Читать книгу Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute - Elisabeth Schulze-Witzenrath - Страница 7

I. Baudelaire und die Entdeckung eines poetischen Großstadterlebnisses 1) Das Schöne und der poetische Enthusiasmus in der Großstadt a) Ästhetische und anthropologische Voraussetzungen

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Paul Valéry hat in seinen Überlegungen zur „Situation de Baudelaire“ auf die Bedeutung hingewiesen, die die Beschäftigung mit Edgar Allan Poe für die dichterische Selbstfindung Baudelaires hatte. Poe, der im experimentierfreudigen Umfeld der Neuen Welt den dichterischen Prozess mit einer bis dahin ungewohnten Unvoreingenommenheit und Scharfsichtigkeit analysiert hatte, habe mit seinen Überlegungen zu Ziel und Methode moderner Dichtung Baudelaire aus der Seele gesprochen und ihm bei der Lösung des Problems geholfen, ein großer Dichter zu werden, ohne in die Spuren Lamartines, Hugos oder Mussets zu treten1.

Die Forschung hat Valérys Urteil über das Verhältnis Baudelaires zu Poe und die Geistesverwandtschaft beider Dichter bestätigt und im Einzelnen nachgezeichnet, wie der Jüngere das Werk des Älteren kennen gelernt hat. Seit November 1845 erschienen in Paris die ersten französischen Übersetzungen von Poes Erzählungen, die Baudelaire so tief beeindruckten, dass er zu sammeln begann, was er über ihren Autor in Erfahrung bringen konnte2, sowie Übersetzungen von ihnen anzufertigen. Zudem verfasste er mehrere Artikel, in denen er Poe dem französischen Publikum vorstellte, den ersten im Jahr 1852 (Edgar Allan Poe, sa vie et son ouvrage3). Nachdem er zwischen 1853 und 1855 die bei Redfield, New York, seit 1850 erschienenen Bände der Ausgabe von Poes Werken4 erworben hatte, überarbeitete er, auf die dort gefundenen neuen Informationen gestützt, den früheren Artikel und stellte die neue Fassung Edgar Poe, sa vie et ses œuvres seinen unter dem Titel Histoires extraordinaires bei Lévy 1856 erscheinenden Übersetzungen voran. Die dort angekündigte Fortsetzung über Poes „opinions philosophiques et littéraires“ folgte 1857 in den Notes Nouvelles sur Edgar Poe, der Einleitung zu weiteren Übersetzungen (Nouvelles Histoires extraordinaires)5. Neben einer gekürzten Fassung der Biographie Poes enthalten die Notes Nouvelles die Darlegung seiner politischen Überzeugungen und vor allem seiner Gedanken zur Literaturkritik, insbesondere der Vorstellungen vom Dichter und der Dichtung, wie sie seinem letzten Essay The Poetic Principle zu entnehmen sind.

Seine Darlegung der ästhetischen Überzeugungen Poes im vierten und letzten Teil der Notes Nouvelles beginnt Baudelaire mit einer Übersetzung der Definition des Dichters, des „genus irritabile vatum“, aus Poes Fifty Suggestions6. Danach ist ein Dichter das, was er ist, dank seines angeborenen „sens exquis du Beau“, der ihm rauschhafte Wonnegefühle („jouissances enivrantes“) beschere, und eines „sens également exquis de toute difformité et disproportion“, der ihn auf ein Unrecht und eine Ungerechtigkeit außergewöhnlich stark reagieren lasse. Die berühmte Reizbarkeit sei eine Folge seiner Wahrnehmung von Proportionen jeder Art, mithin des Schönen. Wer sie nicht besitze, sei kein Dichter7. Dann geht er auf Poes methodisches Vorgehen beim dichterischen Schaffensakt ein:

Non seulement il a dépensé des efforts considérables pour soumettre à sa volonté le démon fugitif des minutes heureuses, pour rappeler à son gré ces sensations exquises, ces appétitions spirituelles, ces états de santé poétique, si rares et si précieux qu’on pourrait vraiment les considérer comme des grâces extérieures à l’homme et comme des visitations; mais aussi il a soumis l’inspiration à la méthode, à l’analyse la plus sévère. […] Il affirmait que celui qui ne sait pas saisir l’intangible n’est pas poète; que celui-là seul est poète, qui est le maître de sa mémoire, le souverain des mots, le registre de ses propres sentiments toujours prêt à se laisser feuilleter. Tout pour le dénoûment! répète-t-il souvent. Un sonnet lui-même a besoin d’un plan, et la construction, l’armature pour ainsi dire, est la plus importante garantie de la vie mystérieuse des œuvres de l’esprit. (S. 331f.)

