Читать книгу Und wer küsst mich? - Ellen Sander - Страница 6
Mr. Top of the Flops
ОглавлениеIm Nachhinein betrachtet glaube ich, dass mich der Messie magisch anzog, weil er mich an meinen Ex erinnerte. Beide waren schrullige Einzelgänger. Da stellt sich natürlich die Frage, warum mich ‚schrullige Einzelgänger’ anziehen, wo ich doch offiziell nach ‚liebevollem Familienvater’ suche. Aber so ist das wohl – man macht seine Erfahrungen und Fehler. Und den Fehler zu glauben, man könnte Einzelgänger bekehren, werde ich nach der Erfahrung mit meinem Ex bestimmt nicht wiederholen.
Diesen Fehler beging ich tatsächlich nicht noch mal, dafür aber einen anderen. Hätte ich den Spruch ‚Männer, die man sich angelt, haben einen Haken.’ schon vorher gehört, hätte ich die Finger davon gelassen. Mir wäre zwar etwas entgangen, dafür aber auch einiges erspart geblieben. So aber hat Thomas, ein Immobilien-Makler aus Hamburg, eine wahrhaft unschöne Kerbe in meinem Designergürtel hinterlassen. Das Schicksal nahm seinen Lauf, als an einem drögen Sonntagabend mit einem noch drögeren Fernsehprogramm das Telefon klingelte und ich die aufgeregte Stimme von meiner Freundin Kiki vernahm:
»Hallo Sonnenschein! Hier ist Kiki!«
Ich kam nicht mal mit einem »Hallo« dazwischen, schon schnatterte Kiki weiter:
»Ella, halt dich fest! Du kannst dich doch noch an den großen Blonden von meiner letzten Atelierparty erinnern!?«
Meine allerliebste Kiki ist Malerin, lebt mit ihrem Freund der ebenfalls Maler ist in Hamburg und an ihre letzte Atelierparty sowie den großen Blonden konnte ich mich nur zu gut erinnern. Kiki und ich hatten im Anschluss an die Party ausgiebig bedauert, dass er seit mehr als 10 Jahren in fester Beziehung mit einer gewissen Ulla lebt, denn wir fanden er würde ausgesprochen gut zu mir passen.
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Natürlich kann ich mich an den erinnern!« erwiderte ich. »Du sprichst von Thomas, richtig?«
»Richtig. Ella, halt dich fest. Er ist wieder zu haben!«
»Nein!«
»Doch!«
»Nein?«
»DOCH!«
»Drei, zwei, eins ... meins!«
Verheiratete Männer, egal wie locker der Ehering auch sitzt, und Männer in festen Beziehungen sind selbstverständlich tabu. Thomas dagegen war jetzt Single und somit zum ‚Abschluss’ freigegeben. Kiki und ich waren uns einig, dass wir von nun an nichts mehr dem Zufall überlassen durften.
Wir wussten, dass Single-Männer um die Vierzig mit gutem Job und ohne Altlasten – so nennt man Ex-Frauen und Kinder an die noch Geldmittel fließen – sehr selten und daher heiß umkämpft sind. Und so klügelten wir einen 3-Phasen-Plan aus:
1. Phase: Ködern!
Das Objekt auf mich aufmerksam machen und für mich begeistern. Natürlich war darauf zu achten, dass mir vor Start der nächsten Phase keine Andere in die Quere kommt.
2. Phase: Falle stellen!
Wir mussten eine Gelegenheit schaffen, bei der ich dem Objekt begegnen konnte, ohne dass Konkurrenz in der Nähe wäre, die meinen Plan durchkreuzen könnte.
3. Phase: Falle zuschnappen lassen!
Objekt erlegen und in die Höhle schleifen – Hugga Agga!
Ein paar Tage später erhielt ich von Kiki telefonisch folgenden Rapport:
»Hallo Ella! Melde gehorsamst: Erste Phase erfolgreich abgeschlossen.«
»Es hat geklappt?«, fragte ich ungläubig.
