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b) Baudelaires Vorstellung vom Schönen

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Im Peintre de la vie moderne hat Baudelaire eine viel zitierte Definition des Schönen gegeben1. Seiner „théorie rationnelle et historique du beau“ zufolge hat das Schöne einen unveränderlichen ewigen und einen vergänglichen, von den Umständen abhängigen zeitgemäßen Teil. Ohne den zeitgemäßen Teil wäre der ewige Teil dem Menschen nicht zugänglich:

Le beau est fait d’un élément éternel, invariable, dont la quantité est excessivement difficile à déterminer, et d’un élément relatif, circonstantiel, qui sera, si l’on veut, tour à tour ou tout ensemble, l’époque, la mode, la morale, la passion. Sans ce second élément, qui est comme l’enveloppe amusante, titillante, apéritive, du divin gâteau, le premier élément serait indigestible, inappréciable, non adapté et non approprié à la nature humaine. (S. 685)

Der veränderliche Teil des Schönen ist die „modernité“:

La modernité, c’est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable.2

Die „modernité“ zu entdecken ist mühsam, aber notwendig, wenn eine Epoche zu ihrer eigenen Kunst finden will:

[…] pour que toute modernité soit digne de devenir antiquité, il faut que la beauté mystérieuse que la vie humaine y met involontairement en ait été extraite.3

Die Vorstellung eines zeitgemäßen ‚modernen‘ Schönen hat Baudelaire schon im Salon de 1846 vertreten. In dessen Schlusskapitel, das den Titel „De l’héroïsme de la vie moderne“ trägt, nennt er den vergänglichen Teil des Schönen die „beauté particulière“, die aus den jeweiligen „passions“ einer Epoche resultiere, und folgert: „comme nous avons nos passions particulières, nous avons notre beauté.“4 Als Beispiele für dieses Schöne der eigenen Zeit führt er dann Lebensformen und -gewohnheiten der Großstadt an wie den „suicide moderne“, das uniformierende und melancholische „habit noir“ der Gegenwart sowie generell „[l]e spectacle de la vie élégante et des milliers d’existences flottantes qui circulent dans les souterrains d’une grande ville, – criminels et filles entretenues […]“; im Besonderen hebt er den „Heroismus“ eines willensstarken Politikers und eines ebensolchen Mörders hervor5. Kurz, das Pariser Leben sei voller poetischer und wunderbarer Gegenstände, die freilich nicht erkannt würden:

La vie parisienne est féconde en sujets poétiques et merveilleux. Le merveilleux nous enveloppe et nous abreuve comme l’atmosphère; mais nous ne le voyons pas.6

Wenngleich dieses Urteil des Kunstkritikers Baudelaire primär für die im Salon von 1846 ausgestellte Malerei gilt, wirft es doch zugleich ein Licht auf die Überlegungen und Fragen, die den Dichter Baudelaire beschäftigten: Was ist in der Großstadt schön und darstellenswert? Welche sind die „passions nouvelles“ ihrer Menschen, welche ist die ihnen gemäße „beauté particulière“? Und welche sind die in der Großstadt möglichen „sujets privés“, die „bien autrement héroïques“ sind als die in der Malerei bis dahin bevorzugten „sujets publics et officiels“7? Seine Antwort, die sich in den ebenso provokativ wie ironisch vorge­brachten Beispielen8 abzeichnet, ist, dass das „Schöne“ in der Großstadt ein primär menschliches Schönes ist und dass es abseits jeder traditionellen Vorstellung in den vielfältigen Formen großstädtischen Lebens gesucht werden muss. Die Formel für diesen Befund lautet:

Il y a donc une beauté et un héroïsme moderne!

