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Dem Tod ins Auge blicken
ОглавлениеReinhardt Wurzel: Adaptation ist die Fähigkeit, sich an variierende Lebensbedingungen, Umstände oder Regeln anzupassen, ohne auf den bisherigen Praktiken und Gewohnheiten zu beharren. In der Natur ist die Eigenschaft der Lebewesen, sich an Veränderungen anpassen zu können, überlebensnotwendig.
Der Mensch ist durch sein mental-kognitives Potenzial für Adaptationen besonders gut gerüstet. Intellekt und Erfindungsgabe helfen ihm, sich fast überall aufzuhalten, heute sogar in einer Raumstation im lebensfeindlichen All. Solange er diese Fähigkeit kontinuierlich ausübt, bleibt er rege und vital.
Die Anpassungsfähigkeit ist eine unschätzbare Hilfe auf dem beschwerlichen Weg durch das Würfelspiel der Zufälle. Wer sie benützt, kann seine Gefühle und Bedürfnisse weitgehend kontrollieren, kann in verschiedenen Umfeldern leben und vieles ertragen. Dies verleiht ihm die Chance, selbst unter widrigen Umständen noch ausgeglichen und erfolgreich zu sein.
Im Zeitalter medialer Vernetzung treffen jedoch schlechte Nachrichten von überall her sofort bei uns ein und stellen unsere Anpassungsfähigkeit auf eine harte Probe.
Weltumspannende Ereignisse wie eine Pandemie lassen geradezu einen wirtschaftlichen und sozialen Tsunami um den Globus laufen, der je nach Lage der Nationen verheerende Folgen nach sich zieht. Intelligente, wohldurchdachte und auf Dauer tragfähige Lösungen zeichnen sich nicht oder allenfalls im Schneckentempo ab, und dies strapaziert unsere Anpassungsfähigkeit enorm. In welcher Hinsicht und woran sollen wir uns jetzt überhaupt anpassen? An gesellschaftliche Abstandsregeln? An horrende Todesszenarien? An ein Leben in ständiger Furcht? Was heißt da Adaptation? Und: Ist in einer solchen Ausnahmesituation vielleicht noch anderes gefragt?
Als geistige Wesen verfügen wir neben unseren kognitiven Instrumenten auch über ein inneres Gespür, über eine „Weisheit des Herzens“. Vielleicht kann sie uns eher Auskunft geben als der ach so scharfe und doch so limitierte Verstand?
Zum Nachdenken:
„Nicht der Stärkste überlebt,
nicht einmal der Intelligenteste,
sondern derjenige, der sich am schnellsten
einem Wechsel anpasst.“
(Charles Messier)
Elisabeth Lukas: Die dräuende Ansteckung kann vorübergehend ein äußeres Auseinanderrücken verordnen, eine Art Zwangsisolation. Dennoch schnellt die innere Verbundenheit der Menschen dadurch eher hoch, wie wir jüngst erlebt haben. Ähnlich, wie sich einst unsere Großeltern bei Bombenangriffen in Kellern aneinandergekuschelt haben, in der Finsternis singend und flüsternd, schluchzend und einander stützend, ähnlich finden sich am Höhepunkt einer Pandemie oder in ähnlichen Notlagen heutzutage Jung und Alt, Freunde und Freundinnen, Lehrer/innen und Schüler/innen bei ihren Videokonferenzen in ihren Wohnzimmern zusammen. Ein moderner Anpassungsvorgang gigantischen Volumens!
Dabei kommt ein Gesichtspunkt zum Vorschein, der uns trösten mag: Die innige Verbundenheit mit unseren Lieben und Liebsten bedarf nicht unbedingt der räumlichen Nähe. Das Band der Zuneigung ist nicht von Distanzen und nicht einmal vom Tod zu durchtrennen. Eine „Herzensweisheit“ gigantischen Volumens!
Der Tod ist ein Thema, dem man tunlichst ausweichen möchte. Dass er plötzlich nach uns greifen könnte, ist erschütternd. Vertieft man sich in die veröffentlichten Statistiken, kann man ihn kaum mehr aus seinen Ängsten verdrängen. Denn selbst dort, wo die Sterblichkeitsraten sinken, haben sie sich zuvor in unseren Köpfen eingenistet und Unruhe gestiftet. Aber machen wir uns nichts vor: Wir haben kein ewiges (irdisches) Leben zu verlieren. Und – um es zu wiederholen – weder Jugend noch Fitness schützen vor Unfällen aller Art.