»Ella, unglaublich. Es lief wie am Schnürchen.«
»Erzähl!«
»Also, Thomas war wie geplant gestern Abend zum Essen bei uns. Hmmmm, das war so lecker. Manuel hat Kalbsbrust mit Ciabatta-Füllung gemacht und dazu gab es Artischocken mit Thymian. Und zum Nachtisch ...«
Manuel ist der Lebensgefährte von Kiki, Maler wie sie und leidenschaftlicher Koch – ein ‚Hobby-Paul-Bocuse’. Die Betonung liegt auf ‚Hobby’. Mit ein bisschen mehr Übung würde es vielleicht auch schmecken wie bei Paul Bocuse. Ich erinnerte mich an die rohe Weihnachtsganz – egal, im Moment interessierte mich etwas anderes mehr als die Kochkünste von Manuel.
»Kiki! Komm zur Sache«, fiel ich ihr ins Wort.
»Ja, ja. Ich mache ja schon. Also: Beim ersten Glas Wein fing Thomas, ohne dass ich ihn auf das Thema bringen musste, von sich aus an zu erzählen, wie es zu der Trennung von Ulla kam. Dass sie kein Familienleben leben wollte, so wie er. Und ich konnte einwerfen: ‚Was für ein Zufall. Das ist ja wie bei meiner Freundin Ella!’ Und beim zweiten Glas erzählte er, dass er sich von einer Frau doch nur Nähe, Wärme und Geborgenheit erhofft. Und ich wieder: ‚Also, genau so eine warmherzige Frau ist meine Freundin Ella.’.«
Nur zu gut konnte ich mir Kiki in Aktion vorstellen und musste schmunzeln.
»Oh, Kiki! Hast du nicht ein bisschen zu dick aufgetragen? Deine Absicht wäre doch einem Blinden mit Krückstock aufgefallen.«
»Vielleicht lag es am Wein, aber er schien nichts zu merken. Das war für mich die Chance wirklich dick aufzutragen. Unter dem Vorwand, ihm den neuen Einladungs-Entwurf für meine nächste Ausstellung in München zu zeigen, habe ich ihn an meinen PC gelockt. Und rate mal, wessen liebreizendes Gesicht uns anlächelte, nachdem der PC hochgefahren war.«
»?«
»DEINS! Ich hatte ein Foto von dir als Bildschirmschoner geladen.«
»Kiki, du bist …«
»Und Thomas zu mir: ‚Ist das nicht deine Freundin Ella? Die ist aber hübsch. Und sie ist Single?’«
»Oh Kiki, du bist sooooooo guuut!«
Ja, Kiki ist wirklich die Beste. Was für ein Glück eine solche Freundin zu haben. Seit der Trennung von meinem Ex vor einem halben Jahr ruft sie mich täglich an um zu hören, wie es mir geht. Manchmal ist mir ihre Aufmerksamkeit fast zu viel – geradezu peinlich – und ich versuche die Abstände zwischen den Telefonaten zu vergrößern. Aber Kiki fühlt sich für mich verantwortlich und letzten Endes tut mir jedes einzelne Gespräch unsagbar gut und lassen mich ein bisschen meine Traurigkeit und Einsamkeit vergessen.
Kiki kann es nicht ertragen, wenn ihre Liebsten leiden und somit wird es nicht zuletzt aus Freundschaft zu ihr Zeit, dass ich unter die Haube komme. Also weiter zur zweiten Phase unseres Plans. Telefonisch besprachen Kiki und ich die weitere Vorgehensweise:
»Ella, ich habe nachgedacht. Da du nicht bei uns in Hamburg wohnst und wir auch nicht auf Events hoffen können zu denen wir, vor allem du und Thomas, gemeinsam eingeladen werden, obendrein das Risiko besteht, dass er gar nicht kommt – wir müssen selbst ein solches Event schaffen.«
»Wie denn? Meinst du ich soll eine Party geben und ihn einladen?«
»Das würde auffallen. Nein, Manuel und ich werden einen Kaminabend geben und den Kreis der Gäste sorgsam wählen.«
»Der ganze Aufwand für mich? Aber das kann ich doch nicht annehmen.«
»Doch, du kannst. Besondere Situationen erfordern besondere Maßnahmen. Einer für alle – alle für dich!«
Und so waren wir uns schnell über den Termin und die übersichtliche Gästeliste einig: Unsere gemeinsame Freundin Alexa, das Architektenehepaar Maria und Karl, Gunther der Bildhauer, Arthur der Kunsthistoriker und natürlich die Gastgeber Kiki und Manuel sowie die Special Guests Ella und Thomas. Keine Konkurrenz. Alexa würde zwar ohne ihren Mann kommen, aber ihrer Loyalität konnte ich mir gewiss sein.
