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Lille

Oma wartetet schon in der Küche auf mich (wo sonst?) und hatte sich den Vormittag mit der Zubereitung meines Mittagessens verkürzt. Es gab Marillenknödel mit Vanillesauce und zum Nachtisch Joghurt mit Früchten, Nüssen und Honig. Meine Leibspeisen: Da ging für mich die Sonne auf. „Na meine Liebe, wie war dein erster Schultag?“

Ich brachte zwischen den Bissen ein: „Na ja, ging so...“, heraus was sie natürlich neugierig machte und Details verlangte. Also erzählte ich ihr kurz von Sara und dass ich von Christopher einen Plan gezeichnet bekommen hatte, um morgen nicht völlig doof dazustehen.

Oma schüttelte kurz den Kopf und meinte: “Dass die das von der Schule nicht besser organisiert haben. Zu meiner Zeit hatten wir Paten, die uns im ersten Monat herumführten und überall hin mitgenommen haben, so dass man danach dann auch schon jede Menge Leute kannte und wusste, wo man hin musste.“ Sie wollte auch wissen, wie denn die Lehrer so seien und ich erzählte ihr offen von den Typen und sie lachte laut auf, als ich meine imaginäre Brille abrutschen ließ und Frau Maier imitierte: „Na, dann lesen sie mal bis Freitag…“

Nach dem Essen verkrümelte ich mich in mein Zimmer und las genüsslich die 33 SMS, die Judy mir geschrieben hatte. Es waren immerhin 3 mehr als ich in der Zeit hätte tippen können. Ich warf mich an meinen Rechner und klickte mich in mein E-Mailprogramm. Auch dort wartete eine lange Mail von Judy, die sie offensichtlich gestern Abend noch vom Internetcafe geschickt hatte. Ich begann zu schreiben und hatte ihr nach einer Stunde alles soweit erklärt, dass ich die Mail abschicken konnte. Danach setzte ich mich auf mein Bett und kramte nach meinem „Effi Briest“ Buch. Es war durchgehend bunt unterstrichen – mein ganzer Stolz.

Zu jedem Thema hatte ich eine andere Farbe genommen, so dass ich Zitate viel schneller finden konnte. So sahen alle meine Bücher aus, ich konnte nicht anders. Judy hatte sich regelmäßig kringelig gelacht, wenn sie meine kunterbunte Ausgabe in die Finger bekam.

Einmal musste ich in Latein die Lektüre an den Lehrer übergeben und bekam für die Klausur sein ungefärbtes Exemplar, damit Chancengleichheit für alle bestünde, wie er meinte. Danach durfte ich meine eigenen Bücher bei allen Lehrern behalten, denn ich bekam trotzdem 15 von 15 Punkten…Frau Maier würde ich so eine Aktion auch zutrauen.

Plötzlich klingelte mein Handy und ich ging mit Judy noch mal den kompletten Vormittag durch, inklusive genauer Beschreibung von Christopher, der sie am meisten interessierte. Wie Sara aussah, wollte sie nicht wissen. “Wird es was Ernstes?“, war eine der ersten Fragen, die sie mir stellte und ich fragte sie entrüstet, wie sie denn auf so was käme. Daraufhin kam nur ein lakonisches: „Ich kenne dich doch…“ und diesmal hatte ich das erste Mal die Frage im Kopf: „Wie denn, ich kenne mich ja selbst nicht mal?“ Doch zum Fragen kam ich nicht, denn während sie mich zu textete, spähte Oma durch die Tür und fragte, ob ich sie in die Stadt begleiten würde. Es war keine Frage sondern klang eher nach: „Los, komm gleich mit, sonst sind wir zu spät zu unserem Treffen.“ Was auch immer sie vorhatte, sie wollte mich unbedingt dabeihaben. Ich würgte Judy also ab und schaltete das Handy anschließend komplett aus.