Ein knappes Jahrzehnt später geht Baudelaire das Problem des Schönen von einer anderen Seite an. Im Einleitungskapitel seines Berichts über die Pariser Weltkunstausstellung 1855 weist er darauf hin, dass das Schöne kosmopolitisch, vielfältig und vielgestaltig sei wie das Leben („multiforme et versicolore [et] se meut dans les spirales infinies de la vie“9). Wenn es sich in ein einheitliches System von Regeln fassen ließe, wie etwa der von Winckelmann begründete Neoklassizismus, so wäre es längst aus der Welt verschwunden, weil alle Ideen und Empfindungen in einer endlosen Gleichförmigkeit aufgehen würden und die Verschiedenartigkeit dahin wäre. Tatsächlich gebe es aber in allen Kunstäußerungen immer etwas Neues, das sich den Schulregeln entziehe. Diese Vielfalt („variété“) von Typen und Empfindungen verursache Staunen, das eines der großen Vergnügen sei, die Kunst und Literatur bereiten:

Tout le monde conçoit sans peine que, si les hommes chargés d’exprimer le beau se conformaient aux règles des professeurs-jurés, le beau lui-même disparaîtrait de la terre, puisque tous les types, toutes les idées, toutes les sensations se confondraient dans une vaste unité, monotone et impersonnelle, immense comme l’ennui et le néant. La variété, condition sine qua non de la vie, serait effacée de la vie. Tant il est vrai qu’il y a dans les productions multiples de l’art quelque chose de toujours nouveau qui échappera éternellement à la règle et aux analyses de l’école! L’étonnement, qui est une des grandes jouissances causées par l’art et la littérature, tient à cette variété même des types et des sensations. (S. 578)

Dann geht er noch einen Schritt weiter und erklärt, das Schöne sei immer auch „bizarr“:

J’irai encore plus loin, n’en déplaise aux sophistes trop fiers qui ont pris leur science dans les livres […]. Le beau est toujours bizarre. Je ne veux pas dire qu’il soit volontairement, froidement bizarre, car dans ce cas il serait un monstre sorti des rails de la vie. Je dis qu’il contient toujours un peu de bizarrerie, de bizarrerie naïve, non voulue, inconsciente, et que c’est cette bizarrerie qui le fait être particulièrement le Beau. (Ebd.)

Die „bizarrerie“ dürfe freilich nur gering sein und dazu „naïve, non voulue“, weil Regelmäßigkeit und Symmetrie Grundbedürfnisse des menschlichen Geistes seien10. Eine Feststellung, die dies verstehen hilft, findet sich in Fusées VIII:

Ce qui n’est pas légèrement difforme a l’air insensible; – d’où il suit que l’irrégularité, c’est-à-dire l’inattendu, la surprise, l’étonnement sont une partie essentielle et la caractéristique de la beauté. (S. 656)

Demnach zieht das, was nicht „légèrement difforme“ ist, also nicht leicht von der Norm abweicht, keine Aufmerksamkeit auf sich und wird nicht wahrgenommen – „(in)sensible“ ist hier Synonym von „(non) perceptible“. Um wahrgenommen zu werden muss das Schöne eine „irrégularité“ oder „bizarrerie“ oder, wie es an anderer Stelle unter Hinweis auf Poe heißt, eine „étrangeté“ aufweisen.

[…] ses […] compositions étranges qui semblent avoir été créées pour nous démontrer que l’étrangeté est une des parties intégrantes du beau.11

Poe hatte diesen Gedanken in der – von Baudelaire übersetzten – Erzählung Ligeia geäußert:

There is no exquisite beauty […] without some strangeness in the proportion.12

Mit dem aus seiner „strangeness“ oder „novelty“ resultierenden Überraschungselement („l’inattendu, la surprise“) bewirkt das Schöne Staunen („l’étonnement“), das Baudelaire daher zu einem weiteren wesentlichen Bestandteil erklärt: „une partie essentielle et la caractéristique de la beauté“. Im Salon de 1859 stellt er folgerichtig fest: „le Beau est toujours étonnant“13, und in der Exposition universelle 1855 gibt er den Künstlern den Rat:

Toute la question, si vous voulez que je vous confère le titre d’artiste ou d’amateur des beaux-arts, est donc de savoir par quels procédés vous voulez créer ou sentir l’étonnement. (S. 578)