Planung, bewusste Konstruktion und die vollständige Beherrschung aller Mittel seien nach Poes Überzeugung für ein Kunstwerk unumgänglich, und so habe er selbst sie auch angewandt. Vor allem anderen bedarf es aber eines außergewöhnlichen Enthusiasmus beim Dichter. Dazu hat Poe sich eingehend in seinen Marginalia geäußert, wo er von den Fantasien („fancies“) spricht, die in Zeiten körperlichen und seelischen Wohlgefühls im Zustand zwischen Wachen und Träumen in ihm auftauchten und eine seelische Ekstase auslösten, die einen übernatürlichen und absolut neuen Charakter hatte:

There is, however, a class of fancies, of exquisite delicacy, which are not thoughts […] They seem to me rather psychal than intellectual. They arise in the soul (alas, how rarely!) only at its epochs of most intense tranquility – when the bodily and mental health are in perfection – and at those mere points of time where the confines of the waking world blend with those of the world of dreams. […]

These „fancies“ have in them a pleasurable ecstasy […] I regard the visions, even as they arise with an awe which, in some measure, moderates or tranquilizises the ecstasy – I so regard them, through a conviction […] that this ecstasy, in itself, is of a character supernal to the Human Nature – is a glimpse of the spirit’s outer world; and I arrive at this conclusion […] by a perception that the delight experienced has, as its element, but the absoluteness of novelty.8

Mit der Zeit sei es ihm gelungen, die Umstände zu kontrollieren und die „fancies“ willentlich herbeizuführen („now I can be sure […] of the supervention of the condition, and feel even the capacity of inducing or compelling it“) sowie ihre flüchtigen Momente im Gedächtnis zu verankern („and thus transfer the point itself into the realm of Memory“), wo er dann die empfangenen Eindrücke, wenn auch nur kurz, analysieren und in Worte fassen könne: „where, although for a very brief period, I can survey them with the eye of analysis“ (S. 90). Von diesen Aussagen zur Poeschen Inspirations-Methode hat Baudelaire in seiner Zusammenfassung ausgewählt, was ihn besonders ansprach und es mit Wendungen wiedergegeben, auf die er später immer wieder zurückgegriffen hat („minutes heureuses“, „sensations exquises“, „états de santé poétique, si rares et si précieux“).

Dann legt er dar, was Poe im Poetic Principle über die Dichtung und den zweifachen Irrglauben vom langen Gedicht und vom Nutzen der Dichtung sagt. Da ein Gedicht nach Poe nur in dem Maße von Wert ist, wie es die Seele erregt und erhebt – „un poème ne mérite son titre qu’autant qu’il excite, qu’il enlève l’âme“9, alle seelischen Erregungen aber notwendigerweise flüchtig und von kurzer Dauer sind10, ist der Länge eines Gedichts eine natürliche Grenze gesetzt. Damit hat das Epos als unpoetisch zu gelten, wenngleich es einer gewissen Länge bedarf, um beim Leser eine Erregung zu bewirken. Zugleich weist Poe entschieden die Vorstellung zurück, dass die Dichtung der Wahrheit oder der Moral dienen müsse. Ihr Gegenstand sei vielmehr das Schöne und nur ein um seiner selbst willen geschriebenes Gedicht sei schön, wie man aus eigener Erfahrung wissen könne – mit Baudelaires Worten:

La poésie, pour peu qu’on veuille descendre en soi-même, interroger son âme, rappeler ses souvenirs d’enthousiasme, n’a pas d’autre but qu’elle-même; elle ne peut pas en avoir d’autre, et aucun poème ne sera si grand, si noble, si véritablement digne du nom de poème, que celui qui aura été écrit uniquement pour le plaisir d’écrire un poème.11

Baudelaire negiert nicht die Möglichkeit, dass die Dichtung den Menschen letztlich besser machen könne, wohl aber, dass dies ihre Aufgabe sei. Ja, er stellt fest, dass ein Dichter, der solches anstrebt, seine poetische Kraft schwächt, so dass zu wetten stehe, dass sein Werk schlecht sei:

La poésie ne peut pas, sous peine de mort ou de défaillance, s’assimiler à la science ou à la morale; elle n’a pas la Vérité pour objet, elle n’a qu’elle-même.12

Laster und Ungerechtigkeit verstoßen jedoch gegen die universale Ordnung und Harmonie und verletzen so den Schönheitssinn des Dichters13. Dieser Sinn für das Schöne ist es, der den Menschen die universalen Zusammenhänge begreifen und die Erde als eine Entsprechung des Himmels verstehen lässt; er ist Beweis unserer Unsterblichkeit und ein Ausdruck unserer Sehnsucht nach den himmlischen Freuden:

C’est cet admirable, cet immortel instinct du Beau qui nous fait considérer la terre et ses spectacles comme un aperçu, comme une correspondance du Ciel. La soif insatiable de tout ce qui est au delà, et que révèle la vie, est la preuve la plus vivante de notre immortalité. C’est à la fois par la poésie et à travers la poésie, par et à travers la musique que l’âme entrevoit les splendeurs situées derrière le tombeau; et quand un poème exquis amène les larmes au bord des yeux, ces larmes ne sont pas la preuve d’un excès de jouissance, elles sont bien plutôt le témoignage d’une mélancholie irritée, d’une postulation des nerfs, d’une nature exilée dans l’imparfait et qui voudrait s’emparer immédiatement, sur cette terre même, d’un paradis révélé. (S. 334)

Baudelaire gibt die Worte Poes hier kaum verändert wieder:

An immortal instinct, deep within the spirit of man, is thus, plainly, a sense of the Beautiful. […] We have still a thirst unquenchable […] This thirst belongs to the immortality of Man. It is at once a consequence and an indication of his perennial existence. […] It is no mere appreciation of the Beauty before us – but a wild effort to reach the Beauty above. […] And thus when by Poetry – or when by Music, the most entrancing of the Poetic moods – we find ourselves melted into tears – we weep then – not […] through excess of pleasure, but through a certain, petulant, impatient sorrow at our inability to grasp now, wholly, here on earth, at once and for ever, those divine and rapturous joys, of which through the poem, or through the music, we attain to but brief and indeterminate glimpses.14

Das Ringen um einen wenn auch nur kurzen Blick auf die höhere Schönheit hat nach Poe der Welt alles das beschert, was als poetisch empfunden wird:

The struggle to apprehend the supernal Loveliness […] has given to the world all that which it (the world) has ever been enabled at once to understand and to feel as poetic. (S. 274)

und so stellt er schließlich fest, dass sich das Poetische stets in einer erhebenden Erregung der Seele manifestiere:

It has been my surpose to suggest that, while this [Poetic] Principle itself is, strictly and simply, the Human Aspiration for Supernal Beauty, the manifestation of the Principle is always found in an elevating excitement of the Soul […] (S. 290)

Auch diese Formulierung übernimmt Baudelaire fast wörtlich:

Ainsi le principe de la poésie est, strictement et simplement, l’aspiration humaine vers une beauté supérieure, et la manifestation de ce principe est dans un enthousiasme, une excitation de l’âme […].15

Die Wendung „une excitation de l’âme“ wird er zwei Jahre später noch durch das eindeutigere „un enlèvement de l’âme“16 ersetzen, wenn er den ganzen Passus im Artikel über Théophile Gautier wiederholt und ihn dabei als Selbstzitat ankündigt17. Valéry hat dieses „Poe-Plagiat“ Baudelaires im Sinne seiner Aneignungsthese als Beleg dafür verstanden, wie sehr sich die Positionen beider Autoren deckten18.

Baudelaire ist also mit Poe der Überzeugung, dass die Dichtung – und mit ihr die anderen Künste19 – dem Menschen ekstatische Momente bescheren können, die ihm einen Blick auf höheres Glück gewähren. Mit dem Zusatz der „erhe­benden“ seelischen Erregung („an elevating excitement of the Soul“) geht Poe dabei über die Feststellungen seiner angelsächsischen Vorgänger wie etwa Coleridges hinaus, der nur vom „(pleasurable) Excitement“ gesprochen hatte und davon, dass der Dichter die menschliche Seele ganz allgemein in Erregung versetze: „The poet […] brings the whole soul of man into activity […]“20. Baudelaire folgt dagegen Poes Ansicht vom Streben nach der „Supernal Beauty“, für dessen Verwirklichung in Dichtung und Kunst er seinerseits den Begriff „surnaturel“ bzw. „surnaturalisme“ bereithält.

Das „Poetic Sentiment“, wie Poe die ekstatische Erregung der Seele durch die Betrachtung der Schönheit genannt hat21, war für Baudelaire ein besonderer Fall des „état exceptionnel de l’esprit et des sens“, der zu seinen anthropologischen Grundüberzeugungen zählte. In den Journaux intimes charakterisiert er den außergewöhnlichen Zustand des Geistes und der Sinne mit knappen Worten:

Il y a des moments de l’existence où le temps et l’étendue sont plus profonds, et le sentiment de l’existence immensément augmenté.22

Im ersten Kapitel des Poème du hachisch findet sich seine ausführliche Beschreibung. Der „état exceptionnel“, heißt es dort, sei eine Erfahrung, die jedermann zugänglich und vertraut ist:

Il est des jours où l’homme s’éveille avec un génie jeune et vigoureux. Ses paupières à peine déchargées du sommeil qui les scellait, le monde extérieur s’offre à lui avec un relief puissant, une netteté de contours, une richesse de couleurs admirables. Le monde moral ouvre ses vastes perspectives, pleines de clartés nouvelles. L’homme gratifié de cette béatitude, malheureusement rare et passagère, se sent à la fois plus artiste et plus juste, plus noble, pour tout dire en un mot.23

In diesem Zustand zeigt sich die Welt dem Menschen in einem neuen und klareren Licht. Zur äußeren Vielfalt der Formen und Farben gesellen sich unbegrenzte innere Perspektiven und Einsichten. Die seelischen Kräfte sind im Gleichgewicht („toutes les forces s’équilibrent“), die Phantasie ist auf wunderbare Weise mächtig („l’imagination […] merveilleusement puissante“), sinnliche und geistige Wahrnehmung sind geschärft („une sensibilité exquise“, „[c]ette acuité de la pensée“)24. Alle Fähigkeiten sind gesteigert und der Mensch ist im schönsten Einklang mit sich selbst:

[…] cette condition anormale de l’esprit [est] comme […] un miroir magique où l’homme est invité à se voir en beau, c’est-à-dire tel qu’il devrait et pourrait être; une espèce d’excitation angélique, un rappel à l’ordre sous forme complimenteuse. (Ebd.)