Es könnte jetzt die perfekte Gelegenheit sein, sich mit der eigenen Vergänglichkeit heroisch auseinanderzusetzen, und das bedeutet unter anderem, den bisherigen Lebenslauf kritisch zu überprüfen. Was war uns gnädig geschenkt? Was ist uns gelungen, was geglückt? Was haben wir erreicht? Worauf können wir stolz sein in unserem Leben? Nichts hindert uns, uns daran aufrichtig zu erfreuen. Das Geschehene wird schließlich mit unserem Lebensende nicht ausradiert. Es bleibt bewahrt in der Geschichte über uns und wirkt weiter in der Welt. Jeder Mensch hinterlässt seine Spuren.
Wahrscheinlich taucht beim Rückblick auf unser bisheriges Leben auch einiges auf, das missglückt ist. Das unvollständig ist. Oder das geplant und erträumt, aber nie angegangen worden ist. Wohlan, nehmen wir es in Angriff! Eine Zeit wie die unsrige warnt vor Aufschüben. Noch können wir uns bei jemandem entschuldigen. Noch können wir jemandem verzeihen. Noch können wir jemandem beteuern, wie viel er oder sie uns bedeutet. Auch können wir manche schlechte Unsitte ablegen und unseren Charakter aufpolieren. Leben ist zu kostbar, um mit unnötigen Zänkereien, Jammereien und selbstproduzierten Konflikten verschwendet zu werden. Sogar wenn wir seit Jahren mit jemandem verfeindet sind, lässt sich immer noch Versöhnung anpeilen. Denn: Unbefriedet schließt man die eigenen Augen nicht in Frieden!
Egal, wie groß oder klein der Rest unseres Lebens sein mag, in jedem Augenblick können wir etwas Sinnvolles entdecken, das auf uns wartet und das wir zu verwirklichen imstande sind. Der Tod ist eigentlich der Impuls, unser Leben zur Fülle zu leben.
Frankl hat darauf hingewiesen, dass die Fülle eines gelebten Menschenlebens nicht aus dem Sein geworfen wird, sondern im Gegenteil ins Sein hineingeborgen wird wie die Ernte unter ein Scheunendach. Er empfahl uns, das Bedauern über die bereits abgeernteten „Stoppelfelder“ unserer Lebenszeit abzulösen durch die Genugtuung über diese eingebrachte Ernte, die vom Tod nicht mehr zerstört werden kann. Woraus sich ergibt, dass die Vergänglichkeit unserer Existenz den Imperativ enthält, eine möglichst wohlgeratene Ernte einzufahren, da sie – unvergänglich ist.
Frankl hat uns in seinem veröffentlichten Dialog mit der todgeweihten Frau Linek1 seine diesbezüglichen Argumentationen vorgeführt. Es ging ihm um kein Beschwichtigen der Patientin, sondern er wollte ihr noch einige Erkenntnisse eröffnen, was ihm auch gelang, obwohl sie vom Bildungsniveau her eine einfache Frau war.
Zu welchen Erkenntnissen führte Frankl jene sterbende Frau? Er bat sie zunächst, ihr ganzes Leben vor ihren inneren Augen noch einmal vorbeigleiten zu lassen. Typisch für ihn war, dass er dabei primär die erhebendsten Erlebnisse aus ihrer Geschichte hervorlockte und mit ihr rekapitulierte. Dann konfrontierte er sie mit ihrem nahenden Ende: „Das alles wird jetzt aufhören …“ Und mitten in ihr Seufzen hinein setzte er das Faktum, dass all diese schönen Erlebnisse, von denen sie ihm erzählt hatte, tabu sind für Gevatter Tod. Niemand kann sie ihr rauben oder in hässliche Erlebnisse umfärben – keine Macht der Welt kann sie aus der geschichtlichen Wahrheit wieder herausreißen. Was Ihres ist, ist es auf ewig.
Alles Gute ist in die unantastbare Vergangenheit hineingerettet … – auf dem Boden dieser Einsicht erträgt man auch die Erinnerung an das Schlechte. An das erlittene Leid, das sodann zur Sprache kam. Nur, was hat es damit auf sich? Frau Linek dachte an göttliche Strafmaßnahmen, was Frankl sofort wendete. Sein Einwand: „Könnten es nicht auch Prüfungen gewesen sein?“ klingt schroff, aber wenn Frankl vom Fragecharakter des Lebens und vom Antwortcharakter unseres Daseins gesprochen hätte, wäre er wahrscheinlich nicht verstanden worden. Dass man Prüfungen jedoch bestehen kann, sogar glänzend bestehen kann, verstand die Frau. Also – hat sie ihr Leid tapfer gemeistert? Sie hat. Na, dann: großer Applaus … „Ihr Leben ist ein Denkmal“, sagte der Professor.