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Kapitel 4
ОглавлениеAntonia
Gähnend reibe ich mir über die Stirn und lehne mich in meinem Stuhl zurück. In unserem Büro, in dem mehrere Kollegen ihre Schreibtische haben, ist immer viel los. Telefone klingeln, Drucker werden bedient und die Tastaturen der Computer teilweise regelrecht verdroschen.
Doll telefoniert gerade mit einem Kollegen aus einem anderen Revier, der gleichzeitig auch sein Schwager ist. Bei dem Gespräch zieht Doll eine bittere Miene. »Hm«, brummt er, als er das Gespräch beendet. Er hat seinen speziellen, nachdenklichen Blick aufgelegt, bei dem eine Ader an der Stirn deutlich hervortritt.
Ich hebe den Kopf und sehe Doll fragend an. »Was hat Jason erzählt?«
»Kannst du dich noch an den Donovan-Smith-Vergewaltigungsfall erinnern?«
Als ob ich vergessen könnte, dass vier Schweine, die das Leben zweier junger Frauen zerstört haben, aufgrund eines Verfahrensfehlers auf freiem Fuß sind.
»War das nicht Andrews Fall?«, wirft ein älterer Kollege ein, der umgehend einen giftigen Blick von mir erntet. Allein der Klang seines Namens verursacht einen schmerzhaften Knoten in meiner Magengegend. Ich weiß nicht, ob es jemals aufhören wird, so wehzutun, wenn ich an meinen Noch-Ehemann erinnert werde.
»Es gibt auf seinem Revier noch jede Menge anderer Polizisten«, sage ich bissig und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Doll. »Was ist? Sag mir nicht, es gibt eine weitere Vergewaltigung.«
»Also die vier werden anscheinend niemanden mehr etwas tun.«
Verwirrt runzle ich die Stirn. »Wie meinst du das?«
»Sie sind alle spurlos verschwunden. Am Donnerstagabend wurden sie zusammen in einer Bar gesehen. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen mehr von ihnen.«
Die vier werden wohl nicht zu einem geheimen Urlaub aufgebrochen sein und auch versteckt halten sie sich sicher nicht. Menschen wie sie empfinden keine Reue. »Meinst du, jemand hat sich an ihnen gerecht?«
Doll hebt die Schultern. »Wäre möglich, aber wer? Die Donovans haben nach dem Prozess die Stadt verlassen. Soweit ich weiß, sind sie jetzt irgendwo in Alaska. Sie können es also nicht gewesen sein. Die Angehörigen von Nina Smith haben alle sichere Alibis.«
»Ich glaube, ich will gar nicht wissen, was mit ihnen passiert ist.« Auch wenn das gegen meine ethischen Grundprinzipien als Polizistin verstößt.
»Die Vorfälle häufen sich. Immer wieder werden vor Gericht Angeklagte wegen Formfehlern oder aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Und immer wieder sind diese Leute kurze Zeit später verschwunden.«
Tief sauge ich den Atem ein. Was Doll sagt, ist mir auch schon längst aufgefallen. Es scheint, als würde es sich jemand zur Aufgabe machen, jene Leute zur Strecke zu bringen.
Das Klingeln meines Telefons reißt mich aus meinen Gedanken. »Detective Verdella«, melde ich mich in der Hoffnung, es gäbe etwas Neues zu unserem Fall.