»Wirst du bei Alexa übernachten, Ella?«, fragte Kiki.
»Nein, ich denke, dass ich in ein Hotel gehe. Wer weiß wann sich wieder eine Gelegenheit ergibt, darum will ich doch mal sehen, ob sich Phase zwei und drei unseres Plans effizient zusammenlegen lassen.«
Kiki und ich hatten zwischen dem Tag, an dem unser Plan geboren wurde und dem Tag der Ausführung so oft über Thomas gesprochen, und was er gesagt hat und was er sagen könnte und wie er ist und wie wir glauben, wie er sein könnte, dass ich am Tag X gar nicht mehr wusste, was ich da eigentlich tat.
Da war ich nun in Hamburg, abends würde es, was natürlich keiner der Gäste wusste, mir zu Ehren ein »Come Together« geben und dann würde ich alles daran setzen einen Mann zu erlegen, den ich genau genommen gar nicht kannte. Ich konnte mich ja noch nicht einmal mehr richtig daran erinnern, wie er eigentlich aussah. Ich hatte ihn doch nur ein einziges Mal auf dieser Party gesehen.
Aber die Kugel rollt – zu spät sich den hübschen Kopf zu zerbrechen.
»Mein Sonnenschein! Wie schön dich wiederzusehen.« Keine konnte einen stürmischer begrüßen, als Kiki. Die Heftigkeit ihres Begrüßungskusses konnte ich noch rechtzeitig dämpfen, so dass ich von Lippenstiftspuren verschont blieb.
»Ich habe dich so vermisst«, fuhr sie aufgeregt fort und drückte mich fest an sich, um mich sofort danach wieder auf Abstand zu halten: »Lass dich anschauen! Du siehst phantastisch aus. Einfach perfekt. Thomas wird dir zu Füßen liegen.«
Nur, wo bleibt der Mann? Inzwischen sind alle Gäste eingetroffen – außer Thomas. Alexa und ich sitzen vor dem Kamin und entweder die Hitze des Feuers, der Rotwein oder meine steigende Wut der Enttäuschung treiben mir die Röte ins Gesicht. Niedergeschlagen fragte ich Alexa:
»Glaubst du er kommt noch? Er ist schon über eine Stunde zu spät.«
»Ganz bestimmt. Er wird schon kommen«, sagte sie zu mir und an Kiki gewandt: »Kiki, Thomas hat doch zugesagt, oder etwa nicht?«
»Aber ja doch. Ich weiß auch nicht wo er bleibt. Ich kann noch nicht einmal anrufen, denn ich habe seine Handy-Nummer gar nicht. Oder, warte – ich werde Ulla anrufen und sie nach seiner Nummer fragen.«
War aber nicht mehr nötig. Plötzlich stand er da, mit einem Blumenstrauß in der Hand. Er wirkte nervös und leider konnte ich nicht hören, was er zur Begrüßung zu Kiki sagte und ob und wie er sich für sein Zuspätkommen entschuldigte. Aber das war nun auch egal. Hauptsache er war endlich da.
»Und?«, fragte mich Alexa. »Nervös?«
»Komischerweise gar nicht.« Ich nutzte die Gelegenheit Thomas unauffällig und ausgiebig betrachten zu können.