Unglücklicherweise ist dieser „paradiesische“25 Zustand selten und von kurzer Dauer26; auch lässt er sich, wie eine Gnade („comme une véritable grâce“), nicht vorhersehen und durch kein noch so wohl überlegtes Vorgehen erzwingen. Doch ist er den Menschen immer erstrebenswert erschienen, weil er sie, und sei es nur für kurze Zeit, aus ihrem „habitacle de fange“ und den „lourdes ténèbres de l’existence commune et journalière“ befreit. Daher haben sie seit jeher ihre Zuflucht zu allerlei Mitteln genommen, um ihn auf künstliche Weise zu erzeugen:

Cette acuité de la pensée, cet enthousiasme des sens et de l’esprit, ont dû, en tout temps, apparaîre à l’homme comme le premier des biens […]; c’est pourquoi, ne considérant que la volupté immédiate, il a, sans s’inquiéter de violer les lois de sa constitution, cherché dans la science physique, dans la pharmaceutique, dans les plus grosses liqueurs, dans les parfums les plus subtils, sous tous les climats et dans tous les temps, les moyens de fuir, ne fût-ce que pour quelques heures, son habitacle de fange et […] ‚d’emporter le paradis d’un seul coup‘. Hélas! les vices de l’homme, si pleins d’horreur qu’on les suppose, contiennent la preuve […] de son goût de l’infini; seulement, c’est un goût qui se trompe souvent de route. (Ebd.)

Damit bekunden sie nach seiner Überzeugung noch in ihren Lastern ihren „goût de l’infini“. „Le Goût de l’infini“ lautet denn auch der Titel dieses ersten Kapitels des Poème du hachisch, dessen Menschenbild zutiefst von der christlichen Vorstellung des Sündenfalls geprägt ist.

Baudelaire hat den „état exceptionnel“ wiederholt beschrieben und unterschiedlich benannt27. Außer den Wirkungen des Zustandes hat ihn vor allem interessiert, wodurch er ausgelöst wird. So hat er in den Paradis artificiels, den durch Wein, Haschisch oder Opium zu erlangenden „Künstlichen Paradiesen“28, ausführlich erörtert, wie die Glückseligkeit ‚aus der Apotheke‘ zu erlangen ist. Dabei hat er immer wieder Parallelen zwischen den durch Drogen bewirkten Rauschzuständen und dem ekstatischen Zustand des Dichters gezogen, denn als Dichter ging es ihm „letztlich […] um die Ergründung der äußersten Möglichkeiten eines ‚poetischen‘ Zustands“29. Daher hat man das Poème du hachisch als einen Kommentar zur dichterischen Erfahrung der Fleurs du mal lesen können30 und im „état exceptionnel“ geradezu das Herzstück der Baudelaireschen Poetik gesehen31.

In der neueren Literaturwissenschaft wird ein dem Baudelaireschen „état exceptionnel“ verwandtes Phänomen unter dem Begriff ‚Epiphanie‘ diskutiert. Dieser Begriff geht in seiner modernen Bedeutung auf James Joyce zurück, der die alte religiöse Bedeutung von ‚Epiphanie‘ als In-Erscheinung-Treten eines Gottes psychologisch und literarisch umgedeutet hat in dem Sinne, dass in gewissen Momenten die Dinge in ihrer Wesenheit erscheinen und zu erfassen sind und dass ein Autor dies zu vermitteln habe32. Als wesentliche Kriterien einer Epiphanie gelten die sinnenhafte Wahrnehmung eines alltäglichen Gegenstands oder einer alltäglichen Situation, Plötzlichkeit und Kürze der Empfindung sowie die erhellende Einsicht in eine unbekannte Wirklichkeit33. Seit der Romantik ist die Epiphanie ein Programmpunkt der Lyrik und im modernen Roman ist sie eine Konstante geworden34. Der romantische Ursprung der literarischen Epiphanie legt Verbindungslinien zu Baudelaire nahe, auch wenn die Hochgestimmtheit und das ekstatische Hochgefühl bei diesem ausgeprägter (und näher am religiösen Erleben) sind und er ausdrücklich den schöpferischen Enthusiasmus einbezieht.

In der theologischen und der künstlerischen Anthropologie waren Epiphanie und Ausnahmezustand bis in die Romantik als Enthusiasmus, als Ergriffensein vom Gott oder vom Göttlichen bekannt. Mit der Umschreibung „enthousiasme“35 schließt Baudelaire Poes „elevating excitement“ an diese ästhetische Diskussion an. In Frankreich hatte etwa Mme de Staël die Überzeugung geäußert, dass Dichtung und Kunst in der Lage seien, den flüchtigen Enthusiasmus im Menschen sowohl zu entwickeln wie auch zu bewahren:

On accuse l’enthousiasme d’être passager; l’existence serait trop heureuse si l’on pouvait retenir des émotions si belles; mais c’est parce qu’elles se dissipent aisément qu’il faut s’occuper de les conserver. La poésie et les beaux-arts servent à développer dans l’homme ce bonheur d’illustre origine qui relève les cœurs abattus, et met à la place de l’inquiète satiété de la vie le sentiment habituel de l’harmonie divine dont nous et la nature faisons partie.36

Vor allem die Lyrik kann den paradiesischen Zustand herstellen und ihm die gewünschte Dauer verleihen:

La poésie lyrique […] donne de la durée à ce moment sublime pendant lequel l’homme s’élève au-dessus des peines et des plaisirs de la vie.37

