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Der Hauptmann

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Es war unmöglich, einen Monat in Cranford zu leben, ohne auf das Genaueste über die Gewohnheiten aller Einwohner unterrichtet zu sein; und so wusste ich denn lange, ehe mein Besuch zu Ende ging, allerlei über das Brown’sche Trio. In Bezug auf ihre Armut war nichts Neues zu entdecken, denn sie hatten von Anfang an offen und einfach darüber gesprochen. Sie machten kein Geheimnis aus der Notwendigkeit, sparsam zu leben. Was aber noch zu entdecken blieb, war des Hauptmanns unendliche Herzensgüte und die vielfältige Art und Weise, wie er sie unbewusst offenbarte. Einige kleine Geschichten davon wurden noch längere Zeit, nachdem sie sich ereignet hatten, besprochen. Da wir nicht viel lasen und alle Damen mit guten Dienstboten versehen waren, trat oft eine wahre Hungersnot an Unterhaltungsstoff ein. Wir besprachen daher auf das Eingehendste den Vorfall, dass der Hauptmann einer armen alten Frau an einem Sonntag bei schlechtem Wetter und schlüpfrigem Boden ihre Mittagsmahlzeit aus der Hand genommen hatte. Er traf sie bei der Rückkehr vom Backhaus, als er selbst aus der Kirche kam, und bemerkte ihren unsicheren Gang; mit der Würde, mit der er alles tat, befreite er sie von ihrer Last, ging mit ihr die Straße entlang und brachte ihr gebackenes Hammelfleisch mit Kartoffeln sicher nach Hause. Man fand dies sehr exzentrisch und erwartete eigentlich, dass er am Montagvormittag eine Visitentour machen würde, um sich vor dem Cranforder Schicklichkeitssinn zu entschuldigen; aber es fiel ihm gar nicht ein, und nun entschied man, dass er sich schämte und sich nicht sehen lassen wollte. Mit liebevollem Mitleid begannen wir zu sagen: »Nun, schließlich zeigt die Begebenheit vom Sonntagmorgen, wie viel Herzensgüte er besitzt«, und es wurde beschlossen, dass er bei seinem nächsten Erscheinen in unserer Gesellschaft getröstet werden sollte; aber siehe da, er trat bei uns ein ohne das mindeste Gefühl von Scham, sprach so laut und volltönend wie nur je, sein Kopf war zurückgeworfen, seine Perücke so zierlich und wohlgelockt wie gewöhnlich, und wir mussten einsehen, dass er das ganze Erlebnis vom Sonntag vergessen hatte.

Miss Pole und Miss Jessie Brown waren durch die Shetlandwolle und neue Strickmuster näher bekannt geworden, und so kam es, dass ich bei einem längeren Besuch bei Miss Pole mehr von der Brown’schen Familie erfuhr als während meines ganzen Aufenthaltes bei Miss Jenkyns, die nie ganz über Hauptmann Browns nach ihrer Meinung herabsetzende Bemerkungen über Dr. Johnsons literarische Qualitäten hinwegkam. Ich fand, dass Miss Brown ernstlich krank war an einem unheilbaren chronischen Leiden, das ihr viele Schmerzen verursachte, die ihrem Gesicht den gezwungenen Ausdruck gaben, den ich für schlechte Laune gehalten hatte. Schlechter Laune war sie auch sicher bisweilen, wenn die durch ihr Leiden hervorgerufene Reizbarkeit sich bis ins Unerträgliche steigerte. Miss Jessie hatte in diesen Zeiten beinahe noch mehr Nachsicht und Geduld mit ihr als bei den unabänderlich darauf folgenden bitteren Selbstvorwürfen. Miss Brown pflegte sich dann nicht nur ihres heftigen und reizbaren Charakters wegen anzuklagen, sondern auch weil sie die Schuld trug, dass Vater und Schwester gezwungen waren, sich aufs Äußerste einzuschränken, um ihr all die kleinen Erleichterungen zu gestatten, die ihr Zustand verlangte.

So gern hätte sie für die beiden Opfer gebracht und ihre Sorgen erleichtert; und von Natur großmütig, empfand sie ihr Unvermögen mit tiefer Bitterkeit. Miss Jessie und ihr Vater ertrugen dies alles nicht nur mit Gelassenheit, sondern geradezu mit Zärtlichkeit. Ich vergab Miss Jessie ihr unreines Singen und ihre etwas zu jugendliche Kleidung, als ich sie zu Hause sah. Ich bemerkte auch, dass Hauptmann Browns dunkle Brutusperücke und der (ach, nur zu fadenscheinige) wattierte Rock Überbleibsel der militärischen Eleganz seiner Jugend waren, die er nun auftrug. Er wusste sich immer zu helfen und verstand sich auf allerlei Dinge, die er vom Kasernenleben her kannte. So behauptete er unter anderem, dass ihm niemand anderes die Stiefel gut genug putze. Aber er hielt sich auch nicht für zu gut, dem Dienstmädchen auf alle mögliche Art die Arbeit zu erleichtern – er wusste doch wahrscheinlich, dass die Krankheit seiner Tochter die Stelle sehr schwer machte.

