Читать книгу Und wer küsst mich? - Ellen Sander - Страница 5
Der Messie
ОглавлениеDas Telefon klingelte mal wieder und als ich abnahm scholl mir ohne Vorwarnung lautest Gegacker ins Ohr:
»Pooooookpockpockpockpock!«
Sich so am Telefon zu melden war Chrissies Markenzeichen und ich retournierte sogleich:
»Ach, Frau Braaatbecker – das verrückte Huhn ist wieder dran! Chrissie, was machen die Männer?«
»O, das Geschäft floriert!«
Chrissie ist um einige Jahre jünger als ich und meine Verbindung zur Young Generation mit allem was dazu gehört: Parties, Piercings – ob im Ohr oder Intimbereich – Körperrasur-Kult und chatten in Internet-Partnerbörsen.
»Dieses Wochenende bekomme ich Besuch von einem gaaanz heißen Modell«, Chrissie sprudelte nur so vor Begeisterung. »Er ist Fünfunddreißig Jahre, lebt in Frankfurt, ledig, ein Kind mit seiner Ex – waren aber nicht verheiratet – und arbeitet selbständig in der IT-Branche. Habe ich im Internet bei www.find_mich.de aufgerissen. Ich maile dir gleich mal seine Bilder rüber – soooo süß.«
Diese Beschreibung passt so gut wie auf jede von Chrissies Bekanntschaften. Ich kann die Typen nicht auseinander halten. Meist haben sie sehr kurz geschorene Haare, einen durchtrainierten Körper, somit kräftige Oberarme mit mindestens einem Tattoo – wie gesagt: Tattoos, Piercings und abrasierte Schamhaare.
»Wir schreiben uns seit einer Weile und telefonieren seit zwei Wochen täglich. Der Typ ist ganz heiß und will unbedingt kommen.«
»Aber doch nicht in dir?« wollte ich wissen. Ich dachte mit dieser Anzüglichkeit könnte ich Chrissie provozieren, aber Sie antwortete ganz entspannt:
»Ella, du weißt doch, dass ich mit den Typen nicht ...«
Genau das wusste ich nicht und hakte ein:
»Eigentlich weiß ich nicht, was du mit den Typen machst und was nicht. Ich verstehe nämlich deine Definition von ‚Mit jemand schlafen’ und ‚Nicht mit jemand schlafen’ nicht genau. Du gehst doch mit den Typen ist Bett, richtig? Und da geht auch was, auch richtig? WAS?«
»Ella Schätzchen, das erkläre ich dir mal in Ruhe bei einem Gläschen Prosecco. Aber wie sieht es denn bei dir aus? Alles fit im Schritt?«
»Chrissie, also bitte!«, entgegnete ich gespielt empört. »Nein, bei mir geht gar nichts. Ich bin mein eigener Held. Dank deines Tipps bezüglich dieser ‚speziellen’ Bestelladresse im Internet habe ich auf Batteriebetrieb umgestellt.«
»Meine liebe Elli, dann hör auch weiterhin auf dein Chrissielein und bestell dir deine Typen ebenfalls im Internet. Mit einem ECHTEN Kerl macht es doch viel mehr Spaß im Bett!«
Wahrscheinlich hat Chrissie Recht, denn auf meine letzten noch auf traditionellem Wege gemachten Männerbekanntschaften zurückblickend wurde mir klar, dass es an der Zeit war, neue Wege zu beschreiten.
Eine dieser traditionellen Bekanntschaften war beispiels-weise der ältere, etwas verhuschte Typ, den ich bei einer Ausstellungseröffnung kennen gelernt hatte. Er trug einen Dries van Noten-Designeranzug und eine von Intellektuellen gern getragene Hornbrille, die den Eindruck vorhandener Intelligenz vermitteln sollte.
Ich kann nicht einmal sagen, dass mir dieser grauhaarige Mann schlürfenden Schrittes zugelaufen wäre. Nein, ICH bin auf IHN zugegangen und habe ihn angesprochen. Was hatte mich dazu bewogen? Was reizte mich an ihm? Ich fand ihn anziehend, so viel war klar, aber erklären konnte ich es mir nicht.
Vielleicht hatte ich nur Mitleid mit ihm, weil er einsam wirkte. Das muss es gewesen sein, denn wo immer ich ihn zuvor schon mal gesehen hatte, war er allein. Ein einsamer Mann also, der meiner Gesellschaft bedurfte. Und dieser einsame Mann hatte in seinem mehr als Fünfzig Jahre währenden Leben schon eine Menge erlebt und hatte viel zu erzählen, was ich außerordentlich spannend fand.
Er wusste sehr viel über Design, Architektur und Kunst – Themen, für die ich mich ebenfalls begeistern konnte. Seine Erzählungen sein Leben betreffend blieben allerdings immer bruchstückhaft und ließen Raum für Interpretation. Wenn es um seine Familie ging tat er sehr geheimnisvoll und beschränkte sich auf Andeutungen. Nur ganz nebenbei erwähnte er seine antiken Erbstücke.
Er hatte es offensichtlich »nicht nötig« arbeiten zu gehen – er lebte von dem Geld, das seine Vorfahren bereits erarbeitet hatten. Kellner, für ihn ‚Personal’, behandelte er ‚einem Mann seines Standes’ entsprechend herablassend. Sein Motto war: »Wer die Regeln kennt, kann sie auch brechen.« Ich persönlich fand den Ausspruch dumm und sein Benehmen flegelhaft.
Nach all seinen Erzählungen und seinem distinguiertem Gehabe war ich natürlich unglaublich neugierig darauf, seine Wohnung zu besichtigen. Ich stellte mir vor, eine hochherrschaftliche, großzügige und durch und durch stylische Junggesellenwohnung würde mich erwarten. Aber nein. Weit gefehlt. Ein winziges Appartement in einem unscheinbaren Fünfziger-Jahre Mehrfamilienhaus nannte der selbsternannte Design-Papst sein Reich. Die gebrauchen Kaffeetassen im Wohnzimmer standen sicherlich nicht erst seit ein paar Tagen dort. An der Wand unverputzte Bohrlöcher des Vor- und Vor-Vormieters. Tatsächlich war auch eine »antike« Kommode da, die allerdings definitiv bessere Zeiten gesehen hatte und der eine Auffrischung mehr als gut getan hätte. An Stelle eines Bettes nur eine Matratze auf dem Boden – dreckige Bettwäsche, verstaubte Zeitungsstapel, vergilbte Gardinen. Es roch nach altem Zigarrenrauch und überall flogen Kleidungstücke rum. Ein Messie hätte nicht chaotischer hausen können.
Und dann das Bad: Mon dieu! Mit dem angeschimmelten Duschvorhang hätte ich niemals Freundschaft schließen und die Dusche teilen können. Das war zu viel. Adieu!