»Alexa?«, fragte ich. »Findest du nicht auch, dass er ganz schön speckig ist?«
»Nein, finde ich nicht.«
»Aber schau mal, er hat doch ein richtiges Doppelkinn.«
»Ich finde er ist genau richtig und nicht so ein dünner Hering wie dein Ex. Thomas ist ein großer, stattlicher Mann. Ihr wärt ein schönes Paar.«
»So, so.« Ich war noch nicht recht überzeugt. Mir fiel ein, dass ich kürzlich noch gelesen hatte, dass 55 Prozent aller Männer um die Vierzig Übergewicht haben und nur 20 Prozent aller Frauen in derselben Altersgruppe. Ich war mir in diesem Moment sicher, dass Thomas zu den 55 Prozent gehört. Als könnte Alexa meine Gedanken lesen fuhr sie fort:
»Und er ist wirklich nett. Glaub mir. Ich habe ihn kürzlich auf der Ausstellungseröffnung von Samuel Reim getroffen und mich lange mit ihm unterhalten. Er steht mit beiden Beinen im Leben, so wie du.«
»Alexa, ich glaube ER ist nervös. Der hampelt so hin und her. Und manchmal schaut er rüber und wenn ich dann aufschaue, sieht er sofort wieder weg. Wahrscheinlich riecht er den Braten.«
»So weit ich weiß hatte er kürzlich einen Bandschadenvorfall. Es könnte sein, dass er noch Schmerzen hat und daher nicht ruhig stehen kann.«
Bandscheibenvorfall? Ein Pflegefall für Schwester Ella?
»Komm Ella, Angriff. Ich gehe zu ihm rüber und du holst dir ein Glas Wein und kommst dann zu uns.«
Ich hatte mich gerade zu Alexa und Thomas gesellt, als der 1,50 Meter große Kunsthistoriker mich 1,80 Meter-Frau um ein Tänzchen bat. Wie hypnotisiert starte er beim Tanzen auf meine Brüste die für ihn auf Augenhöhe lagen. Vermutlich ließ das seinen Testosteron-Spiegel steigen, was das Tier im Manne weckte, denn er vollführte wahrhaft wildes mit mir auf der Tanzfläche. Mir wurde schwindelig und ich musste mich erst einmal setzen. Da hörte ich eine Stimme hinter mir sagen:
»Gehen wir nachher noch zusammen in eine Bar?«
Es war die Stimme von Thomas und er meinte mich. Ich drehte mich halb zu ihm und erwiderte um Gelassenheit bemüht:
»Gern!«
Zweite Phase beendet. Das ging ja einfach. Fast zu einfach. Ich musste auch im Weiteren gar nichts tun, da Thomas das Kommando übernahm. Ging es hier noch um meinen Plan, oder war es schon seiner?
Thomas bestellte ein Taxi. Thomas nahm mich an die Hand und führte mich zur Verabschiedung zu unserer Gastgeberin Kiki. Diese war auf diesen Fall vorbereitet und verzog keine verräterische Miene. Thomas nannte dem Taxifahrer den Namen der Bar, Thomas bestellte beim Barkeeper zwei Gläser Champagner. Dann bestellte er noch zwei Gläser und noch zwei. Thomas bestellte eine ganze Flasche und schon wieder ein Taxi. Thomas nannte dem Taxifahrer den Namen meines Hotels, ich nannte Thomas die Nummer meines Zimmers. Ab hier keine Details – nur so viel: Vom Bandschadenvorfall war nichts zu merken.
Also auch die dritte Phase erfolgreich abgeschlossen. Ich hatte die Nacht aus gegebenem Anlass nicht besonders viel Schlaf bekommen und war ein bisschen angeschlagen. On Top kamen die Auswirkungen des Champagnergenusses und die nun auf mich einprasselnden Kommentare meine Freundinnen, nachdem ich Ihnen klitzekleine Details der letzten Nacht offenbarte.