Denn der Lyriker versteht es, die tiefsten Empfindungen der Seele freizusetzen – „de dégager le sentiment prisonnier au fond de l’âme“38 – und sie durch Sprache auszudrücken. Die Bilder, die er zum poetischen Ausdruck oder „emblème“ dieser Empfindungen braucht, findet er in bestimmten Naturansichten, die von den Modernen dank ihrer „religion spiritualiste“ als erhaben empfunden werden:

Les modernes ne peuvent se passer d’une certaine profondeur d’idées dont une religion spiritualiste leur a donné l’habitude; et si cependant cette profondeur n’était point revêtue d’images, ce ne serait pas de la poésie: il faut donc que la nature grandisse aux yeux de l’homme pour qu’il puisse s’en servir comme de l’emblème de ses pensées. Les bosquets, les fleurs et les ruisseaux suffisaient aux poètes du paganisme; la solitude des forêts, l’Océan sans bornes, le ciel étoilé peuvent à peine exprimer l’éternel et l’infini dont l’âme des chrétiens est remplie.39

Mme de Staël befindet sich hier im Einklang mit Chateaubriand, der im Génie du Christianisme festgestellt hatte, dass die enthusiastische Naturerfahrung eine spezifisch christliche Errungenschaft sei:

Il y a dans l’homme un instinct qui le met en rapport avec les scènes de la nature. Eh! qui n’a pas passé des heures entières, assis sur le rivage d’un fleuve, à voir s’écouler les ondes! Qui ne s’est plu, au bord de la mer, à regarder blanchir l’écueil éloigné! Il faut plaindre les anciens, qui n’avaient trouvé dans l’Océan que le palais de Neptune et la grotte de Protée; il était dur de ne voir que les aventures des Tritons et des Néréides dans cette immensité des mers, qui semble nous donner une mesure confuse de la grandeur de notre âme, dans cette immensité qui fait naître en nous un vague désir de quitter la vie, pour embrasser la nature et nous confondre avec son Auteur.40

An seinem Beispiel lassen sich die typischen Züge eines ekstatischen Naturerlebnisses gewinnen: es geht von einer konkreten Landschaft („le rivage d’un fleuve“, „[le] bord de la mer“) aus, die von der Phantasie des Betrachters ins Unendliche („immensité“) erweitert wird und diesem eine „konfuse“ Selbsterfahrung („une mesure confuse de la grandeur de notre âme“) vermittelt, die in ein religiöses Vereinigungserlebnis bzw. eine Hoffnung auf ein solches mündet („un vague désir de quitter la vie, pour embrasser la nature et nous confondre avec son Auteur“)41. Chateaubriand hat auch die Naturschauspiele genannt, die für solche Erlebnisse in Frage kommen. Das eine ist der Anblick der „déserts de l’Océan“ unter einem nächtlichen Sternenhimmel, der den Menschen die Unendlichkeit des Universums und die Allmacht Gottes erfahren lässt; das andere ist eine „perspective terrestre“, die vom Mond beschienene Savannen- und Waldlandschaft der Neuen Welt, in der die Seele in die Weite der Wälder eintaucht („l’âme se plaît à s’enfoncer dans un océan de forêts“) und in der Einsamkeit Gott begegnet („à méditer au bord des lacs et des fleuves, et pour ainsi dire, à se trouver seule devant Dieu“)42.

Ekstatische Naturerlebnisse sind in der französischen Literatur seit Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire bekannt43. Rousseau hat in seiner „Septième Promenade“ beschrieben, wie er sich in der erzwungenen Einsamkeit beim Herborisieren in die Betrachtung der „trois règnes“ der Natur versenkt und mit einer „délicieuse ivresse“ in der Unendlichkeit dieses „beau sistême“ verloren habe:

Plus un contemplateur a l’âme sensible plus il se livre aux extases qu’excite en lui cet accord. Une rêverie douce et profonde s’empare alors de ses sens, et il se perd avec une délicieuse ivresse dans l’immensité de ce beau sistême avec lequel il se sent identifié. Alors tous les objets particuliers lui échappent; il ne voit et ne sent rien que dans le tout.44

In solchen Momenten fühlt sich der Betrachter mit dem ganzen Universum eins, und das Ich und alles Einzelne gehen im Ganzen auf. In der „Cinquième Promenade“ berichtet Rousseau von einem weiteren vollkommenen Glückszustand auf dem Bieler See. In einem Boot treibend oder am Ufer sitzend tauchte ihn die gleichförmige Bewegung des Wassers in „mille rêveries confuses mais délicieuses“ und ließ ihn das pure Gefühl seiner Existenz genießen:

[…] le bruit des vagues et l’agitation de l’eau […] suffisoient pour me faire sentir avec plaisir mon existence, sans prendre la peine de penser.45

Diese Empfindung des ‚sentiment de l’existence‘ lässt den Betroffenen wie Gott sich selbst genügen:

[…] tant que cet état dure on se suffit à soi-même comme Dieu. (S. 1047)

Für solche Ekstasen bedarf es nach Rousseaus Überzeugung der persönlichen Disposition einer „âme sensible“ und der Hilfe der umgebenden Dinge durch eine maßvolle Bewegung zwischen Erregtheit und absoluter Ruhe. Ist die äußere Ruhe zu groß, muss die Phantasie zu Hilfe kommen und durch leichte und angenehme Gedanken innere Bewegung schaffen46. „Rêveries“ dieser Art sind nach seiner Überzeugung nicht nur in der Natur, sondern überall möglich, auch unter den widrigsten Bedingungen:

[…] j’ai souvent pensé qu’à la Bastille et même dans un cachot où nul objet n’eut frappé ma vue, j’aurois encor pu rêver agreablement. (S. 1048)

Wie man sieht, bieten die Rêveries du promeneur solitaire demjenigen, der an ekstatischen Zuständen interessiert ist, ein reichhaltiges Anschauungsmaterial, von dem die Romantik direkt und indirekt reichlich Gebrauch gemacht hat.