Er versuchte bald nach dem denkwürdigen Streit, mit Miss Jenkyns Frieden zu schließen, indem er ihr eine hölzerne Kaminschaufel (eigener Arbeit) schenkte, da er sie hatte sagen hören, wie sehr das Kratzen einer eisernen sie ärgerte. Sie empfing das Geschenk kühl und dankte ihm sehr formell. Als er gegangen war, bat sie mich, es in die Rumpelkammer zu bringen, denn sie fühlte wahrscheinlich, dass ein Geschenk von einem Manne, der Boz dem Dr. Johnson vorzog, ihr nicht minder auf die Nerven fallen würde als eine eiserne Feuerschaufel.

So standen die Dinge, als ich Cranford verließ, um nach Drumble zu ziehen. Ich blieb jedoch mit mehreren Damen im Briefwechsel. Sie hielten mich über die Ereignisse in der lieben kleinen Stadt au fait. Da war zunächst Miss Pole, die jetzt ebenso im Häkeln aufging wie früher im Stricken und deren Briefe gewöhnlich als Hauptinhalt hatten: »aber vergessen Sie nicht das weiße Garn von Flint«; und nach jeder neuen Nachricht kam ein Auftrag für irgendeine Häkelarbeit, die ich ihr besorgen sollte. Miss Mathilda Jenkyns (die es nicht übel nahm, wenn man in Abwesenheit ihrer Schwester Miss Matty zu ihr sagte) schrieb nette freundliche Plauderbriefe; wagte hier und da eine eigene Meinung zu äußern, machte sich aber sogleich Vorwürfe darüber und bat mich entweder, nicht zu erwähnen, was sie gesagt, da Deborah anders darüber denke, wie sie sehr gut wisse; oder sie brachte ein Postskriptum an, des Inhalts, dass sie noch einmal mit Deborah über die Sache gesprochen habe, nachdem sie das Obige geschrieben, und ganz überzeugt sei, dass – und so weiter (hier folgte dann ein Widerruf aller im Briefe ausgesprochenen Ansichten). Dann schrieb mir auch Miss Jenkyns – Debórah, wie sie sich gern von Miss Matty nennen ließ, da ihr Vater einmal gesagt hatte, dass der hebräische Name so ausgesprochen werden müsste. Im stillen glaube ich, dass sie sich die hebräische Prophetin zum Vorbild nahm, und ihr Charakter hatte auch wirklich etwas von deren strengem Wesen, natürlich mit einigen Konzessionen an moderne Sitten und Kleidung. Miss Jenkyns trug eine Krawatte und ein kleines Hütchen wie eine Jockeimütze und hatte überhaupt etwas entschieden Männliches in ihrer Erscheinung, obwohl sie die moderne Idee von der Gleichberechtigung der Frauen verabscheut haben würde. Gleichheit – ja wahrhaftig, sie wusste, dass sie den Männern überlegen waren. Aber um auf ihre Briefe zurückzukommen, muss ich sagen, dass etwas von ihrer eigenen Stattlichkeit und Größe darinlag. Ich habe sie kürzlich wieder durchgesehen (die gute Miss Jenkyns, wie sehr habe ich sie verehrt!) und will hier einen kleinen Auszug daraus mitteilen, umso mehr, als es sich um unseren Freund, Hauptmann Brown, darin handelt. –

»Mrs. Jamieson hat mich soeben verlassen und teilte mir im Verlauf unserer Unterhaltung mit, dass sie gestern einen Besuch von dem ehemaligen Freunde ihres verehrungswürdigen Gatten, Lord Mauleverer, erhalten habe. Sie werden nicht leicht erraten, was Seine Lordschaft in den Bereich unserer kleinen Stadt führte. Er kam, um Hauptmann Brown zu besuchen, mit dem Seine Lordschaft, wie es scheint, in den afrikanischen Kriegen bekannt geworden war und der den Vorzug gehabt hatte, eine große Gefahr vom Haupte Seiner Lordschaft abzuwenden, fern am Kap der Guten Hoffnung, das seinen Namen zu Unrecht trägt. Sie wissen, wie sehr es unserer Freundin, Mrs. Jamieson, an harmloser Neugier mangelt, und werden daher nicht überrascht sein, dass sie mir nichts Näheres über die fragliche Gefahr mitteilen konnte. Ich muss gestehen, dass ich besorgt darum war, wie Hauptmann Brown einen so hochgestellten Gast in seinem beschränkten Haushalt aufnehmen könne, und es beruhigte mich, als ich hörte, dass Seine Lordschaft sich zur Ruhe und zu hoffentlich erquickendem Schlummer in den Gasthof ›Zum Engel‹ zurückzog, aber die Brown’schen Mahlzeiten während der zwei Tage teilte, an denen er Cranford durch seine erhabene Gegenwart beehrte. Mrs. Johnson, die Frau unseres Metzgers, teilte mir mit, dass Miss Jessie eine Lammkeule gekauft, aber von irgendeiner weiteren Vorbereitung zum Empfang eines so hochgestellten Besuches konnte ich nichts in Erfahrung bringen. Vielleicht bewirteten sie ihn mit ›Der Speise der Vernunft und dem Trank der Seele‹; und wir, die wir uns über Hauptmann Browns traurigen Mangel an Verständnis für die reinen, unverfälschten Quellen der englischen Sprache einig sind, können ihm gratulieren, dass ihm die Gelegenheit geboten wurde, seinen Geschmack durch die Unterhaltung mit einem eleganten und hochgebildeten Mitglied der britischen Aristokratie zu verbessern. Aber wer ist ganz frei von menschlichen Schwächen?«

