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Antwort geben müssen
ОглавлениеReinhardt Wurzel: Epidemien ziehen sich durch die Menschheitsgeschichte hindurch. Schon in der Bibel sind dergleichen einschneidende Ereignisse erwähnt. Einige führten dazu, dass ein großer Prozentsatz der Weltbevölkerung verstarb, aber auch andere mit geringeren Opferzahlen rückten die großen Fragen des Lebens in den Fokus und in das Bewusstsein der Menschen.
Unter einer Epidemie versteht man das gehäufte Auftreten von Krankheitsfällen derselben Ursache innerhalb eines bestimmten Gebietes und Zeitraums. In unserer globalisierten Welt mit ihrem internationalen Verkehr und Warenaustausch wuchern sie pfeilschnell von Region zu Region. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation zufolge erkranken jährlich 10 bis 20 Prozent der Weltbevölkerung an Grippewellen (Influenza) mit Opferzahlen zwischen 200.000 und 400.000 Menschen. Bei schweren Verläufen kann auch eine Grippe tödlich enden, sowohl bei Kleinkindern und Teenagern als auch bei Erwachsenen, insbesondere bei älteren Menschen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich ständig neue Varianten an Viren bilden – mit unter Umständen längeren Inkubationszeiten.
Ich stimme meiner Koautorin zu, dass wir uns im Klaren darüber sein sollten, dass es keine hundertprozentige Sicherheit gibt. Weder vor Viren oder Bakterien noch vor Krankheiten oder Unfällen, ob im Haus oder außerhalb des Hauses. Unser „Lebensschiff“ fährt trotz aller möglichen Umsicht immer auf einem Ozean der Überraschungen dahin – und nicht jede Überraschung ist erbaulich. Es gibt für unser „Schiff“ viele unsichtbare Riffe oder unsichtbare Eisberge; und wie eine zunächst vergnügliche Fahrt ausgehen kann, bezeugen die Katastrophen der Ozeanriesen Costa Concordia und Titanic. Kein Kahn ist unsinkbar. Niemand ist gegen Unglück gefeit.
Zum Nachdenken:
„Nicht die Glücklichen sind dankbar.
Es sind die Dankbaren, die glücklich sind.“
(Francis Bacon)
Elisabeth Lukas: Es gibt ein interessantes philosophisches Wort von Frankl, der gemeint hat, dass wir nicht die Fragenden, sondern die Antwortenden sind. Es ist nutzlos, das Leben zu fragen oder dagegen aufzubegehren, dass unsere Umstände so und so sind, wie das Schicksal sie uns eben präsentiert. Das Leben ist es, das uns quasi die Fragen stellt. Es fragt uns: „Deine Umstände sind so und so – was machst du daraus? Wie antwortest du darauf? Wie handelst du angesichts der vorliegenden Umstände? Wie stellst du dich zu ihnen ein?“ Darin, in diesem Antwort-geben-Können, ja Antwort-geben-Müssen liegt unsere Wahlfreiheit. Nie sind wir frei von irgendwelchen Belastungen (übrigens auch nicht von eventuellen Entlastungen), sondern wir starten dort in die Freiheit, wo wir beginnen, mit unseren Belastungen und mit unseren speziellen Möglichkeiten auf unsere ganz persönliche Weise umzugehen. Das ist ein Aspekt, der in einem Ausnahmezustand wie demjenigen, in dem wir uns derzeit befinden, sehr hilfreich sein kann. Nämlich zu wissen: Auf die Antwort von jedem Einzelnen von uns kommt es an.
Tatsächlich beobachten wir unzählige Beispiele von großartigen Antworten, die Menschen („Heilige“ in Frankls Diktion) auf die rasante Virus-Ausbreitung und seine enormen Konsequenzen gegeben haben und weiterhin geben. Wie viele waren sich ihrer Systemrelevanz bewusst und arbeiteten unter Risikobedingungen, um die Bevölkerung mit dem Notwendigen zu versorgen. Wie viele meldeten sich freiwillig zur Unterstützung der Alten, Schwachen und Behinderten. Wie viele entwickeln Ideen, um geschäftliche Ausfälle zu kompensieren. Wie viele stehen Bekannten und Nachbarn bei. Ich denke, dass unsere Kinder in der jetzigen Zeitspanne bei allen unbestreitbaren, oft großen Problemen für sie selbst wie für die Familien etliches mehr lernen, als sie in den Schulen gelernt hätten, die sie wochenlang nicht besuchen durften. Sie lernen auf eine neue Weise Solidarität, Zusammenhalt, Verzicht, Selbstdisziplin, Rücksichtnahme und was sonst noch in Phasen der Bedrängnis nötig ist. Und sie lernen Dinge neu wertzuschätzen: dass es zum Beispiel schon das reinste Glück ist, morgens ohne Fieber aufzuwachen und fröhlich aus dem Bett springen zu können. Oder dass es gar nicht selbstverständlich ist, in einem Park herumtollen zu können.