Der Begriff des ‚Staunens‘ („étonnement“) hat in der europäischen Ideengeschichte eine lange Tradition14, die mit der philosophischen Erkenntnislehre beginnt, in der das Staunen Antrieb der Erkenntnis war und durch diese überwunden werden musste – so Aristoteles – oder – so Platon – in der erkennenden Schau der Ideen eine Steigerung erfuhr. Bei den antiken Rhetorikern interessierte Staunen als wirkungsästhetische Größe der Publikumspsyche. In der Neuzeit ist der Begriff durch die dem nachchristlichen Rhetor Kassios Longinos zugeschriebene anonyme Schrift Peri hypsus poetologisch fruchtbar geworden, die nach ihrer Wiederentdeckung in der Renaissance in der Übersetzung durch Boileau die ästhetische Diskussion im 17. und 18. Jh. mitgeprägt hat. Vom Pseudo-Longinos wird dem Menschen ein natürliches Streben nach dem Ungewöhnlichen, dem Großen und Schönen zugeschrieben (35, 2ff.) und diesem werden als Wirkung das Staunen (ékplexis) und die Ekstase (ékstasis) zugeordnet (1, 4). Edmund Burke hat in seiner Schrift A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful von 1757 die Wirkung des Erhabenen („sublime“) als „delightful horror“ beschrieben, als eine Mischung aus Faszination und Schrecken, die Kant wenig später mit den menschlichen Erkenntnisvermögen der Sinne einerseits und des reinen Denkens andererseits erklärt hat. Im 19. Jahrhundert hat diese Diskussion an Bedeutung verloren, doch ist ihr Echo in Baudelaires Überlegungen zur künstlerischen Ekstase und zum ästhetischen Staunen unüberhörbar. In jüngster Zeit hat man Baudelaires Verwendung des Begriffs ‚Staunen‘ als Bestandteil einer „Poetik des Stupors“ zu deuten versucht und mit dem psychiatrischen Diskurs des 19. Jahrhunderts in Verbindung gebracht15. Auch wenn Baudelaire zweifellos die einschlägigen medizinischen Diskussionen seiner Zeit kannte, ist ‚Staunen‘ für ihn aber zuallererst ein ästhetischer Begriff mit positiver Bedeutung. Staunen und staunen machen sind, wie es kurz vor der zitierten Stelle heißt, ein legitimes Bedürfnis des Menschen, weil sie einen Glückszustand („bonheur“) schaffen, wie er, wiederum unter Bezugnahme auf Poe, erklärt:

Le désir d’étonner et d’être étonné est très légitime. It is a happiness to wonder, „c’est un bonheur d’être étonné“; mais aussi, it is a happiness to dream, „c’est un bonheur de rêver“.16

Neben dem Staunen wird hier auch das „Träumen“ („rêver“) als glücklicher Zustand17 bezeichnet. Dass die „rêverie“ für Baudelaire eine ästhetische Qualität hat, geht aus einer Bemerkung in der Exposition universelle 1855 hervor, sein Urteil über Bilder werde davon bestimmt, wie viele Vorstellungen und „Träumereien“ sie in ihm auslösten:

Il m’arrivera souvent d’apprécier un tableau uniquement par la somme d’idées ou de rêveries qu’il apportera dans mon esprit. (S. 579)

Die „rêverie“ ist daher auch ein wesentlicher Bestandteil seines persönlichen Schönheitsbegriffs, den er um dieselbe Zeit in einer Notiz der Journaux intimes festgehalten hat.

J’ai trouvé la définition du Beau, – de mon Beau. C’est quelque chose d’ardent et de triste, quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture. Je vais, si l’on veut, appliquer mes idées à un objet, par exemple, le plus intéressant dans la société, à un visage de femme. Une tête séduisante et belle, une tête de femme, veux-je dire, c’est une tête qui fait rêver à la fois, – mais d’une manière confuse, – de volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancolie, de lassitude, même de satiété, – soit une idée contraire, c’est-à-dire une ardeur, un désir de vivre, associé avec une amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance. Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau.

Une belle tête d’homme n’a pas besoin de comporter, excepté peut-être aux yeux d’une femme, – aux yeux d’un homme bien entendu – cette idée de volupté, qui dans un visage d’une femme est une provocation d’autant plus attirante que le visage est généralement plus mélancolique. Mais cette tête contiendra aussi quelque chose d’ardent et de triste, – des besoins spirituels, des ambitions ténébreusement refoulées, – l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, – quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse, […] quelquefois aussi, – et c’est l’un des caractères de beauté les plus intéressants, – le mystère, et enfin (pour que j’aie le courage d’avouer jusqu’à quel point je me sens moderne en esthétique), le Malheur. – Je ne prétends pas que la Joie ne puisse pas s’associer avec la Beauté, mais je dis que la Joie en est un des ornements les plus vulgaires; – tandis que la Mélancolie en est pour ainsi dire l’illustre compagne, à ce point que je ne conçois guère […] un type de Beauté où il n’y ait du Malheur.18