Für Baudelaire gehört die „rêverie“ vor der Natur lange Zeit zu den mächtigsten Stimuli ekstatischen Erlebens, wie mehrere Gedichte der Fleurs du mal bezeugen. Das bekannteste ist das Sonett Correspondances (Les Fleurs du mal IV), das Grundgedanken seiner poetischen Theorie enthält und viele Deutungen erfahren hat47. Es handelt von der allgemeinen Symbolhaltigkeit der Natur, in welcher der Mensch sich in einem Wald von vertrauten Symbolen bewegt und dunkle Worte hören kann und wo „[l]es parfums, les couleurs et les sons se répondent“ (V. 8). Diese Beziehungen der Dinge untereinander werden am Beispiel der Düfte beschrieben:

Il est des parfums frais comme des chairs d’enfants,

Doux comme les hautbois, verts comme les prairies,

– Et d’autres, corrompus, riches et triomphants,

Ayant l’expansion des choses infinies,

Comme l’ambre, le musc, le benjoin et l’encens,

Qui chantent les transports de l’esprit et des sens.

(V. 9–14)

Die im letzten Vers genannten „Verzückungen des Geistes und der Sinne“ sind erkennbar ekstatische Zustände, die durch die Synästhesien von Düften, Farben und Tönen hervorgerufen bzw. ausgedrückt werden. Der Gedichttitel spricht jedoch nicht von „synesthésies“, sondern von „correspondances“ und verwendet damit einen Begriff, der zusammen mit „analogies“ eine zentrale Rolle in Baudelaires ästhetischer Theorie spielt48. Die von dem Illuministen Emanuel Swedenborg und dem Sozialphilosophen Charles Fourier stammenden Begriffe benennen die Beziehungen zwischen den Dingen, auf denen die universale Harmonie und Einheit der Schöpfung beruht, die der Mensch im ekstatischen Zustand erfährt. Bei seiner Beschreibung des fortgeschrittenen Stadiums des Haschischrausches, wenn es zur „unio mystica“ mit allem Seienden kommt, verweist Baudelaire auf diese Lehre und ihre Begründer:

Cependant se développe cet état mystérieux et temporaire de l’esprit, où la profondeur de la vie, hérissée de ses problèmes multiples, se révèle tout entière dans le spectacle, si naturel et si trivial qu’il soit, qu’on a sous les yeux – où le premier objet venu devient symbole parlant. Fourier et Swedenborg, l’un avec ses analogies, l’autre avec ses correspondances, se sont incarné dans le végétal et l’animal qui tombent sous votre regard, et au lieu d’enseigner par la voix, ils vous indoctrinent par la forme et par la couleur.49

Swedenborg und Fourier, die er hier nicht ohne gewisse Ironie poetisch ins Bild setzt, haben sich mittels ihrer Begriffe Korrespondenz und Analogie in die Tier- und Pflanzenwelt inkarniert und sprechen statt mit menschlicher Stimme durch Form und Farbe. Denn alles in der natürlichen wie geistigen Welt ist bedeutungsvoll und verweisend: „tout, forme, mouvement, nombre, couleur, parfum, dans le spirituel comme dans le naturel, est significatif, réciproque, converse, correspondant. […]tout est hiéroglyphique“50, und es ist Aufgabe des Dichters, diese geheimen Übereinstimmungen des Universums zu entziffern. Daher sind Analogien und Korrespondenzen Grundmuster künstlerischen, insbesondere poetischen Denkens und Schaffens51 und jeder gute Dichter nimmt seine Bilder aus dem unerschöpflichen Fundus der „universalen Analogie“:

Chez les excellents poètes, il n’y a pas de métaphore, de comparaison ou d’épithète qui ne soit d’une adaptation mathématiquement exacte dans la circonstance actuelle, parce que ces comparaisons, ces métaphores et ces épithètes sont puisées dans l’inépuisable fonds de l’universelle analogie, et qu’elles ne peuvent être puisées ailleurs.52

Einen besonderen Fall von Analogien und Korrespondenzen stellt das im Zusammenhang mit ihnen erwähnte „symbole parlant“ dar, zu dem ein beliebiger Gegenstand – „le premier objet venu“ – werden kann, den das Individuum im ekstatischen Zustand vor Augen hat und der ihm die „profondeur de la vie, hérissée de ses problèmes multiples“ offenbart. Diese Beobachtung zur Symbolbildung war Baudelaire so wichtig, dass er sie in seinen privaten Aufzeichnungen noch einmal allgemeingültiger formuliert hat:

Dans certains états de l’âme presque surnaturels, la profondeur de la vie se révèle tout entière dans le spectacle, si ordinaire qu’il soit, qu’on a sous les yeux. Il en devient le symbole.53

Die „états de l’âme presque surnaturels“, von denen hier die Rede ist, sind künstlerische, um nicht zu sagen dichterische „états exceptionnels“54. Die „profondeur de la vie“, die sich dem Dichter in diesem Zustand in einem alltäglichen Schauspiel offenbart, ist die Summe der vielfältigen Analogien und Korrespondenzen, die er in seinem universalen Einheits- und Harmonieerlebnis wahrnimmt, und das Symbol, in dem er das Erlebnis festhält, hat die Aufgabe, als „symbole parlant“ auf eben diese universalen Beziehungen zu verweisen55.