Natürlich ist jeder Lernprozess mühsam. Es gibt massive Widerstände, betrübliche Rückschläge, falsche Verführungen. Aufschreie oder Resignation lösen die erste Schockstarre ab. Nichts läuft reibungslos. Trotzdem bin ich sicher, dass unsere Gesellschaft nach dem Abklingen der gegenwärtigen Pandemie-Phase nicht nur eine negative ökonomische Bilanz ziehen wird. Im geistig-seelischen Bereich wird sie vielleicht gar eine positiv getönte Bilanz ziehen. Man wird in seinen Ansprüchen zwangsläufig bescheidener geworden sein. Man wird mit weniger Luxus zufrieden sein. Vielleicht wird man die Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln ein für allemal beenden, ebenso auch eine grausame und dem Tierwohl widersprechende „Fleischproduktion“. Und man wird, so die Hoffnung, soziale und familiäre Beziehungen weniger leichtfertig gefährden, weil man gemerkt haben wird, dass ein kooperatives, achtungsvolles Miteinander immer noch trägt, wenn andere Werte wegbrechen.
Als Kriegskind bin ich in den kargen Nachkriegsjahren aufgewachsen. Deswegen sei mir der folgende kleine Hinweis gestattet: Ich kann mich nicht erinnern, dass damals auch nur ein Kind in unserer Schule übergewichtig war. Essen war rar. Autos gab es noch kaum, Geld für die Straßenbahn hatten wir sowieso nicht, und daher bewegten wir uns ständig. Wir Mädchen waren so spindeldürr (was natürlich auch nicht ideal ist), dass die Mode bauschige Unterröcke erfand, damit wir nicht gar zu mickrig wirkten. Heutzutage erfindet sie Hängekleider, die dicke Bäuche kaschieren sollen.
Eine verschlechterte Wirtschaftslage könnte ein fulminanter Anlass zum Abspecken sein. Im Großen zum Abspecken etwa von Militärausgaben (im Jahr 2019 beliefen sie sich auf 1,92 Billionen = 1.920.000.000.000 Dollar weltweit). Im Kleinen – und da sind wir wieder beim Einzelnen angelangt – u. a. zur Gewichtsreduktion. Das Übergewicht ist einer der größten Feinde sowohl des jungen als auch des alten Menschen. Den Jungen verdirbt es oft die Entfaltung eines gesunden Selbstbewusstseins, den Alten verdirbt es einen Gutteil ihrer Selbständigkeit. Es macht träge, faul und hinfällig. Im mittleren Alter kann man es mit gewissen Vorzügen kompensieren, aber dem Körper zuträglich ist es nie. Und als Ersatzbefriedigung taugt das Essen-in-sich-Hineinstopfen überhaupt nicht. Man muss sich schon um echte liebevolle Beziehungen zu seinen Mitmenschen bemühen, um Befriedigung in der Gemeinschaft zu finden. Gerade wenn sich die Schatten ringsum zusammenziehen, zeichnet sich dies immer deutlicher ab.
Es ist bereits erwähnt worden, dass innere Einstellungen grundlegend sind für unser menschliches Verhalten und letztlich für unsere Persönlichkeitsformung. Sollte es SARS-CoV-2 und Konsorten gelingen, die inneren Einstellungen einer größeren Menge von Personen auf ein ethisch sanft angehobenes Niveau zu hieven, wäre dies ein merkwürdiger und dennoch kalmierender Gedanke.
Die Evolution ist seit jeher nach dem Prinzip verfahren, „Antwort zu geben“. Sie antwortet auf physikalische und chemische Gesetze mit Neubildungen. Sie antwortet auf Mutationen lebender Organismen mit Selektion des sich Bewährenden. Sie antwortet auf Ungleichgewichte mit Austarierung. Zweifellos antwortet sie auch auf Massenverfehlungen des Homo sapiens, und dies ist kein Spaß. Wenn der Konsumwahn und die Überbevölkerung auf unserem Planeten voranschreiten, wird die Evolution Antworten darauf parat haben. Hoffen und beten wir, dass es nicht Antworten wie Pandemien sind.