Die Notiz nennt drei Merkmale, über die der Tagebuchschreiber sich nach langem Suchen – zumindest suggeriert dies seine Formulierung – klar geworden ist. Die beiden ersten sind im weiten Sinne moralische Eigenschaften („quelque chose d’ardent et de triste“) eines menschlichen Schönen, das dritte ist eine wirkungsbezogene Eigenschaft („quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture“). Was sie konkret bedeuten, wird an Beispielen demonstriert, wobei zwischen weiblicher und männlicher Schönheit unterschieden wird. Dem weiblichen Schönen in Form einer „tête séduisante et belle […] de femme“ ordnet Baudelaire „volupté“ und „tristesse“ zu. Für die „tristesse“ stehen „mélancolie“, „lassitude“ und „satiété“, für die „volupté“ die Eigenschaften „ardeur“ und „désir de vivre“, die freilich durch eine „amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance“ gebrochen sein müssen. Es ist ein Frauenideal, dem er so wiederholt Ausdruck verliehen hat19. Für die männliche Schönheit verlangt er ebenfalls eine „belle tête d’homme“, die glühende und zugleich gebrochene Leidenschaft20 ausdrücke, in diesem Fall ein Streben nach Höherem sowie finster unterdrückten Ehrgeiz („des besoins spirituels, des ambitions ténébreusement refoulées“), was die Vorstellung einer ziellos grollenden, bisweilen auch rachsüchtigen Macht hervorrufe („l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, – quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse“). Auch hier paart sich die „tristesse“ mit Melancholie, die er ausdrücklich der „Joie“ („un des ornements les plus vulgaires [du Beau]“) vorzieht und die bis zum Unglück gehen kann, das, wie er betont – „pour que j’aie le courage d’avouer jusqu’à quel point je me sens moderne en esthétique“ –, ein notwendiger Bestandteil des modernen Schönen sei: „à ce point que je ne conçois guère […] un type de Beauté où il n’y ait du Malheur“. Die vollkommene Verkörperung dieses männlichen Schönheitsideals stellt für ihn Miltons Satan dar:

Appuyé sur, – d’autres diraient: obsédé par – ces idées, on conçoit qu’il me serait difficile de ne pas conclure que le plus parfait type de Beauté virile est Satan – à la manière de Milton.21

Damit bekennt Baudelaire sich zum dämonischen Idealbild der schwarzen Romantik, in dem zu den allgemein romantischen Zügen der Melancholie und des „malheur“ noch die Schattenseite des Menschen, seine „part infernale“, tritt22. Das sind die Taten, deren das Individuum sich nur mit Schaudern erinnert, die aber zur Komplexität und Vollständigkeit der Person gehören, weil sie zum „concert, agréable ou douloureux, mais logique et sans dissonances“ derselben beitragen23. Die Darstellung dieses „luziferischen“ Teils des Menschen ist für ihn ein Kennzeichen der modernen Kunst mit ihrer ständig zunehmenden „tendance essentiellement démoniaque“.24

Die vielleicht wichtigste, weil zukunftsweisende Eigenschaft des Schönen ist jedoch das Vage oder Unvollständige, das Raum für die „Vermutung“ lässt: „quelque chose d’un peu vague, laissant carrière à la conjecture“.

Une tête séduisante et belle, une tête de femme, veux-je dire, c’est une tête qui fait rêver à la fois, – mais d’une manière confuse, – de volupté et de tristesse; qui comporte une idée de mélancolie, de lassitude, même de satiété, – soit une idée contraire, c’est-à-dire une ardeur, un désir de vivre, associé avec une amertume refluante, comme venant de privation ou de désespérance. Le mystère, le regret sont aussi des caractères du Beau.

Une belle tête d’homme […] contiendra aussi quelque chose d’ardent et de triste, […] l’idée d’une puissance grondante, et sans emploi, – quelquefois l’idée d’une insensibilité vengeresse, […] quelquefois aussi, […] le mystère […].