In dem 1862 entstandenen Prosagedicht Le Confiteor de l’artiste (Spleen de Paris III) hat Baudelaire die Naturekstase noch einmal zu seinem Gegenstand gemacht und sie dabei problematisiert.

Le Confiteor de l’artiste

Que les fins de journées d’automne sont pénétrantes! Ah! pénétrantes jusqu’à la douleur! car il est de certaines sensations délicieuses dont le vague n’exclut pas l’intensité; et il n’est pas de pointe plus acérée que celle de l’Infini.

Grand délice que celui de noyer son regard dans l’immensité du ciel et de la mer! Solitude, silence, incomparable chasteté de l’azur! une petite voile frissonnante à l’horizon, et qui par sa petitesse et son isolement imite mon irrémédiable existence, mélodie monotone de la houle, toutes ces choses pensent par moi, ou je pense par elles (car dans la grandeur de la rêverie, le moi se perd vite!); elles pensent, dis-je, mais musicalement et pittoresquement, sans arguties, sans syllogismes, sans déductions.56

Die vorgestellte Situation ist eine „perspective marine“, ein Herbstabend am Meer, der beim Ich den Ausnahmezustand auslöst und es mit einem unbestimmten Glücksgefühl („certaines sensations délicieuses“) erfüllt. In der Weite des Himmels und der Unendlichkeit des Meeres „ertrinkt“ sein Blick. Ein kleines Segel am Horizont spiegelt ihm die Winzigkeit und Verlorenheit der eigenen Existenz inmitten der erahnten Unendlichkeit. Einsamkeit und Stille, das tiefe Blau des Himmels und das monotone Rauschen des Meeres versetzen es in eine „rêverie“, in der es eins wird mit den Dingen, „durch sie denkt“ und die Dinge „durch es denken“. Soweit zeigt das Gedicht die bekannten Phänomene einer Ekstase von der Steigerung der Sinneswahrnehmung über die Vorstellung der Unendlichkeit bis zur Identifikation und dem Einswerden mit den wahrgenommenen Dingen, wie es im Poème du hachisch beschrieben wird:

Il arrive quelquefois que la personnalité disparaît et que l’objectivité, qui est le propre des poètes panthéistes, se développe en vous si anormalement, que la contemplation des objets extérieurs vous fait oublier votre propre existence, et que vous vous confondez bientôt avec eux. Votre œil se fixe sur un arbre harmonieux courbé par le vent; dans quelques secondes, ce qui ne serait dans le cerveau d’un poète qu’une comparai­son fort naturelle deviendra dans le vôtre une réalité. Vous prêtez d’abord à l’arbre vos passions, votre désir ou votre mélancolie; ses gémissements et ses oscillations deviennent les vôtres, et bientôt vous êtes l’arbre. De même, l’oiseau qui plane au fond de l’azur représente d’abord l’immortelle envie de planer au-dessus des choses humaines; mais déjà vous êtes l’oiseau lui-même. Je vous suppose assis et fumant. Votre attention se reposera un peu trop longtemps sur les nuages bleuâtres qui s’exhalent de votre pipe. L’idée d’une évaporation, lente, successive, éternelle, s’emparera de votre esprit, et vous appliquerez bientôt cette idée à vos propres pensées, à votre matière pensante. Par une équivoque singulière, par une espèce de transposition ou de quiproquo intellectuel, vous vous sentirez vous évaporant, et vous attribuerez à votre pipe (dans laquelle vous vous sentez accroupi et ramassé comme le tabac) l’é­trange faculté de vous fumer.57

Bei einem poetischen Gemüt führt dieser Zustand in der Regel zur Symbolbildung. In Le Confiteor de l’artiste könnte das Segel am Horizont zum Symbol werden, in dem das dichterische Ich den flüchtigen Moment seiner „unio mystica“ mit dem Geschauten festhält. Obwohl die Schiffsmetapher ein bekanntes Bild des Menschen- und besonders des Dichterlebens ist, ist die Symbolbildung hier aber gestört, da es bei der reinen „représentation“ des Ichs und seiner Befindlichkeit durch das Segel bleibt („qui par sa petitesse et son isolement imite mon irrémédiable existence“58). Das Ich spricht im Weiteren sogar von einer unerträglichen Intensität des Erlebnisses:

Toutefois, ces pensées, qu’elles sortent de moi ou s’élancent des choses, deviennent bientôt trop intenses. L’énergie dans la volupté crée un malaise et une souffrance positive. Mes nerfs trop tendus ne donnent plus que des vibrations criardes et douloureuses.