»Ella, du kannst doch nicht gleich die erste Nacht mit ihm ...!«
»Ella, habt ihr wenigstens ein Kondom benutzt?«
»Ella, ich bin mir sicher, dass wenn eine Beziehung von Dauer sein soll, dann darf man auf keinen Fall gleich die erste Nacht zusammen ...!«
Nicht gleich die erste Nacht? Wie soll ich das machen? Ich weiß was Sex ist, habe jahrelange Praxis und finde ihn phantastisch. Schlimm genug, dass ich mangels Beziehung eine Zwangspause einlegen musste. Kann man von mir Zurückhaltung erwarten, wenn sich mir eine solche Gelegenheit bietet? Man hält doch auch keinem Hund eine Wurst unter die Nase und nimmt sie wieder weg. Aber ich sah ein, dass so etwas nicht sonderlich damenhaft ist und versprach:
»Meine Lieben, sollte ich wieder einmal in dieselbe Situation kommen, werde ich selbstverständlich die Unerfahrene mimen und mich erst nach wochenlangem Werben verführen lassen. Versprochen!«
Aber bis dahin ...
Thomas schien sich nicht so viele Gedanken zu machen, wie meine Freundinnen. Er wollte mich trotzdem – oder gerade deshalb? – umgehend wieder sehen. Und noch am gleichen Tag trafen wir uns nachmittags zum verspäteten Frühstück.
Ich fühlte mich ein bisschen unwohl in meiner Haut, denn mir fehlte mein acht-Stunden-Schönheitsschlaf und ich sah etwas verquollen aus. Mir bestätigt zwar jeder, dass ich gut aussehe und jünger als ich bin, aber ich mache mir nichts vor – nur unter günstigen Bedingungen. Das heißt:
Viel Schlaf – aber nicht zu viel, denn dann sehe ich ebenfalls verquollen aus.
Gedämpftes Tageslicht – nicht zu hell, sonst sieht man jeden noch so kleinen Mitesser und nicht dort hingehörende Härchen im Gesicht.
Kein Kerzenlicht – wirft Schatten und die Augenringe werden verstärkt.
Immer den Kopf gerade halten – bloß nicht nach unten gucken, das macht ein Doppelkinn und die Wangen hängen runter.
Thomas hatte, wie ich ja schon bemerkt hatte, auch ein Doppelkinn und ihm schien das gar nichts auszumachen. Er erinnerte mich an eine Figur aus ‚Asterix und Obelix’. Da gab es einen Centurio – einen Offizier der römischen Legion – der hatte genau so eine Nase wie er mit schmalem langem Rücken. Die Bauchumfänge von Thomas und dem Centurio stimmten ebenfalls überein.
Thomas ist im Besonderen durch seine Größe ein durchaus attraktiver Mann und er wirkt ausgesprochen sympathisch; aber hübsch ist er definitiv nicht. Warum also bin ich so kritisch mit meinem Aussehen und mache mir so viele Gedanken? Ich fing an mich zu entspannen.
Es wurde noch ein sehr netter Nachmittag, dem nach ein paar Telefonaten ein Treffen bei mir zu Hause in Hannover folgen sollte, um uns besser kennen zu lernen. Die Gespräche mit Thomas waren bisher nicht besonders ergiebig und auch seine Nachrichten übers Handy, die SMSse, waren ausgesprochen minimalistisch. So schickte er mir beispielsweise dieses Rätsel:
»4 a.m. home. Lg 2U. T.«
Seit frühester Kindheit war ich durch meinen Vater darauf trainiert, Sätze die er anfing, dann aber nur im Geiste zu Ende sprach, eigenständig zu vollenden.
»Ihr müsst mitdenken«, forderte mein Vater.
So war es für mich ein Leichtes, die SMS von Thomas zu entschlüsseln. Die Übersetzung von »4 a.m. home. Lg 2U. T.« lautet:
»Wurde gestern eine lange Nacht und bin erst um 4.00 Uhr morgens nach Hause gekommen. Liebe Grüße an dich. Thomas.«
So freute ich mich nun auf seinen Besuch und die Gelegenheit, mehr über ihn zu erfahren.