Von den Ausdrücken „conjecture“, „faire rêver“, „idées“, „mystère“, mit denen diese Eigenschaft umschrieben wird, bezeichnet das fünfmal wiederkehrende Wort „idées“ die Vorstellungen, die ein schöner Gegenstand beim Betrachter auszulösen vermag. Wie das vor sich geht, hat Baudelaire am Beispiel des Meeres beschrieben, dessen Anblick noch in der Begrenzung die beglückende Vorstellung sowohl von Unendlichkeit wie von Bewegung und damit von denkbar höchster Schönheit erweckt:

Pourquoi le spectacle de la mer est-il si infiniment et si éternellement agréable? – Parce que la mer offre à la fois l’idée de l’immensité et du mouvement. Six ou sept lieues représentent pour l’homme le rayon de l’infini. Voilà un infini diminutif. Qu’importe s’il suffit à suggérer l’idée de l’infini total? Douze ou quatorze lieues (sur le diamètre), douze ou quatorze de liquide en mouvement suffisent pour donner la plus haute idée de beauté qui soit offerte à l’homme sur son habitacle transitoire.25

Das „infini diminutif“ des Meeres wie auch das in der Definition des Schönen genannte „Geheimnis“, das „un des caractères de beauté les plus intéressants“ sei, fordern in besonderem Maße die Tätigkeit der Phantasie heraus, die am Ende der 1850er Jahre zum zentralen Begriff von Baudelaires ästhetischem Denken wird.

Nach Margaret Gilman hat Baudelaire im Begriff der „imagination“ die Synthese aller ästhetischen Vorstellungen gefunden, an denen ihm gelegen war26. Gilman zeichnet nach, wie dieser Begriff seine früheren ästhetischen Vorstellungen ablöst und unter dem Einfluss von Delacroix und Poe zunehmend an Bedeutung und Klarheit gewinnt bis zur vollen Entfaltung im Salon de 1859, den sie deshalb einen „Essay on the Imagination“ nennt. Dort sind die Kapitel III und IV der „imagination“ gewidmet, in denen diese als „reine des facultés“ gepriesen wird, die dem Menschen helfe, sich auf vielfältige Weise die Welt zu erobern: Sie gleiche die Schwächen seiner anderen Fähigkeiten aus, die sie dank ihrer divinatorischen Kraft ersetzen könne. Sie habe ihn die sittliche Bedeutung von Farbe, Umriss, Klang und Düften gelehrt und am Anfang der Welt die Analogie und die Metapher erfunden, welche die geheimen Beziehungen zwischen den Dingen offenbaren. Sie erschaffe Neues, indem sie die Wirklichkeit zerlege und sie nach Regeln ordne, die aus der Tiefe der Seele stammen:

Mystérieuse faculté que cette reine des facultés! Elle touche à toutes les autres; elle les excite, elle les envoie au combat. Elle leur ressemble quelquefois au point de se confondre avec elles, et cependant elle est toujours bien elle-même […]

Elle est l’analyse, elle est la synthèse; et cependant des hommes habiles dans l’analyse et suffisamment aptes à faire un résumé peuvent être privés d’imagination. Elle est cela, et elle n’est pas tout à fait cela. Elle est la sensibilité, et pourtant il y a des personnes très sensibles […] qui en sont privées. C’est l’imagination qui a enseigné à l’homme le sens moral de la couleur, du contour, du son et du parfum. Elle a crée, au commencement du monde, l’analogie et la métaphore. Elle décompose toute la création, et, avec les matériaux amassés et disposés suivant les règles dont on ne peut trouver l’origine que dans le plus profond de l’âme, elle crée un monde nouveau, elle produit la sensation du neuf.27

Die Bezeichnung „reine des facultés“ für die Phantasie erscheint bei Baudelaire erstmals in der Exposition universelle (1855)28, um dann zwei Jahre später in den Notes nouvelles sur Edgar Poe mit diesem in Verbindung gebracht zu werden („Pour lui, l’Imagination est la reine des facultés […]“, S. 328). Tatsächlich ist sie bei Poe nicht direkt nachweisbar, wo es nüchterner heißt:

That the imagination has not been unjustly ranked as supreme among the mental faculties, appears from the intense consciousness, on the part of the imaginative man, that the faculty in question brings his soul often to a glimpse of things supernal and eternal – to the very verge of the great secrets.29