Miss Pole und Miss Matty schrieben mir mit gleicher Post. Eine so große Neuigkeit wie Lord Mauleveres Besuch ließen sich die Cranforder Briefeschreiberinnen nicht entgehen, sondern nutzten die Gelegenheit weidlich aus. Miss Matty entschuldigte sich, dass sie zugleich mit ihrer Schwester schreibe, die so viel besser verstände, die Cranford zuteil gewordene Ehre zu schildern; aber trotz etwas mangelhafter Orthographie gab mir Miss Mattys Bericht den besten Eindruck von der Aufregung, die durch den Besuch des Lords hervorgerufen worden war; denn mit Ausnahme der Leute im »Engel«, der Familie Brown, Mrs. Jamiesons und eines kleinen Jungen, auf den Seine Lordschaft losgewettert hatte, weil er einen schmutzigen Reifen gegen seine aristokratischen Beine getrieben, konnte ich von niemandem hören, mit dem sich Seine Lordschaft unterhalten hätte.

Mein nächster Besuch in Cranford fand im Sommer statt. Es waren weder Geburten noch Todesfälle, noch Heiraten vorgefallen, seit ich zuletzt dort war. Jeder wohnte noch in demselben Hause und trug noch ziemlich dieselben gutgeschonten altmodischen Kleider. Das größte Ereignis war, dass Miss Jenkyns sich einen neuen Teppich für den Salon angeschafft hatte. Wie viel Arbeit machte es aber Miss Matty und mir, die Sonnenstrahlen zu verscheuchen, die nachmittags durch das Fenster, vor dem keine Rollladen waren, gerade auf den Teppich fielen! Wir breiteten Zeitungsblätter auf die Stellen aus und setzten uns mit Buch oder Handarbeit dazu; aber siehe, nach einer Viertelstunde war die Sonne weitergerückt und brannte auf eine neue Stelle, worauf wir wieder niederknieten, um die Zeitungen weiterzuschieben. Den ganzen Vormittag eines Tages, an dem Miss Jenkyns eine Gesellschaft gab, waren wir eifrig damit beschäftigt, nach ihren Angaben Stücke Papier auszuschneiden und zusammenzuheften, um kleine Fußwege nach den einzelnen für die Gäste bereitgestellten Stühlen zu bilden, damit ihre Schuhe nicht den Teppich beschmutzten oder verdarben. Legt man in London jemals für jeden Gast einen Papierweg?

Hauptmann Brown und Miss Jenkyns waren nicht sehr freundlich miteinander. Der literarische Streit, dessen Anfang ich miterlebt hatte, war ein wunder Punkt, dessen leiseste Berührung sie erregte. Es war die einzige Meinungsverschiedenheit, die sie je gehabt, aber sie genügte. Miss Jenkyns konnte es nicht lassen, auf Hauptmann Brown einzureden, und wenn er auch nicht darauf antwortete, so trommelte er doch mit den Fingern, was sie als Nichtachtung Dr. Johnsons übel nahm. Er übertrieb es ein wenig mit seiner Vorliebe für die Schriften von Boz; schritt ganz vertieft in sie durch die Straßen, so dass er einmal beinahe Miss Jenkyns umgerannt hätte; und obgleich er sich ernst und aufrichtig entschuldigte und schließlich ja nichts weiter getan hatte, als sie und sich selbst zu erschrecken, gestand sie mir doch, dass es ihr lieber gewesen wäre, er hätte sie umgestoßen, wenn er nur etwas literarisch Höherstehendes lesen wollte. Der arme wackere Hauptmann! Er sah älter und sorgenvoller aus, und seine Sachen waren sehr abgetragen. Aber er schien ebenso frisch und heiter zu sein wie sonst, solange man ihn nicht nach dem Befinden seiner Tochter fragte.

»Sie leidet sehr viel und wird noch mehr leiden müssen; wir tun, was wir können, um ihre Schmerzen zu lindern – nun, wie Gott will.« Bei diesen Worten nahm er seinen Hut ab. Ich erfuhr durch Miss Matty, dass wirklich alles geschehen war, was man nur tun konnte. Man hatte einen in der ganzen Gegend berühmten Arzt kommen lassen, und alle seine Vorschriften wurden ohne Rücksicht auf die Kosten befolgt. Miss Matty war überzeugt, dass Vater und Schwester sich vieles versagten, um es der Kranken angenehmer zu machen, aber sie sprachen nie darüber; und was Miss Jessie betraf! – »Ich halte sie für einen wahren Engel«, sagte Miss Matty ganz gerührt. »Es ist zu schön, zu sehen, wie sie Miss Browns schlechte Laune erträgt und was für ein heiteres Gesicht sie macht, nachdem sie die ganze Nacht aufgewesen und beinahe immerzu ausgeschimpft worden ist. Und doch sieht sie, wenn der Hauptmann zum Frühstück kommt, so nett und ordentlich aus, als ob sie die ganze Nacht im Bett der Königin geschlafen hätte. Meine Liebe, Sie würden nicht über ihre steifen Löckchen oder ihre rosa Schleifen lachen, wenn Sie sie so sehen könnten, wie ich sie gesehen habe.« Ich konnte nichts tun, als lebhafte Reue zu empfinden und Miss Jessie beim nächsten Wiedersehen doppelt achtungsvoll zu begrüßen. Sie sah blass und elend aus, und ihre Lippen zuckten, als ob sie sich sehr schwach fühlte, während wir von ihrer Schwester sprachen. Aber sie heiterte sich auf und unterdrückte die Tränen, die in ihren hübschen Augen schimmerten, als sie sagte: »Man kann gar nicht genug die Güte und Freundlichkeit in Cranford rühmen! Ich glaube, es kommt nicht vor, dass jemand einmal ein besseres Mittagessen als gewöhnlich hat, ohne dass meiner Schwester ein Schüsselchen vom Besten davon geschickt würde. Die ärmeren Leute bringen uns sogar ihr erstes Gemüse für sie. Dabei reden sie kurz und grob, als ob sie sich dessen schämten; aber es geht mir oft zu Herzen, wenn ich ihre Fürsorglichkeit sehe.«