Montagmorgen, halb 9 im Büro – das Telefon:
»Kuckuck, Sonnenschein! Hier ist Kiki!«
»Kiki! Hallo meine Liebe! Wie geht’s dir?«
»Gut, gut. Genug der Höflichkeiten – alles bestens. Spann mich doch nicht auf die Folter. Wie war das Wochenende mit Thomas?«
»Ach, es war eigentlich ganz nett.«
»Ganz nett? Ist das alles?«
»Tja ...« Ich wusste nicht richtig wie ich das Wochenende mit einem Satz beschreiben sollte, daher holte ich aus:
»Freitagabend, das war der Tag, an dem er ankam, da hatten wir einen wirklich schönen Abend. Ich hatte Karten für ein absolut lustiges Theaterstück besorgt – wir haben unglaublich gelacht. Und Samstagabend waren wir in Frau ohne Schatten von Richard Wagner.«
»Umfangreiches Kulturprogramm für ein erstes Date«, bemerkte Kiki.
»Thomas war derjenige der schon im Vorfeld fragte, ob in Hannover eine gute Oper läuft, und darum hatte ich mich um Karten gekümmert.«
»Und hat sie Thomas gefallen?«
»Die Oper? Das weiß ich ehrlich gesagt gar nicht. Wann immer ich mit ihm darüber plaudern wollte, ist er nicht auf das Thema eingestiegen. Duhu ... Kiki?«, fragte ich gedehnt.
»Jaha, was denn?«
»Kann es sein, dass er – wie soll ich sagen? – nicht sonderlich intelligent ist?«
»Thomas?«, fragte Kiki verwirrt. »Dumm? Nein, das glaub ich nicht. Er hat doch studiert. Wie kommst du darauf? Warum fragst du?«
»Er hat mir so begeistert von einer Geschäftsidee erzählt, die gar keine ist. Absolut inhalts- und konzeptlos. Was hat er denn studiert?«
»Tja Ella, das weiß ich eigentlich gar nicht. BWL nehme ich an. Er erzählt doch immer von seiner Studienzeit in Amerika.«
»Oh, das ist auch so eine Sache.«
»Was?«
»Er hat es mit Anglizismen.«
Kiki kicherte: »Die schleichende Veramerikanisierung müsstest du doch aus deiner Firma gewohnt sein von Kollegen, die sich damit den Anschein eines Global-Players geben wollen.«
»Schon, aber Thomas redet großteils NUR Englisch. Und das finde ich sehr albern, als Deutsche in Deutschland mit einem Deutschen Englisch zu sprechen. Schlimmer noch ist aber, dass sich sein Englisch zum Großteil aus, sagen wir … äh ... Fäkalsprache zusammen setzt.«
»Bitte?«
»Wie oft ich dieses Wochenende »Freaking, fucking ...« gehört habe, kann ich nicht mehr zählen.«
»Wie unangenehm!«, sagte Kiki ehrlich empört.
Das war in der Tat unangenehm. Aber nicht nur das. Unangenehm war auch, als Thomas mich fragte, ob ich ihm die Fußnägel schneiden würde. Das ist KEIN Scherz. Er setzte sich mit einer Nagelschere bewaffnet in MEIN Wohnzimmer und als er mich erblickte, bat er mich um Hilfe, denn wegen seines Bandscheibenvorfalls wäre er selbst zu unbeweglich dafür.