Eine raue Stimme ertönt am anderen Ende der Leitung. »Hier ist Officer Bensen. Wir haben Linda Stone gefunden.«
Abrupt richte ich mich auf. »Wo?«
»Wir haben sie in einem Park aufgegriffen, als sie ziellos umhergeirrt ist.«
Ich werfe einen Blick auf die Uhr meines Displays. Es ist Stunden her, seit wir bei den Stones waren. Die junge Frau muss völlig durchgefroren sein. »Ist sie vernehmungsfähig?«
»Ja, es geht ihr so weit gut. Wir bringen sie jetzt zu euch.«
Doll sieht mich aus großen Augen an, als ich den Hörer wieder auflege. »Unsere Tatverdächtige wurde gefunden?«
Ich nicke. »Sie wird gleich hier sein.«
»Dann hoffen wir mal, dass sie nicht ihrer Mutter begegnet.«
Vor meinem geistigen Auge erscheint das Bild einer völlig aufgelösten Frau, die nicht imstande gewesen ist, ohne fremde Hilfe auch nur einen Schritt zu gehen. »Sie kommt auch her?«
»Ja, ich habe vorhin mit dem Krankenhaus telefoniert. Sie ist wieder vernehmungsfähig.«
Erleichtert atme ich auf. Es zerreißt mir jedes Mal aufs Neue das Herz, wenn ich sehe, wie Eltern um ihre Kinder trauern. Dieses Gefühl werde ich niemals ablegen können.
Doll und ich warten gerade einmal zwanzig Minuten, bis zwei Officers Linda in einen unserer Verhörräume bringen. Wie versteinert sitzt sie auf einem der schwarzen Stühle und starrt auf den Tisch. Ihre hellblaue Jeans, die graue Jacke sowie ihre Hände sind voller Blut. Auch an ihrer Wange klebt etwas davon. Selbst ihre blonden Locken sind auf der linken Seite mit Blut benetzt.
Vorsichtig trete ich an die junge Frau heran und setze mich ihr gegenüber, während Doll sich wie ein Bär mit verschränkten Armen neben mich hinstellt.
»Miss Stone«, beginne ich leise zu sprechen. »Ich bin Detective Verdella, das ist mein Kollege Dollmann. Können Sie uns sagen, was letzte Nacht bei Ihnen zu Hause passiert ist?«
Die junge Frau löst sich aus ihrer Starre und beginnt fürchterlich zu zittern. Ihr Blick verharrt dabei auf dem eisernen Tisch. »Ich habe Luisa nicht getötet.«
»Wieso sind Sie dann geflüchtet?«, fragt Doll harsch.
»Weil ich Angst hatte, verhaftet zu werden.«
»Sie sind voller Blut und wurden mit dem Opfer im Arm gefunden. Was glauben Sie, wie das wirkt?«
Langsam hebt sie ihren Blick. Tränen sammeln sich in ihren blauen Augen. »Ich war es nicht.«
»Beginnen wir doch von vorn«, schlage ich in einem ruhigen Ton vor. »Was ist gestern Abend geschehen?«
Sie wischt sich die nassen Perlen aus dem Gesicht. »Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich kam nach Hause und als ich meine Jacke ablegen wollte, habe ich ein Geräusch gehört, welches von oben kam.«
»Um welche Uhrzeit sind Sie heimgekommen?«
Sie sieht zur Decke, um weiteren Tränen Einhalt zu gebieten. »Das war so kurz vor halb zehn. Ich war bei einem Treffen meiner Selbsthilfegruppe.«
Reflexartig wandert eine Augenbraue von mir nach oben. »Was für eine Selbsthilfegruppe ist das denn?«
Miss Stones Gesichtsausdruck ist von Verzweiflung geprägt, als sie mir in die Augen schaut. »Sie ist für ehemalige Drogensüchtige und Leute, die von dem Zeug wegkommen wollen.«
Ein leises Ächzen entweicht Dolls Kehle und ich kann förmlich den Stempel auf Lindas Stirn sehen, den er ihr gerade aufdrückt. Mit ihrem Drogenproblem stößt Linda bei ihm auf einen wunden Punkt. Mich jedoch beeindruckt es, dass sie es von allein erzählt und so offen damit umgeht.
