiden Enden jeder Bankreihe war ein bauchiges Glas angebracht, in dem ein Teelicht brannte. Ein Mädchen, das auf dem Schoß seiner Mutter saß, wollte gerade die Hand zu einem Glas strecken. Schnell zog die Mutter sie weg und ermahnte die Kleine leise.

Die Glocken begannen zu läuten. Ich überflog noch einmal das Blatt, auf dem die Programmfolge des Gottesdienstes und die Lieder, die wir singen würden, abgedruckt waren.

Dann setzte die Orgel ein und erfüllte brausend mit ihrem Klang das hohe Gebäude. Ich wünschte mir, meine Seele könnte ebenso jubeln. Aber wer kann sich schon auf Knopfdruck freuen?

Nach dem ersten gemeinsamen Lied begrüßte der Pfarrer die Gemeinde und sprach ein Gebet. Anschließend trug ein Jugendlicher Gedanken zur Geburt von Jesus vor, untermalt von einer Querflöte. Der junge Mann und die Flötistin hatten sich gerade gesetzt, als plötzlich das elektrische Licht ausging. Jetzt brannten nur noch die Wachskerzen am Christbaum und am Altar. Und die Teelichter in den Gläsern. Ich dachte – wie alle anderen Besucher wohl auch –, dass das zum nächsten Programmpunkt gehörte. Doch nach einiger Zeit passierte immer noch nichts. Ich erkannte lediglich Schatten, die sich im Altarraum eilig hin und her bewegten.

Das kleine Mädchen fragte laut: „Mama, wo ist das Licht? Ich hab Angst.“ Die Antwort ging in dem allgemeinen Gemurmel unter, das nun mehr und mehr zu hören war. Die Besucher wurden unruhig.

Jemand schien das Mikrofon zu überprüfen, das keinen Ton mehr übertrug. Wahrscheinlich war es der Pfarrer, der seine Stimme zu einer Erklärung erhob. Aber in den hinteren Reihen, wo wir saßen, konnten wir nur das Wort „Strom“ verstehen.

„Ich tippe auf einen Kurzschluss“, meinte mein Vater.

„Vielleicht ist der Strom in der ganzen Stadt ausgefallen“, mutmaßte ein Mann in der Reihe hinter uns.

„Ich hoffe nur, dass es nicht lange dauert, bis wir wieder Strom haben. Sonst wird es in kurzer Zeit in der Kirche kalt sein“, entgegnete jemand rechts von mir.

„Und das ausgerechnet an Heiligabend“, jammerte eine Frau.

Es wurde immer lauter in der Kirche. Meinungen, was man tun sollte, wurden ausgetauscht. Einige Stimmen klangen erregt, manche ungeduldig, andere ärgerlich. Da begann die Flötistin wieder zu spielen. Aus dem Dunkel drang die getragene Melodie und beruhigte langsam die Besucher. Es wurde immer stiller.

Ich sah auf die Kerzen am Christbaum. Jetzt, wo es ringsum finster war, schienen sie umso heller zu strahlen. Darum geht es doch an Weihnachten, schoss es mir durch den Kopf: dass Jesus gekommen ist, mitten in unsere Dunkelheit hinein – die Unruhe, das Leid, die Not, den Schmerz, die Angst und Sorge. Und dass er die Dunkelheit erhellt, weil er da ist, um zu helfen, zu retten, durchzutragen. Mehr noch, um mitzufühlen und mitzuleiden. Wie konnte ich mich nur von den sorgenvollen, dunklen Gedanken wegen meiner Mutter so sehr bestimmen, mich so sehr gefangen nehmen lassen! Es lag an mir, meinen Blick auf das Licht zu richten, auf Jesus, anstatt auf die Dunkelheit zu starren, die mich wie das Mädchen ängstlich zurückließ.

Ich musste schmunzeln, als ich merkte, dass ich mir gerade selbst eine Predigt gehalten hatte. Eine Predigt, die mich tröstete und hoffnungsvoll stimmte. Auch das ist Weihnachten, begriff ich, wenn das Herz wund ist und man nicht vor Freude jubeln kann. Es gibt Trost und Hoffnung, weil Jesus in unser Elend gekommen ist.

Das elektrische Licht ging wieder an. „Gott sei Dank!“, hörte ich eine Frau aufatmend sagen.

Ja, Gott sei Dank, dachte ich, wenn auch aus einem ganz anderen Grund.

Hoffnung bricht durch

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