Jetzt kamen die Tränen reichlich geflossen, aber nach ein paar Minuten schalt sie sich schon deshalb aus, und als sie fortging, war sie wieder die alte fröhliche Miss Jessie.

»Aber warum tut dieser Lord Mauleverer denn nicht etwas für den Mann, der ihm das Leben gerettet hat?«, fragte ich.

»Ja, sehen Sie, ohne Veranlassung spricht Hauptmann Brown nie von seiner Armut; er stolziert so vergnügt und glücklich wie ein Prinz mit Seiner Lordschaft umher; und da sie nie durch Entschuldigungen auf ihr Essen aufmerksam machten und Miss Brown sich in dieser Zeit besser fühlte und alles einen heiteren Anstrich hatte, so glaube ich, dass Seine Lordschaft gar nicht ahnte, wie viel Sorge im Hintergrunde schlummerte. Im Winter schickte er ihnen häufig Wildbret, aber jetzt ist er ins Ausland gereist.«

Ich hatte oft Gelegenheit, zu beobachten, wie in Cranford jeder Rest und jede Kleinigkeit ausgenutzt wurden. Man sammelte die Rosenblätter, bevor sie abfielen, um ein Potpourri für jemanden damit zu füllen, der keinen Garten besaß; kleine Büschel Lavendelblüten wurden an Bekannte in der Stadt geschickt, um sie in die Kommoden zu streuen oder in einer Krankenstube damit zu räuchern. Dinge, die manch einer verachtet hätte, und kleine Dienste, die kaum der Mühe wert erschienen, wurden in Cranford hochgehalten. Miss Jenkyns steckte einen Apfel voll Gewürznelken, der in Miss Browns Zimmer heiß gemacht werden und einen angenehmen Duft verbreiten sollte, und bei jeder Nelke, die sie hineinsteckte, äußerte sie einen Johnson’schen Ausspruch. Sie konnte überhaupt niemals an Browns denken, ohne von Johnson zu sprechen, und da sie ihr damals gerade selten aus dem Sinn kamen, so hörte ich manchen tönenden dreigipfligen Satz.

Hauptmann Browns besuchte uns eines Tages, um Miss Jenkyns für viele kleine Freundlichkeiten zu danken, von denen ich erst bei dieser Gelegenheit erfuhr. Er war plötzlich ein alter Mann geworden; seine tiefe Bassstimme zitterte ein wenig; seine Augen waren matt, das Gesicht tief gefurcht. Er sprach nicht hoffnungsfreudig vom Zustand seiner Tochter – das war unmöglich –, aber er sagte einige wenige Worte darüber mit männlicher, frommer Ergebung. Zweimal erwähnte er: »Was Jessie uns gewesen ist, weiß Gott allein!« Und nach dem zweiten Male stand er hastig auf, schüttelte uns allen stumm die Hand und verließ das Zimmer.

An jenem Nachmittag bemerkten wir kleine Gruppen von Leuten auf der Straße, die mit entsetzten Mienen einer Erzählung zu lauschen schienen. Miss Jenkyns wunderte sich eine Zeit lang, was wohl geschehen sein könnte, bis sie den würdelosen Schritt tat, Jenny hinauszuschicken, um sich zu erkundigen.

Jenny kam schreckensbleich zurück.

»Oh, Madame! Oh, Miss Jenkyns! Hauptmann Brown ist durch die abscheuliche Eisenbahn getötet worden!« Dabei brach sie in Tränen aus. Wie so viele andere hatte auch sie nur Freundlichkeiten von dem armen Hauptmann empfangen.

»Wie? Wo – wo? Großer Gott! Jenny, halte dich nicht mit Weinen auf, sondern erzähle uns, wie es zugegangen ist!«

Miss Matty stürzte sofort auf die Straße hinaus und kriegte den Mann zu fassen, der gerade die Geschichte erzählte.

»Kommen Sie herein – kommen Sie sofort zu meiner Schwester – Miss Jenkyns, des Pfarrers Tochter. Oh, Mann, Mann, sagen Sie, dass es nicht wahr ist«, rief sie und brachte den erschrockenen Fuhrmann, der sich das Haar glatt strich, in den Salon, wo er mit seinen nassen Stiefeln auf dem neuen Teppich stand; aber niemand achtete darauf.