»Ich sage Ihnen das, weil Sie es früher oder später sowieso herausfinden würden«, erklärt sie, als könne sie meine Gedanken lesen. »Aber bitte verurteilen Sie mich dafür nicht.«
»Das tun wir nicht«, spreche ich zumindest für mich. »Miss Stone, was für eine Art Geräusch haben Sie gehört?«
»Es war ein Poltern und irgendwie hatte ich sofort ein seltsames Gefühl.«
»Wieso?«
»Es hätte eigentlich niemand im Haus sein dürfen. Mom war bei einer Ausstellung, Dad wieder einmal auf Geschäftsreise und Luisa wollte bei einer Freundin übernachten. Es blieb also nur noch Lanzelott.«
Meine fragenden Blicke treffen auf Dolls versteinerte Miene. Es ist höchst interessant zu hören, dass Luisa eigentlich hätte gar nicht im Haus sein sollen. Doch mit dem anderen Namen kann ich nichts anfangen. »Wer ist Lanzelott?«
»Moms Kater. Ich dachte, er habe vielleicht etwas umgestoßen. Zumindest im ersten Moment, dann kam er mir miauend aus dem Wohnzimmer entgegen.«
»Okay. Wie ging es weiter?«
»Ich habe gerufen, ob jemand zu Hause ist, aber es kam keine Antwort, also ging ich nach oben. Die Tür zum Arbeitszimmer stand einen Spalt breit offen. Das hat mich gewundert, denn normalerweise ist sie immer geschlossen. Mein Vater legt da sehr großen Wert drauf, damit Lanzelott nicht ins Zimmer und eine seiner wertvollen Vasen zerstören kann.«
»Brannte im Zimmer Licht?«, will ich wissen.
Die junge Frau schüttelt den Kopf. Das Reden fällt ihr zunehmend schwerer. »Es war dunkel, ich habe das Licht eingeschaltet und dann …« Ihre Stimme verebbt und sie bricht in Tränen aus.
Was ich hier sehe, ist wahre Trauer. Der Tod ihrer Schwester erschüttert sie sehr. Zu sehr, meines Erachtens nach, um sie wirklich noch als Täterin sehen zu können. Aber in meinem Beruf sind mir schon viele grandiose Schauspieler begegnet. Man darf niemals jemandem leichtfertig glauben.
Ich gebe Linda etwas Zeit, um sich zu beruhigen, aber Doll ist nicht so geduldig. Ich spüre seinen schweren Atem, hebe jedoch schnell die Hand und er schluckt seine Worte tatsächlich herunter. Kopfschüttelnd, aber immerhin.
»Was ist dann gewesen, Miss Stone?«, frage ich, als sie sich wieder etwas gefangen hat.
Ihr Körper bebt noch und sie wischt sich abermals die Tränen aus dem Gesicht. »Bitte, nennen Sie mich Linda.«
Ich spüre Dolls stechenden Blick im Genick, auch wenn ich ihn nicht sehe. Er hat mich schon mehr als einmal davor gewarnt, zu persönlich bei einem Fall zu werden. Doch in dieser Sache bin ich unbelehrbar. »In Ordnung, Linda, bitte erzählen Sie uns, was dann passiert ist.«
»Dann habe ich Luisa gesehen. Sie lag am Boden, blutüberströmt. Irgendetwas steckte in ihrem Rücken. Ich habe erst später bemerkt, dass es Vaters Brieföffner war. Gott, das war so schrecklich.« Sie atmet tief durch, sieht noch einmal zur Decke und dann auf mich. Ihre blauen Augen signalisieren Trauer, Wut und Verzweiflung. »Ich bin zu ihr hingerannt und habe den Brieföffner rausgezogen. Ich habe dabei nicht nachgedacht. Ich hoffte nur, dass ich ihr noch irgendwie helfen kann.« Lindas ganzer Körper zittert ununterbrochen, ihr Brustkorb hebt und senkt sich rasend schnell und ihr Blick irrt immer wieder ziellos umher. »Ich habe sie umgedreht, geschüttelt und ihren Namen geschrien, aber sie hat sich nicht bewegt. Sie war tot. Ich habe sie an mich gedrückt und im nächsten Moment stand plötzlich Mom in der Tür. Sie fing gleich an zu schreien: Du hast sie umgebracht! Ohne mich zu fragen, was passiert war. Sie lief sofort zum Telefon und rief die Polizei.«
»Und dann sind Sie geflohen«, brummt Doll.