Aber beide Autoren stimmen darin überein, dass die Phantasie den Menschen einen Blick auf die höheren Wahrheiten werfen lässt, „a glimpse of things supernal and eternal“ bei Poe, „les rapports intimes et secrets des choses, les correspondances et les analogies“ bei Baudelaire:

L’imagination est une faculté quasi divine qui perçoit tout d’abord, en dehors des méthodes philosophiques, les rapports intimes et secrets des choses, les correspondances et les analogies.30

Die Herrschaft der Phantasie (Kap. IV: „Le Gouvernement de l’imagination“) zeigt sich vor allem beim künstlerischen Schaffensprozeß, wo sie nicht Phantasie („fantaisie“) schlechthin, sondern schöpferische Kraft („imagination créatrice“) ist, die mit der göttlichen Schöpfungskraft verwandt ist:

„Par imagination, je ne veux pas seulement exprimer l’idée commune impliquée dans ce mot dont on fait si grand abus, laquelle est simplement fantaisie, mais bien l’imagination créatrice, qui est une fonction beaucoup plus élevée, et qui, en tant que l’homme est fait à la ressemblance de Dieu, garde un rapport éloigné avec cette puissance sublime par laquelle le Créateur conçoit, crée et entretient tout son univers.“

Die Unterscheidung von alltäglicher „Phantasie“ und schöpferischer „Imagination“ geht auf die bekannte Definition des imaginations-Begriffs durch Cole­ridge (Biographia literaria, Kap. XIII) zurück, für den die „imagination“ ebenfalls die maßgebliche Fähigkeit des Dichters war31. Erstaunlicherweise folgt Baudelaire an der hier zitierten Stelle aber nicht Coleridge, sondern übersetzt die Unterscheidung „fancy“ – „constructive imagination“ aus Catherine Crowes The Night Side of Nature, or Ghosts and Ghost Seers32, wenn auch nicht ohne ironische Distanz gegenüber der Verfasserin und ihren mystischen und okkulten Gedanken. Statt „constructive imagination“ setzt er dabei „imagination créatrice“, was eine Wendung des von ihm bewunderten Delacroix ist33.

Die hier wie auch an anderen Stellen zu beobachtenden verblüffenden Übereinstimmungen mit Coleridge werfen die Frage auf, ob Baudelaire, der des Englischen ja hinreichend mächtig war, dessen Werke aus eigener Lektüre kannte. Die Frage stellt sich umso mehr, als es in den 1840er Jahren geradezu eine Coleridge-Renaissance gegeben hat34. Gilman hält eine Antwort auf diese „tantalizing question“ für unmöglich, meint aber, dass Baudelaire nicht Catherine Crowe zitiert hätte, wenn er Coleridge zur Hand gehabt hätte. Da er diesen außerdem nur gelegentlich erwähnt35, geht sie davon aus, dass seine Kenntnisse über Poe vermittelt waren36. Eine solche Vermittlung, wenn sie denn nötig gewesen wäre, könnte aber auch über De Quincey gegangen sein, etwa über dessen Recollections of the Lakes and the Lake Poets Coleridge, Wordsworth, and Southey (1834–1839)37.

Aus dem, was die schöpferische Phantasie in der Wirklichkeit vorfindet, schafft sie den „rêve“, die „conception“ oder „idée génératrice“, die vom Künstler in mehreren Schritten in das konkrete Werk umgesetzt und vollendet wird. An ihr scheiden sich für Baudelaire die künstlerischen Geister. Der Künstler, der als „réaliste“ oder „positiviste“ der vorgegebenen Wirklichkeit folgt und die Dinge so darstellt, wie er sie vorfindet, kopiert – mit einem Ausspruch von Delacroix – nur das „Wörterbuch“ der Natur38. Anders der „imaginatif“, der mit Phantasie begabte Künstler, der die Wirklichkeit verwandelt und ihr eine neue Gestalt gibt39. Mit der Kraft seines Geistes will er die Dinge zum „Leuchten“ bringen und Anderen ihren Glanz vermitteln: „Je veux illuminer les choses avec mon esprit et en projeter le reflet sur les autres esprits.“40 „Die Dinge zum Leuchten bringen“ ist ein Bild Baudelaires für die Wiedergabe des Ausnahmezustands41. So bezeichnet er Théodore de Banville als „lumineux“, weil er die „heures heureuses“ wiederzugeben wisse42, und an der Malerei von Delacroix, die beim Betrachter eine „volupté surnaturelle“ erzeugt43, rühmt er ihren „außerordentlichen Glanz“44. Wie und mit welchem Resultat der Dichter mit Hilfe der Phantasie die Wirklichkeit gestalten kann, führt er in dem kurzen Prosagedicht Les Fenêtres vor, in dem das Ich über die Aussagekraft von Fenstern reflektiert45, die im geschlossenen Zustand dem Blick mehr Dinge offenbaren als im offenen. Ein geschlossenes und kaum erhelltes Fenster ist nämlich „mystérieux“ und setzt die Phantasie in Gang, wie das Beispiel zeigt:

Par-delà des vagues de toits, j’aperçois une femme mûre, ridée déjà, pauvre, toujours penchée sur quelque chose, et qui ne sort jamais. Avec son visage, avec son vêtement, avec son geste, avec presque rien, j’ai refait l’histoire de cette femme, ou plutôt sa légende, et quelquefois je me la raconte à moi-même en pleurant.

Si c’eût été un pauvre vieux homme, j’aurais refait la sienne tout aussi aisément.

Et je me couche, fier d’avoir vécu et souffert dans d’autres que moi-même.46

Mit dem wenigen, das durch das geschlossene Fenster von der Gestalt der Frau zu erkennen ist, erfindet das Ich deren Lebens- und Leidensgeschichte, über die es Tränen der Rührung vergießt. Anschließend ist es voller Stolz darüber, in einem Anderen gelebt und gelitten zu haben. Dieser Stolz gehört zum Lebensgefühl im Zustand der Ekstase47, auf die auch die Eigenschaften hinweisen, die dem Fenster zugeschrieben werden – „plus profond, plus mystérieux, plus fécond, plus ténébreux, plus éblouissant“ – und die zum wiederkehrenden ästhetischen Kernwortschatz Baudelaires gehören. „Profond“ begegnet passim im Zusammenhang mit ekstatischen Erlebnissen; „fécond“ ist die Eigenschaft, die er in Les Foules vom Dichter und seiner Phantasie verlangt („poète [au cerveau] actif et fécond“)48; Dunkelheit regt die Phantasie an49 und „éblouissant“ ist die Wirkung des strahlenden Schönen50. Vollends klar wird das Gemeinte, wenn das Ich zum Schluss auf die Frage eines fingierten Lesers, ob die phantasierte Geschichte die „wahre“ sei, antwortet, nicht auf die „réalité placée hors de moi“ komme es an, sondern auf die Wirkung seiner Geschichte, die ihm helfen müsse, zu leben, sich selbst zu fühlen und zu erkennen: „(m’)aid(er) à vivre, à sentir que je suis et ce que je suis.“ Mit diesem Argument setzt Baudelaire dem „vrai“ des herrschenden Realismus sein eigenes künstlerisches Credo von der schöpferischen Phantasie entgegen, mit deren Hilfe er sich in einen Anderen versetzt und in beglückender Weise sein ‚sentiment de l’existence‘ steigert51.

Leitender Gedanke in Baudelaires Vorstellung vom Schönen ist demnach das Erreichen des „état exceptionnel“, des Ausnahmezustandes, sowohl beim Künstler wie beim Rezipienten. Auf diesen wirkungsästhetischen Aspekt des Begriffs hatte schon Poe hingewiesen:

When, indeed, men speak of Beauty, they mean, precisely, not a quality, as is supposed, but an effect – they refer, in short, just to that intense and pure elevation of soul – not of intellect, or of heart – upon which I have commented, and which is experienced in consequence of contemplating ‚the beautiful‘.52

Um den Ausnahmezustand zu erreichen, bedarf es der Phantasie. Daher muss die Darstellung des Schönen so beschaffen sein, dass sie die Phantasie in Bewegung setzt53, die jeden Gegenstand ergänzt und ihm seine besondere Schönheit gibt:

L’œil intérieur transforme tout et donne à chaque chose le complément de beauté qui lui manque pour qu’elle soit vraiment digne de plaire.54

Der Dichter bewirkt das mit Hilfe einer „magischen Verfahrensweise“, einer „sorcellerie évocatoire“ von Sprache und Schreibweise:

Manier savamment une langue, c’est pratiquer une espèce de sorcellerie évocatoire. C’est alors que la couleur parle, comme une voix profonde et vibrante; que les monuments se dressent et font saillie sur l’espace profond; que les animaux et les plantes, représentants du laid et du mal, articulent leur grimace non équivoque; que le parfum provoque la pensée et le souvenir correspondants; que la passion murmure ou rugit son langage éternellement semblable.