Danach warf ich mich in die Gummistiefel und die Regenjacke und stapfte zu Omas Auto. Shopping mit Oma, wer träumte nicht davon. Nachdem ich in den letzten 14 Tagen aber fast täglich die Tour mit ihr hinter mir hatte, fand ich es nicht mehr so erstrebenswert, meine Nachmittage mit Oma zu verbringen. Trotzdem ging auch so die Zeit rum. Meist ging es in diverse Lebensmittelläden, wo sie für den nächsten Tag frisch einkaufte und anschließend trafen wir uns mit Luise, Selma oder Clara oder allen gleichzeitig in Omas Haus- und Hofkonditorei zum ellenlangen Kaffeeklatsch, bei dem die Damen sich rundum gegenseitig einluden. Heute war als wöchentlicher Höhepunkt die Bergische Kaffeetafel gedeckt und ich fragte mich, ob Oma nach dem Berg noch vorhatte, ein Abendbrot zu machen, denn die Zutaten hatten wir vorhin schon gekauft und im Auto verstaut. Ich musste mir schleunigst eine Aktivität für den Nachmittag suchen, wenn ich hier nicht als Hefekloß enden wollte. Selma fragte mich gerade, ob ich eigentlich Sport treiben würde und ich erzählte ihr, dass ich zu Hause schon seit 3 Jahren Handball spielte. Die Damen nickten. Handballvereine gab es hier im Ort sogar zwei und da wären die Jungs auch nicht so schlaksig wie beim Basketball. Eine sehr gute Wahl. Ich fragte mich, was ich jetzt von dieser Bemerkung halten sollte und wurde im Voraus rot. Oma schlug gleich vor, morgen doch mal diese Sara zu fragen, welcher der Vereine besser sei. Ich war kurzfristig irritiert, dass auch sie mich offensichtlich loswerden wollte, vielleicht konnten die Damen ohne mich hemmungsloser schlemmen? Ich würde Sara morgen in der Pause fragen, wenn Zeit wäre.

In der Nacht träumte ich das erste Mal von ihm. Ich fuhr mit meiner Vespa zur Schule, als plötzlich von rechts ein Schatten auf mich zugerast kam und mich voll erwischte. Ich hörte noch das Krachen, spürte wie mein Kopf zur Seite flog und ich mit dem Roller mitgeschliffen wurde. Das ganze ging so schnell, dass ich nicht einmal schreien konnte und endete mit einer Leere und unendlichen Schwärze, dass ich einige Sekunden brauchte, um mir klar zu werden, dass ich wach in meinem Bett saß und höllische Schmerzen hatte.

Ich stöhnte auf und fragte mich, wie man so einen realen Traum haben konnte, dass man mitsamt der zu erwartenden Schmerzen aufwachte und weil mir keine Antwort dazu einfiel, rollte ich mich zusammen und versuchte entspannt zu atmen, wie Mama es bei ihren Yogaübungen immer machte. Ich konzentrierte mich aufs Ein- und Ausatmen und merkte wie sich unendlich langsam der Schmerz im Bauch entfernte.

Danach muss ich dann wohl doch noch mal eingeschlafen sein, denn ich wachte erst vom Piepsen meines Weckers auf und sprang aus dem Bett. Ich stapfte ins Bad, versuchte mich erneut an dem richtigen Wassermix und endete wieder mal kläglich unter dem eiskalten Wasser, weil Oma diesmal offensichtlich gerade gleichzeitig in der Küche warmes Wasser brauchte. Ich war schlagartig hellwach und mit dem Lidstrich klappte es deutlich besser als gestern, so dass ich einigermaßen zufrieden wieder in mein Zimmer trat.

Dort schnappte ich mir meine Jeans vom Stuhl und zog mein zweitliebstes Shirt an. Es war das rote, das ich mit Judy vor den Ferien ausgesucht hatte. Oma wartete schon wieder mit dem Mega-Frühstück auf mich und ich probierte mich durch. Es war klar, dass ich das Müsli, den armen Ritter und den O-Saft nicht komplett runter bekam. Ich wollte den armen Ritter schon für die Pause einpacken, aber auch heute hatte sie mir schon „die Stullen“ geschmiert und drängte mich zum Bus.

Heute nieselte es ausnahmsweise nur und ich schlug vor, dass ich doch mal zur Abwechslung mit dem Roller fahren könnte, was sie nicht zuließ. Brummelnd verließ ich die Küche, schnappte mir meinen Rucksack und sprintete zur Bushaltestelle. Wozu hatte ich eigentlich eine Vespa, wenn ich nie damit fahren durfte?