Ich war für einem Moment wie gelähmt. Als ich meine Stimme wieder fand erklärte ich ihm, dass es weder Zeit noch Ort, noch ICH die richtige Person für diesen Pflegedienst wäre. Aber irgendwas in mir hielt mich davon ab, dieses peinliche Erlebnis mit Thomas Kiki zu erzählen, und so stimmte ich ihr lediglich aus vollem Herzen zu:
»Ja, das war sogar sehr unangenehm!«
»Ella, Thomas ist sicherlich einfach nur sehr, sehr durcheinander. Die Trennung von Ulla, nach so langer Zeit und der unerfüllte Familienwunsch. Er ist doch so kinderlieb. Darüber hinaus läuft es wohl auch im Job nicht so gut, ein Umstand, der ihn sicherlich frustriert. Er ist einfach nur aus dem Gleichgewicht. Das kommt schon wieder.«
»Meinst du?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Ganz bestimmt. Er ist ein ganz liebenswerter Mensch. Du musst ihm nur ein bisschen Zeit geben und ihn besser kennen lernen. Wie seid ihr denn verblieben? Werdet ihr euch wieder sehen?«
»Er hat mich gefragt, ob ich über die Osterfeiertage mit ihm zusammen nach Sylt fahre.«
»Und, was hast du gesagt?«
»Ich habe erstmal ja gesagt.«
Was sollte ich auch sonst über Ostern machen? Feiertage sind doch der Schrecken aller Singles. Wochentags kann man ja wenigstens noch Shoppen gehen – eine Betätigung, die man sehr gut allein machen kann. Aber was tun an einem Feiertag, wenn alle »in Familie« machen? Da bleiben eigentlich nur das Fitnessstudio, das Museum oder die Depression.
Auf Sylt war es zu Ostern natürlich, wie nicht anders zu dieser Jahreszeit zu erwarten, eisigkalt. Es schien zwar die Sonne, aber es ging eine verdammt steife Brise. Thomas liebt die raue Nordsee und ich das milde Mittelmeer – sieht so die ideale Voraussetzung für eine gute Beziehung aus? Man muss darüber hinaus wissen, dass die Hannoveraner Frauen praktisch die Brasilianerinnen unter den Norddeutschen sind – nicht nur hinsichtlich des Temperamentes, sondern auch wegen der Kälteempfindlichkeit. Und so konnte ich meinen Körper trotz drei übereinander getragener Kleidungsschichten kaum auf überlebensnotwendiger Temperatur halten.
Aber Thomas kehrte immer wieder gern mit mir in eines der vielen Strandlokale ein, wo ich mich am Ofen von außen und er sich mit ein paar Schnäpsen von innen wärmen konnte.
Vor der Reise nach Sylt bekam ich von meinen Freundinnen die Instruktion, dass ich nicht immer gleich das Portemonnaie zücken solle, sondern erst einmal Thomas die Chance gebe, ihn bezahlen zu lassen. Männer brauchen das Gefühl einer Frau was bieten zu können, war die Begründung.
»Männer geben, Frau empfangen – also spiel nicht die Emanze«, bekam ich zu hören.
Emanze? Ich? Ne! Gleichberechtigt, ja. Und partnerschaftlich. Natürlich möchte auch ich die naturgegebene Rolle der Frau mit der entsprechenden Weiblichkeit erfüllen, nur dem Rat meiner Freundinnen folgen würde für mich bedeuten, gegen drei Dinge in mir anzukämpfen:
Erstens meinen Streben nach Unabhängigkeit und dem Gefühl, niemand etwas schuldig sein zu müssen.
Zweitens ist da mein Stolz, der beweisen will, dass ich keine Schmarotzerin bin und selbst genug Geld habe.
Und drittens mein stark ausgeprägter Sinn für Gerechtigkeit, der den finanziellen Ausgleich fordert.
Aber ich bin auch nicht beratungsresistent. Wenn alle meinen, dass es für einen Mann so wichtig ist, dann werde ich sehr weiblich sein und mein Geld für was anderes sparen. Es gibt durchaus schlimmeres.
Tatsächlich hat Thomas sogar darauf bestanden für mich zu bezahlen. Und auch die Kosten für das Hotelzimmer hat er übernommen. Überhaupt war er sehr großzügig.
Das war ausgesprochen ungewohnt für mich. Mein Ex hat die Gleichberechtigung der Frau sehr geschätzt und in der Regel Fifty-fifty abgerechnet. Mein Ex-Ex ist ein paar Jahre jünger als ich und machte gerade sein Abi nach, um auf dem zweiten Bildungsweg zu studieren, als wir uns kennen lernten. Der erste gemeinsame Urlaub ging auf meine Rechnung. Dann habe ich noch die Studienzeit miterlebt und als seine Goldenen Jahre begannen, gingen wir schon wieder getrennte Wege.