»Entschuldigen Sie, Madame, aber es ist wahr. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen«; und er schauderte bei der Erinnerung. »Der Hauptmann las in irgendeinem neuen Buch und war ganz hinein vertieft, während er auf den Zug wartete; und da war ein kleines Mädchen, das zu seiner Mama wollte und seiner Schwester heimlich entwischte und über das Geleise torkelte. Und als er den Zug kommen hörte, blickte er plötzlich auf, sah das Kind, stürzte auf die Schienen und riss es fort; aber er rutschte mit dem Fuß aus, und der Zug fuhr im selben Augenblick über ihn weg. O mein Gott, mein Gott, es ist wirklich wahr – und sie sind hergekommen, um es seinen Töchtern zu sagen. Das Kind aber ist gerettet und hat nur einen Stoß an der Schulter abgekriegt, als er es der Mutter zuwarf. Der arme Hauptmann wäre froh darüber, nicht wahr, Madame? Gott segne ihn!« Der große raue Fuhrmann runzelte das Gesicht und wandte sich ab, um seine Tränen zu verbergen. Ich sah Miss Jenkyns an; sie sah so elend aus, als ob sie ohnmächtig werden wollte, und machte mir ein Zeichen, das Fenster zu öffnen.

»Mathilde, hole mir meinen Hut. Ich muss zu den Mädchen gehen. Gott verzeihe mir, wenn ich je verächtlich zu dem Hauptmann gesprochen habe!«

Miss Jenkyns zog sich zum Ausgehen an und bat ihre Schwester, dem Manne ein Glas Wein zu geben. Während sie fort war, hockten Miss Matty und ich vor dem Kaminfeuer und redeten mit leiser, von Entsetzen erfüllter Stimme. Heimlich weinten wir beide vor uns hin.

Miss Jenkyns kam sehr schweigsam nach Hause, und wir wagten uns nicht, sie viel zu fragen. Sie sagte uns, dass Miss Jessie ohnmächtig geworden wäre und dass sie und Miss Pole sie nur mühsam wieder zu sich bringen konnten; aber sobald sie sich erholt hätte, habe sie gebeten, dass eine von ihnen zu ihrer Schwester hineingehen möge.

»Doktor Hoggins meint, dass sie nur noch wenige Tage leben kann, und dieser Schlag soll ihr erspart werden«, sagte Miss Jessie, mit Gefühlen kämpfend, denen sie nicht nachzugeben wagte.

»Aber wie wollen Sie das machen, liebes Kind?«, fragte Miss Jenkyns. »Sie können sich nicht so zusammennehmen, sie muss ja Ihre Tränen sehen.«

»Gott wird mir beistehen – ich will nicht schwach werden –, sie schlief, als die Nachricht kam, und sie schläft vielleicht noch. Sie würde so verzweifelt sein, nicht nur über Vaters Tod sondern auch bei dem Gedanken, was aus mir werden würde; sie ist so gut zu mir.« Sie blickte ihnen ernst ins Gesicht mit ihren ehrlichen, sanften Augen, und Miss Pole sagte später zu Miss Jenkyns, dass sie das kaum hätte ertragen können, da sie doch wusste, wie Miss Brown ihre Schwester behandelte.

Indessen wurde alles nach Miss Jessies Wunsch eingerichtet. Miss Brown wurde nur gesagt, ihr Vater habe eine kurze Reise in dienstlichen Angelegenheiten antreten müssen. Man hatte es ihr auf irgendeine Weise glaubwürdig gemacht – Miss Jenkyns wusste selbst nicht genau, wie. Miss Pole sollte bei Miss Jessie bleiben. Mrs. Jamieson hatte sich nach ihr erkundigen lassen. Dies war alles, was wir an dem Abend hörten, dem eine sorgenvolle Nacht folgte.

Am nächsten Tage stand ein ausführlicher Bericht über den Unglücksfall in der Provinzzeitung, die Miss Jenkyns hielt. Ihre Augen seien sehr schwach, sagte sie und bat mich, ihn vorzulesen. Als ich an die Stelle kam, »der ritterliche Mann war ganz versunken in die Lektüre einer ›Pickwick‹-Nummer, die er soeben erhalten hatte«, schüttelte Miss Jenkyns lange und feierlich den Kopf und sagte dann, tief aufseufzend: »Armer, lieber, verblendeter Mann!«

Die Leiche sollte vom Bahnhof zur Beerdigung nach der Pfarrkirche gebracht werden. Miss Jessie hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihr das Geleite bis zum Grabe zu geben, und kein Abraten vermochte ihren Entschluss zu ändern. Der Zwang, den sie sich selbst auferlegt, machte sie geradezu eigensinnig, und sie widerstand Miss Poles flehenden Bitten ebenso wie Miss Jenkyns’ Ratschlägen. Endlich gab Miss Jenkyns es auf und sagte nach einem längeren Stillschweigen, von dem ich schon fürchtete, dass es eine Verstimmung gegen Miss Jessie bedeutete, sie würde sie zu der Trauerfeier begleiten.