Lindas Augen weiten sich. »Ja, aus Angst. Aber ich schwöre Ihnen, ich war es nicht!«
»Das hören wir ziemlich oft.« Dolls schroffer Tonfall lässt Linda etwas in sich zusammensacken.
»Sie glauben mir nicht«, wispert sie schmerzerfüllt.
Ich weiß nicht wieso, aber bei ihr habe ich das starke Gefühl, dass sie uns nichts vorspielt. Ihre Trauer kommt von innen, das kann ich spüren. Aber wenn ich mich momentan von einer Sache nicht leiten lassen sollte, dann von meinen Gefühlen.
Doll steht weiterhin wie ein Felsen neben mir. »Sie wurden immerhin von Ihrer Mutter auf frischer Tat ertappt.«
Linda schüttelt den Kopf so energisch, dass ihre Locken hin- und herwedeln. »Nein, sie hat gesehen, wie ich Luisa in meinen Armen gehalten habe, und hat die Situation komplett falsch gedeutet. Sie ließ mir keine Möglichkeit, mich zu erklären.« Erneut schluchzt sie auf. Ihr Blick wirkt völlig verloren. Tränen rinnen ihre Wangen herab und lösen tiefes Mitgefühl in mir aus. »Ich hätte Luisa niemals etwas antun können. Sie war doch alles, was ich noch hatte.« Wieder weint Linda bitterlich. Dieses Mal dauert es etwas länger, bis sie sich wieder beruhigt. »Wissen Sie, für meine Familie bin ich das schwarze Schaf. Ich habe lange Zeit Drogen genommen und viel Alkohol getrunken, aber das habe ich alles hinter mir gelassen.«
»Sie sind also clean?«, fragt Doll in einem abwertenden Tonfall, der mir sauer aufstößt. Die Tatsache, dass Linda einmal drogenabhängig gewesen ist, lässt ihn alles Mitgefühl ausblenden.
Linda nickt energisch. »Ja, seit einem halben Jahr habe ich nichts mehr genommen und keinen Schluck Alkohol mehr getrunken. Ich weiß, das klingt für Sie nach noch keiner langen Zeit, aber ich bin auf dem richtigen Weg. Ich gehe regelmäßig zu meiner Selbsthilfegruppe und habe vor ein paar Wochen sogar damit begonnen, mir einen Ausbildungsplatz zu suchen. Ich will mein Leben endlich in den Griff kriegen. Luisa war die Einzige in unserer Familie, die mich nicht schon längst als Junkie abgestempelt hatte. Sie hat mich immer in Schutz genommen und wollte mir sogar bei der Ausbildungssuche helfen. Wieso hätte ich sie also umbringen sollen?«
Wenig beeindruckt hebt Doll seine breiten Schultern. »Sagen Sie es uns.«
Linda senkt ihren Blick, so, als würde sie die Antwort auf dem Fußboden suchen.
»Fällt Ihnen denn jemand ein, der einen Grund gehabt hätte, Ihre Schwester zu töten?«, sage ich einlenkend. Ich bin kein Freund des Spiels guter Cop, böser Cop und so langsam könnte sich Doll aus seiner starrsinnigen Haltung lösen. Linda erweckt den Anschein, als würde sie gleich zusammenbrechen, wenn sie nicht einen Hauch von Hoffnung bekommt. Das weiß er so gut wie ich, nur interessiert ihn das wenig.
»Nein.«
Doll gibt noch ein Geräusch von sich, welches ich irgendwo zwischen Ächzen und Grollen einordnen würde, und läuft zielstrebig zur Tür. »Sie werden vorläufig hierbleiben.«
Erschrocken reißt Linda ihre Augen auf. »Aber ich war es nicht!«
Ich erhebe mich von meinem Stuhl und sehe Linda direkt in die Augen. »Wenn das wirklich so ist, dann werden wir das herausfinden.«
In ihrem Gesicht lese ich pure Verzweiflung. »Werden Sie denn überhaupt ermitteln?«
»Natürlich«, antworte ich energisch. »Das ist schließlich unser Job.«