Ich kam pünktlich, setzte mich wieder hinter den Busfahrer ohne viel von den anderen Fahrgästen wahrzunehmen und starrte in den Nieselregen. Es entspannte mich enorm, dass ich heute den Plan dabei hatte und nicht immer hinter jemanden herlaufen musste, sondern auf eigene Faust die Räume finden konnte. Der Bus hielt vor dem Sandsteinkasten und ich sprang als Erste raus und die Treppen hoch. Hinter mir hörte ich es rasseln und rannte noch einen Tick schneller, weil ich niemandem im Weg sein wollte. Schließlich riss jemand an meinem Rucksack und ich bekam Panik - aber es war nur Sara. „Hey Lille, willst du ´nen Weltrekord aufstellen? Wir haben doch Mathe in der ersten Stunde und noch geschlagene 5 Minuten bis die Stunde beginnt, da muss man doch keinen Sprint hinlegen.“ Sie war ganz schön aus der Puste von den paar Stufen und diesmal hatte sie einen roten Kopf. „Hi Sara, sorry, ich hab dich gar nicht gesehen. Ich wollte nur so schnell wie möglich in die Klasse, um nicht wieder als letzte anzukommen.“

„Wir haben alle Zeit der Welt. Das reicht sogar noch für ein Käffchen vom Automaten.“ Ich ging neben ihr her. Der Automat war mir gestern schon auf dem Weg zum Sekretariat aufgefallen und ich wusste, dass Mathe in der gleichen Etage stattfand. Das entspannte mich jetzt zutiefst.

Weniger entspannt war ich, als ich vor dem Klassenzimmer Christopher gegen die Wand gelehnt sah. Er schien die gleichen Sachen wie gestern anzuhaben. Schwarze Jeans, schwarzes Shirt und Bikerstiefel, die sicherlich schon länger keine schwarze Farbe mehr gesehen hatten. Zusammen mit den schwarzen Haaren, die halb seine Augen verdeckten und der blassen Haut sah er aus, als hätte er diese Nacht nicht geschlafen.

Christopher

Das hatte ich tatsächlich nicht. Nachdem meine Schicht im Da Vinci zu Ende war, hatte ich Celia heimbegleitet und war erst so gegen Mitternacht zu mir nach Hause gegangen, um doch noch irgendwas von den Sachen zu lesen, die ich heute brauchte.

Ich hatte versucht, die Schreie meiner Tante zu ignorieren, die im Nebenzimmer mal wieder Besuch hatte. Mit den Kopfhörern im Ohr war ich heute Morgen mit etwas steifem Nacken aufgewacht, weil man mit Ohrsteckern ja so schlecht auf der Seite liegen kann. Ich war wie ein Geist in meine Sachen gestiegen, Mist, man roch noch immer den Pizzamief, müsste wohl mal wieder ´ne Runde zum Waschsalon drehen. Ich versuchte das Ganze mit einer Extraportion Deo zu übertünchen, aber so kam ich mir jetzt vor wie frisch aus dem Puff entstiegen und hoffte, nicht gleich in der ersten Stunde auf Lille zu treffen…

Tja, wie es aussah, hatten wir auch noch Mathe zusammen und weil Sara sich gleich an Nils ranschmiss, blieb mir nichts anderes übrig, als Lille in die Reihe hinter die beiden zu ziehen. Sara drehte sich mit finsterer Miene zu uns um: „Neben mir wäre auch noch ein Platz für Lille gewesen.“ Lille zuckte schuldbewusst zusammen und machte sich daran, ihren Rucksack wieder aufzuheben und eine Reihe nach vorne zu wechseln, aber genau in dem Moment ließ Alice ihren breiten Hintern neben Sara plumpsen und hielt ihr eine Packung Donuts hin: „Heute schon gefrühstückt?“ Saras Augen leuchteten auf, sie langte in die Box und biss gleich genüsslich in das Pappzeug rein. So schnell kann das bei ihr gehen. Lille ließ den Rucksack wieder fallen und schaute kurz zu mir, etwas erschrocken über die Wendung der Dinge. Ich grinste sie an, sie wurde rot.

Hach, ich liebe es, wenn die Mädels rot werden, besonders so süsse wie Lille… Sie wurde so rot, dass man die Sommersprossen auf ihrer kleinen Nase gar nicht mehr sah und ich grinste noch mehr.

In dem Moment kam Herr Heitmann in die Klasse und ließ einen Stapel Bücher auf das Pult knallen. Alter Trick von ihm, der immer zog…“The audience is listening“- wohl oder übel.

Sara

Ich freute mich riesig, neben Nils zu sitzen, würgte den letzten Donutbissen trocken runter und war nur etwas enttäuscht, dass Alice jetzt neben mir saß. Das könnten wir aber in der Pause noch rückgängig machen, denn Herr Heitmann gab die Liste immer erst in der 2. Stunde herum. Es war also noch alles offen.

Voll erwischt

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