Das Hotel, das Thomas ausgesucht hat (Auch eine ganz neue Erfahrung – sonst musste ich immer alles organisieren.) gefiel mir sehr. Es war ein ganz neues, kleines Designer-Hotel. Ich wachte am nächsten Morgen vor Thomas auf und schlich mich schon mal ins Bad. Frisch geduscht, rosig und nach Pfefferminzzahnpasta riechend, kroch ich wieder zu Thomas ins Bett – bestens vorbereitet für sein Erwachen.
Dies lies allerdings noch eine Weile auf sich warten. Er lag tief und fest schlafend auf dem Rücken, schnarchte vor sich hin und blies mir seine Alkoholfahne entgegen. Er hatte den Abend zuvor ganz schön tief ins Glas geschaut.
Nach einer Ewigkeit wachte er auf, grunzte ein »Morgen!«, stand auf und ging ins Bad. Ich nutzte die kurze Gelegenheit in bei Tageslicht betrachten zu können.
Er war extrem blass. Eigentlich sah er wie ein Riesenbaby in Boxershorts aus. Die Beinstellung und die Grübchen in den Knien stützen diesen Vergleich. Lediglich die Haare auf dem Rücken nicht.
Ich konnte hören, wie er den Klodeckel hochklappte. Warum sind die Bäder in Hotelzimmern nur immer so hellhörig? Wie unsexy, wenn man jedes Geräusch mitbekommt. Ob Thomas mich auch gehört hatte, als ich zuvor im Bad war? Nein, beruhigte ich mich, er hat ja noch geschlafen.
Ich hörte wie Thomas das Wasser in der Dusche anstellte und dann hörte ich ... OH, MEIN GOTT! ... ein Geräusch, das aus den Tiefsten seiner Nasennebenhöhlen kam. Arghhh – igitt!
Auf der Rückfahrt von Sylt machten wir bei Kiki und Manuel in Hamburg Halt. Ich wollte die beiden noch mal sehen, bevor ich den nächsten Tag zurück nach Hannover fahren würde.
Wir saßen vor dem Kamin und tranken Wein. Ich erzählte Kiki von Sylt und Thomas und Manuel unterhielten sich über die aktuelle Lage der Immobilienbranche. Es hätte richtig gemütlich sein können, wenn Thomas nicht so viel getrunken hätte und anfing zu stänkern.
Je mehr er trank, je mehr veränderte sich seine Laune. Er schimpfte über das Missmanagement in seinem Unternehmen und die Unfähigkeit der Führungsetage. Zuerst ließ er nur hier und da sein bekanntes »Fuck!« fallen, aber schon bald verfiel er komplett in seine »Freaking fucking-Fäkalsprache«.
Seine verbalen Entgleisungen waren derart widerlich, dass Kiki und ich wie paralysiert waren. Ich versuchte Thomas zu beruhigen und brachte ihm in Erinnerung, dass auch zwei Frauen anwesend wären und er möge doch darauf Rücksicht nehmen. Aber er lies sich einfach nicht bremsen. Unsere Stimmung war dahin.
Mein erster Eindruck von Thomas damals, als ich ihn auf der Atelierfeier von Kiki sah, war der eines sympathischen und attraktiven Mannes mit Potential für eine Partnerschaft. Während unseres Kennenlernens habe ich Einblicke gewonnen, die meinen Eindruck in Teilen bestätigt haben. Er hat eine durchaus liebenswerte und gutmütige Seite. Aber es gibt auch eine dunkle Seite an Thomas, die mich daran hinderte, mich in ihn zu verlieben zu können – die des Alkoholikers.
Hier saß ein fast besinnungslos betrunkener und total frustrierter Mann neben mir. Ihn so zu sehen und zu hören ekelte mich derart, dass ich einen Impuls nicht unterdrücken konnte – den zur Flucht. Thomas, fuck yourself!