»Es ist nicht passend, dass Sie allein gehen. Es wäre gegen jede Schicklichkeit und Menschlichkeit, wenn ich es zugeben würde.«

Miss Jessie war offenbar mit diesem Vorschlag keineswegs einverstanden, aber sie hatte ihren Eigensinn, wenn er überhaupt vorhanden gewesen war, ganz bei dem Entschluss, dem Begräbnis beizuwohnen, erschöpft. Sie sehnte sich gewiss danach – das arme Ding! –, allein an dem offenen Grabe des lieben Vaters zu weinen, dem sie das Liebste auf der Welt gewesen war, und sich eine halbe Stunde dem Schmerz hinzugeben, ungestört von Beileidsbeteuerungen und unbeaufsichtigt von Freundschaft. Aber es sollte nicht sein. Miss Jenkyns ließ sich noch an demselben Nachmittag ein Meter schwarzen Krepp holen und war eifrig damit beschäftigt, den kleinen schwarzseidenen Hut damit zu garnieren, von dem ich schon gesprochen habe. Als er fertig war, setzte sie ihn auf und blickte uns an, ob wir damit einverstanden wären – denn Bewunderung verachtete sie. Ich war tief betrübt; aber wie einem mitunter, selbst im größten Schmerz, ein komischer Gedanke durch den Kopf fährt, so fiel mir beim Anblick des Hutes sofort ein Helm ein, und in diesem Zwittergebilde, der halb Helm und halb Jockeimütze war, wohnte Miss Jenkyns der Trauerfeier für Hauptmann Brown bei, hielt Miss Jessie mit einer liebevoll milden Festigkeit aufrecht, die unschätzbar war, und erlaubte der Armen, sich tüchtig auszuweinen, ehe sie das Grab verließen.

Miss Pole, Miss Matty und ich sorgten inzwischen für Miss Brown, und das war ein hartes Stück Arbeit, ihre ungeduldigen und endlosen Klagen zu beruhigen. Aber wenn wir schon müde und mutlos waren, wie kann Miss Jessie es ausgehalten haben! Sie kam beinahe ruhig zurück, als ob sie neue Kraft gewonnen hätte, legte ihre Trauerkleider ab und kam blass und sanft herein, jeder von uns mit einem warmen, weichen Händedruck dankend. Sie vermochte sogar zu lächeln – ein schwaches, mildes, winterliches Lächeln –, als ob sie uns beruhigen wollte, dass ihre Kräfte ausreichten; aber dieser Blick füllte unsere Augen plötzlich mit Tränen, er ergriff uns mehr, als wenn sie selbst geweint hätte.

Es war bestimmt worden, dass Miss Pole bei ihr bleiben und die Nacht mit ihr wachen sollte, Miss Matty und ich wollten am Morgen wiederkommen, um sie abzulösen und Miss Jessie ein paar Stünden ruhigen Schlafes zu verschaffen. Aber als der Morgen kam, erschien Miss Jenkyns am Frühstückstisch, den Helmhut auf dem Kopfe, und befahl Miss Matty, zu Hause zu bleiben, da sie selbst hingehen und bei der Pflege helfen wollte. Sie war augenscheinlich in einem Zustand großer, menschenfreundlicher Erregung, was sich darin äußerte, dass sie ihr Frühstück stehend verzehrte und mit dem ganzen Hauspersonal herumschalt.

Aber keine Pflege, keine energische willenskräftige Frau vermochten Miss Brown mehr zu helfen. In dem Zimmer, das wir betraten, war etwas, das stärker schien als wir alle und das uns in feierlicher, ehrfurchtsvoller Hilflosigkeit zurückweichen ließ. Miss Brown lag im Sterben. Wir kannten ihre Stimme kaum wieder, es fehlte ihr der klagende Ton, an den wir so gewöhnt waren. Miss Jessie sagte mir später, dass Stimme und Gesichtsausdruck ganz so wie früher gewesen wären, als der Tod der Mutter sie zum jugendlichen sorgenvollen Haupt einer Familie machte, von der nun Miss Jessie übrig geblieben war.

Sie war sich der Gegenwart ihrer Schwester bewusst, aber nicht der unsrigen, wie es mir vorkam. Wir standen etwas hinter dem Bettvorhang. Miss Jessie kniete und hielt ihr Gesicht nahe an das der Schwester, um ihre letzten geflüsterten Worte zu vernehmen.

»Oh, Jessie, Jessie! Wie selbstsüchtig bin ich gewesen! Ich habe es zugelassen, dass du dich für mich aufgeopfert hast. Gott verzeih mir! Ich habe dich so lieb gehabt – und doch nur an mich gedacht; Gott verzeih mir!«

»Still, Liebe, still!«, sagte Miss Jessie schluchzend.

»Und mein Vater, mein lieber, lieber Vater! Ich will nicht mehr klagen, wenn Gott mir nur Kraft gibt, geduldig zu sein. Aber, Jessie, sage meinem Vater, wie ich mich danach gesehnt habe, ihn vor meinem Ende noch einmal zu sehen und ihn um Verzeihung zu bitten. Er wird nun nie erfahren, wie lieb ich ihn hatte – oh, wenn ich es ihm nur noch sagen könnte, ehe ich sterbe; wie sorgenvoll war sein Leben, und wie wenig habe ich getan, um ihn aufzuheitern!«

Ein heller Schein flog über Miss Jessies Antlitz.