Et maintenant la profondeur du ciel me consterne; sa limpidité m’exaspère. L’insensibilité de la mer, l’immuabilité du spectacle, me révoltent … Ah! faut-il éternellement souffrir, ou fuir éternellement le beau? Nature, enchanteresse sans pitié, rivale toujours victorieuse, laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil! L’étude du beau est un duel où l’artiste crie de frayeur avant d’être vaincu.

Seine übergroße Lust schlägt in Unwohlsein und Leiden um und seine Nerven vibrieren schmerzlich. Die Tiefe und Klarheit des Himmels bestürzen und erschrecken es, die „insensibilité de la mer“ und die „immuabilité du spectacle“ bringen es auf und bewirken, dass es ein Ende herbeiwünscht („Nature, […] laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil!“). Damit entlädt sich die eingangs festgestellte Spannung („il n’est pas de pointe plus acérée que celle de l’Infini“) und die Meditation wird abgebrochen, ohne dass es zu einer umfassenden, das Erlebnis als Ganzes einschließenden poetischen Symbolbildung kommt.

Der Blick auf die Geschichte der neueren poetischen Naturerfahrung zeigt, dass ekstatische Naturerlebnisse problematisch verlaufen können und bei Baudelaire tun sie es besonders oft59. Das ist die Folge einer nicht mehr fraglosen Bewunderung der Natur und des Naturschönen, die er mit namhaften Zeitgenossen teilt60. Das Scheitern der dichterischen Ekstase in Le Confiteor de l’artiste ist dennoch nicht leicht zu verstehen. Denn die Intensität der Wahrnehmung und Empfindungen ist ja an sich ein Charakteristikum des gesuchten Ausnahmezustands, und das künstlerische Genie vermag sie nach Baudelaires Überzeugung auch auszuhalten. Selbst das Erschrecken über die „profondeur“ und „limpidité“ des Himmels muss einer Ekstase nicht im Wege stehen, gehört es doch zum Erlebnis des Erhabenen61. Erst die „insensibilité“ des Meeres, und die „immuabilité“ des Schauspiels, die das romantische Erlebnis einer gleichgestimmten Natur verhindern, lösen denn auch die „Revolte“ des Ichs aus, das sich darauf die Frage nach seinem Verhältnis zum Schönen stellt: „Ah! faut-il éternellement souffrir, ou fuir éternellement le beau?“, was hier selbstverständlich das Naturschöne meint. An Stelle einer direkten Antwort wendet das Ich sich an die Natur und weist die von ihr ausgehende „Versuchung“ zurück: „Nature, enchanteresse sans pitié, rivale toujours victorieuse, laisse-moi! Cesse de tenter mes désirs et mon orgueil!“ Versuchung und Zurückweisung einer Versuchung sind aber religiös konnotierte Handlungen, die in diesem Gedicht in eine weitere religiöse, genauer eine liturgische Handlung eingebaut sind, auf die der Titel Le Confiteor de l’artiste anspielt.

In der katholischen Liturgie ist das Confiteor das reinigende Schuldbekenntnis, das der Priester zu Beginn der Messfeier an den Stufen des Altars ablegt62. Baudelaire liebt es, in seinen Gedichten religiöse Redeformen aufzugreifen, etwa den Hymnus als Lob- und Preisgesang des Künstlers auf die Gottheit in Hymne à la Beauté oder die Offenbarungsrede der Gottheit selbst in La Beauté (Fleurs du mal XXI bzw. XVII). Mit dem Titel Le Confiteor de l’artiste präsentiert er sein Prosagedicht als eine Variante des liturgischen Schuldbekenntnisses, was zwangsläufig die Frage nach der Schuld aufwirft, die sein dichterisches Ich bekennen soll. Ist es das Scheitern der Ekstase oder das Scheitern des künstlerischen Ausdrucks derselben, ist es ein Sich-Verlieren an die „Formlosigkeit“ des Naturschönen oder, im Gegenteil, dessen nur ästhetische Würdigung, wie man angenommen hat63? Die Antwort, die der Text auf die Frage gibt, kann nur lauten, dass es die Versuchung durch die unbewegte, mitleidlose Natur und ihr verführerisches Schönes ist64. Demnach wäre der Dienst am Naturschönen die Verfehlung, von der das Ich sich durch sein Schuldbekenntnis reinigen will. Der Dienst am Schönen selbst stünde außer Frage, da das Ich, der Vorgabe des liturgischen Confiteor folgend, seine weitere Bereitschaft zu diesem bekundet65. Tatsächlich ist das wahre Schöne für Baudelaire, wie man weiß, das artifizielle Schöne, das vom Menschen gemacht und gedacht ist66, wozu noch das menschliche Schöne kommt. Das wird im Gedicht zwar nicht explizit gesagt, ist aber seiner Stellung zu entnehmen. Denn wie man von den Fleurs du mal und ihrer „architecture secrète“ weiß, hat Baudelaire seine Gedichte sehr bewusst angeordnet67. Le Confiteor de l’artiste am Anfang des Spleen de Paris68, der vom Großstadtschönen handelt, ist daher eine feierliche Absage an das Naturschöne und eine Einstimmung des Lesers auf die bevorstehende Feier des menschlichen Schönen in der Großstadt. Diesen programmatischen Wechsel bestätigt der Blick auf den Schönheitsbegriff Baudelaires.

Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute

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