Mit diesen Worten beschreibt Baudelaire im Artikel über Théophile Gautier dessen „immense intelligence innée de la correspondance et du symbolisme universels“55. Ein so zustandegekommenes Schönes lässt die Menschen für Augenblicke die irdische Trübsal vergessen und den „rythme immortel et universel“ begreifen56. Und es ist, trotz der Wendung „mon Beau“, kein individualistisches Schönes, denn die Lücken, die von der Phantasie ausgefüllt werden müssen, erzeugen bei den Rezipienten durchaus ähnliche Vorstellungen – „des idées analogues dans des cerveaux différents“ –, wie er in seiner Tannhäuser-Besprechung schreibt, in diesem Fall das Gefühl spiritueller und physischer Glückseligkeit:

[…] la sensation de la béatitude spirituelle et physique; de l’isolement; de la contemplation de quelque chose infiniment grand et infiniment beau; d’une lumière intense qui réjouit les yeux et l’âme jusqu’à la pâmoison; et enfin la sensation de l’espace étendu jusqu’aux dernières limites concevables.57

Mit der Aufnahme des wirkungsästhetischen Aspekts in seinen Begriff des Schönen ergänzt Baudelaire die herkömmlichen Objekteigenschaften um ungewohnte Züge wie „bizarrerie“, „irrégularité“ oder „étrangeté“. Diese Ergänzung kommt der Suche nach der „modernité“ und dem Schönen in der Großstadt entgegen, auch wenn die genannten Eigenschaften sich nicht ausdrücklich auf ein solches beziehen. Zudem müssen nicht alle Eigenschaften des Schönen gleichzeitig oder in gleichem Ausmaß in einem Gegenstand versammelt sein. So verkörpern die eingangs zitierten Lebensschicksale von Verbrechern und anderen Randexistenzen, die im Salon de 1846 als „sujets poétiques et merveilleux“ der großen Städte genannt werden, vor allem den dämonischen Aspekt, dem etwas Provokantes anhaftet. In dem späten Prosagedicht Les Fenêtres verkörpern dagegen ganz gewöhnliche Objekte des Alltags das Schöne, weil sie die Phantasie des Dichters in besonderem Maße anregen. Die dargestellten Lebensformen sind hier großstädtisch und „modern“, aber kaum überraschend, weder die des dichtenden Ichs, das über die Dächer der Stadt blickt, noch die der abgehärmten, immerzu arbeitenden, vielleicht verzweifelten Frau, die offensichtlich die zeitgemäße Variante der „tête séduisante et belle […] de femme“ aus den Journaux intimes ist. Überraschend ist allenfalls ihre Alltäglichkeit. Alle genannten Beispiele stellen jedoch ein menschliches Schönes vor, denn dieses ist für Baudelaire das vorrangig Schöne58. Dem melancholischen, unglücklichen und infernalischen Schönen korrespondiert ein Betrachter, der ebenfalls melancholisch und unglücklich und von alter Schuld geplagt ist, dazu kultiviert und leicht erregbar – der „homme sensible moderne“:

Un tempérament moitié nerveux, moitié bilieux, tel est le plus favorable aux évolutions d’une pareille ivresse; ajoutons un esprit cultivé, exercé aux études de la forme et de la couleur; un cœur tendre, fatigué par le malheur, mais encore prêt au rajeunissement; nous irons, si vous le voulez bien, jusqu’à admettre des fautes anciennes, et, ce qui doit en résulter dans une nature facilement excitable, sinon des remords positifs, au moins le regret du temps profané et mal rempli. […] Si l’on ajoute à tout cela une grande finesse de sens que j’ai omise comme condition surérogatoire, je crois que j’ai rassemblé les éléments généraux les plus communs de l’homme sensible moderne, de ce que l’on pourrait appeler la forme banale de l’originalité.59

Großstadt und dichterischer Enthusiasmus Baudelaire, Rilke, Sarraute

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