»Würde es dich trösten, Liebste, wenn du erführest, dass er es jetzt weiß? Würde es dich trösten, wenn du wüsstest, dass seine Sorgen und sein Kummer –«, ihre Stimme bebte, aber sie zwang sich, ruhig zu sprechen. »Mary, er ist dir vorangegangen an den Ort, wo die Müden ihre Ruhe finden. Er weiß jetzt, wie sehr du ihn geliebt hast.«

Ein sonderbarer Ausdruck, der aber nichts von Kummer an sich hatte, flog über Miss Browns Züge. Sie schwieg eine Weile, aber dann sahen wir, wie ihre Lippen Worte bildeten, ohne dass wir einen Ton hörten – »Vater, Mutter, Harry, Archy!« –, darauf schien ein neuer Gedanke einen leisen Schatten über ihren sich verdunkelnden Geist zu werfen: »Aber du wirst allein sein – Jessie!«

Miss Jessie schien dies während des ganzen Schweigens gedacht zu haben, denn die Tränen stürzten ihr bei diesen Worten über die Wangen, und sie konnte nicht gleich antworten. Dann aber faltete sie die Hände fest zusammen, und sie emporhebend, sagte sie – jedoch nicht zu uns:

»Obgleich Er mich geschlagen hat, will ich Ihm doch vertrauen.«

Wenige Augenblicke später lag Miss Brown still und ruhig da, und alles Murren und Klagen war zu Ende.

Nach dieser zweiten Trauerfeier bestand Miss Jenkyns darauf, dass Miss Jessie bei ihr bleibe, statt in das verödete Haus zurückzukehren, das, wie wir hörten, jetzt auch aufgegeben werden musste, da sie nicht die Mittel besaß, dort weiterzuleben. Sie hatte etwas mehr als zwanzig Pfund jährlich, außer den Zinsen, die das Geld für die verkauften Möbel bringen würde: Aber davon konnte sie nicht leben, und so überlegten wir, womit sie wohl Geld verdienen könnte.

»Ich kann feine Näharbeit machen«, sagte sie, »und ich pflege gern Kranke. Ich glaube, ich könnte auch einen Hausstand führen, wenn es jemand mit mir als Wirtschafterin versuchen wollte; oder ich könnte in einem Laden verkaufen, wenn man zuerst Geduld mit mir hätte.«

Miss Jenkyns erklärte mit ärgerlicher Stimme, dass von dergleichen nicht die Rede sein könnte, und redete noch fast eine Stunde lang vor sich hin, »dass manche Leute keine Ahnung hätten, was sie ihrer Stellung als Hauptmannstochter schuldig seien«. Kaum eine Stunde später brachte sie Miss Jessie eine Schale voll delikat zubereitete Pfeilwurzeln und stand wie ein Dragoner vor ihr, bis der letzte Löffel davon verzehrt war, worauf sie verschwand. Miss Jessie begann mir noch etwas mehr von den Plänen zu erzählen, mit denen sie sich beschäftigte, und unwillkürlich kam sie dabei auf alte längst vergangene Zeiten zu sprechen, was mich so interessierte, dass ich darüber ganz vergaß, wie die Zeit verging. Wir schreckten beide auf, als Miss Jenkyns wieder erschien und uns in Tränen fand. Ich fürchtete, sie sei ärgerlich auf mich, da sie oft sagte, dass Weinen die Verdauung störe, und ich wusste, dass sie hoffte, Miss Jessie würde wieder kräftiger werden; aber statt dessen sah sie aufgeregt und verwirrt aus und wirtschaftete um uns herum, ohne ein Wort zu sagen. Endlich fing sie an zu sprechen. »Ich habe soeben einen großen Schreck gehabt – nein, keinen Schreck –, hören Sie nicht auf mich, liebe Miss Jessie – ich war nur sehr überrascht – denn, kurz und gut, ich hatte eben einen Besuch, einen Herrn, den Sie früher kannten, meine liebe Miss Jessie …«

Miss Jessie wurde erst kreidebleich und dann feuerrot und blickte erregt zu Miss Jenkyns auf.

»Ein Herr, meine Liebe, der wissen möchte, ob Sie ihn sehen wollen.«

»Es ist? Es ist doch nicht –«, stammelte Miss Jessie und kam nicht weiter.

»Hier ist seine Karte«, sagte Miss Jenkyns und gab sie ihr. Während Miss Jessie sich darüberbeugte, machte Miss Jenkyns mir die sonderbarsten Zeichen und suchte sich mir durch ein lebhaftes Spiel der Lippen verständlich zu machen, aus dem ich natürlich nichts entnehmen konnte.

»Darf er heraufkommen?«, fragte sie dann endlich.

»O ja, gewiss!«, sagte Miss Jessie, als ob sie damit ausdrücken wollte: ›Dies ist Ihr Haus, und Sie können jeden Besucher nach Ihrem Ermessen einlassen.‹ Dann nahm sie ein Strickzeug von Miss Matty in die Hand und fing an, eifrig zu stricken, aber ich konnte sehen, dass sie am ganzen Körper zitterte.

Miss Jenkyns klingelte und sagte dem Mädchen, sie möchte Major Gordon heraufführen; gleich darauf trat ein großer stattlicher Mann ein, mit offenem, freimütigem Gesicht, etwas über vierzig Jahre alt. Er schüttelte Miss Jessie die Hand, konnte ihr aber nicht in die Augen sehen, da sie den Blick fest auf den Boden gerichtet hielt. Miss Jenkyns fragte mich, ob ich ihr nicht helfen wollte, die Einmachgläser in der Vorratskammer zuzubinden, und obgleich Miss Jessie mich am Rock zupfte und mich sogar flehenden Auges ansah, wagte ich doch nicht, Miss Jenkyns’ Aufforderung abzulehnen. Statt aber Einmachgläser in der Vorratskammer zuzubinden, gingen wir in das Speisezimmer, um zu plaudern; dort erzählte mir Miss Jenkyns, was Major Gordon ihr eben gesagt hatte; dass er im selben Regiment mit Hauptmann Brown gedient und Miss Jessie als reizendes blühendes Mädchen von achtzehn Jahren kennen gelernt; wie die Bekanntschaft sich seinerseits in Liebe verwandelt, obgleich Jahre verstrichen, ehe er sich aussprechen konnte; wie er dann, als er von einem Onkel einen hübschen Besitz in Schottland geerbt, seinen Antrag gemacht hatte und abgewiesen worden sei, aber mit so viel Aufregung und augenscheinlicher Betrübnis, dass er überzeugt war, ihr nicht gleichgültig gewesen zu sein; und wie er dann herausgefunden hatte, dass das Hindernis in dem schweren Leiden lag, das schon damals ihre Schwester bedrohte. Sie hatte erwähnt, dass die Ärzte große Schmerzen voraussagten, und es war niemand da, der ihre arme Mary pflegen und den Vater während der Krankheitszeit trösten und aufheitern konnte. Sie hatten lange Unterredungen darüber gehabt, und als sie ihm nicht versprechen wollte, seine Frau zu werden, wenn alles vorüber sein würde, war er böse geworden, hatte alles abgebrochen und war ins Ausland gegangen, da er sie für eine kaltherzige Person hielt und zu dem Schluss kam, dass es das beste sei, sich die ganze Sache aus dem Kopfe zu schlagen. Er war im Orient gereist und gerade auf der Heimfahrt, als er zufällig in Rom Major Browns Todesnachricht im »Galignani« las.

In diesem Augenblick stürzte Miss Matty, die den ganzen Vormittag ausgewesen und soeben nach Hause gekommen war, mit allen Zeichen des Schreckens und des verletzten Schicklichkeitsgefühls zu uns herein.

»O du meine Güte!«, rief sie aus. »Deborah, im Salon sitzt ein Herr und hat den Arm um Miss Jessies Taille geschlungen!« Miss Mattys Augen sahen ganz groß aus vor Entsetzen.

Miss Jenkyns schleuderte ihr sofort die Worte entgegen: »Der passendste Platz auf der Welt für seinen Arm. Geh nur hinaus, Mathilde, und bekümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten!« Dies von ihrer Schwester zu hören, die stets ein Muster weiblichen Dekorums für sie gewesen, war ein harter Schlag für die arme Miss Matty, und doppelt erschreckt verließ sie das Zimmer.

Das letzte Mal, als ich die arme Miss Jenkyns wieder sah, war viele Jahre später. Mrs. Gordon hatte warme und herzliche Beziehungen zu allen in Cranford aufrechterhalten. Miss Jenkyns, Miss Matty und Miss Pole waren zu Besuch bei ihr gewesen und kamen mit wunderbaren Berichten über ihr Haus, ihren Gatten, ihre Kleidung und ihr Aussehen zurück. Denn mit dem Glück war auch etwas von ihrer ehemaligen blühenden Jugendlichkeit zurückgekehrt; sie war tatsächlich ein paar Jahre jünger, als wir angenommen hatten. Ihre Augen waren immer sehr schön gewesen, und für Mrs. Gordon waren auch die Grübchen nicht mehr unpassend. Zu der erwähnten Zeit, als ich Miss Jenkyns zum letzten Mal sah, war diese Dame alt und schwach und hatte etwas von ihrer Energie verloren. Die kleine Flora Gordon war bei den Schwestern Jenkyns, und als ich kam, las sie gerade Miss Jenkyns etwas vor, die schwach und sehr verändert auf dem Sofa lag. Flora legte den »Rambler« hin, als ich eintrat.

»Ach«, sagte Miss Jenkyns, »Sie finden mich sehr verändert, meine Liebe. Ich kann nicht mehr so gut sehen wie früher. Wenn Flora nicht hier wäre, um mir vorzulesen, dann wüsste ich kaum, wie ich den Tag herumbringen sollte. Haben Sie jemals den ›Rambler‹ gelesen? Es ist etwas ganz Wundervolles und das Beste und Lehrreichste, was Flora lesen kann« – was es auch vielleicht gewesen wäre, wenn sie die Hälfte der Worte ohne Buchstabieren hätte lesen können und den Sinn jedes dritten Wortes verstanden hätte –, »besser als das sonderbare alte Buch mit dem kuriosen Namen, durch dessen Lektüre der arme Hauptmann Brown getötet wurde – das Buch von Mister Boz, Sie wissen doch – ›Old Poz‹; als ich ein junges Mädchen war, aber das ist lange, lange her – da spielte ich die Rolle der ›Lucy‹ im ›Old Poz‹.« – Sie plapperte genügend lange weiter, dass Flora sich ein gutes Stück in die »Christmas Carol« hineinbuchstabieren konnte, die Miss Matty auf dem Tische liegengelassen hatte.

Cranford

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