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Lille

Ich passte auf, wie ein Schießhund. Die Formeln, die er mit krakeliger Schrift an die Tafel schrieb, kamen mir irgendwie bekannt vor. Plötzlich schoss mir „Algebra“ in den Kopf. Judies Horror und mein Glück, dass ihr Exfreund so verknallt in sie war, dass er uns beiden kostenlose Nachhilfestunden gegeben hatte. Und dank ihm, wusste ich jetzt auch die Lösung für die Formel. Ich meldete mich, noch bevor Herr Heitmann das „=“ geschrieben hatte. Er bat mich nach vorne und ich hatte immerhin so viel Mumm, ohne rot zu werden, an die Tafel zu gehen und die korrekte Lösung aufzuschreiben. Beim Zurückgehen, sah ich, wie er ein Plus an meinen Sitzplatz schrieb und ging, ohne zur Seite zu sehen, an meinen Platz neben Chris zurück.

Chris applaudierte mir leise unter dem Tisch und ich wusste nicht, ob mir das jetzt peinlich sein oder ob ich mich freuen sollte. Da klingelte es zur 5 Minutenpause und Sara drehte sich ruckartig um: „Tausch doch jetzt eben mit Alice, noch ist die Liste nicht rum.“ Ich dachte an das Plus neben meinem Namen und schüttelte den Kopf. Endlich hatte ich mal den Durchblick, da könnte ich das Plus doch nicht Alice überlassen. Chris streckte seine Beine aus und trat gegen Nils Stuhl: „Hey Nilsi, willst du deinen Platz mit Lille tauschen?“ Nils drehte sich betont langsam um, schaute mich intensiv aber kurz an und sagte dann im Wegdrehen: „Nö, bleibe neben Sara.“ Tja, damit hatte sich die Sitzordnung geklärt. Alice holte eine zweite Runde Donuts aus der Tasche und bot mir auch einen an. Mir lief es eiskalt den Rücken runter. Wenn ich auf etwas definitiv verzichten konnte, waren es kalte, fettige Donuts. Ich bemühte mich, einigermaßen freundlich abzulehnen. Chris griff dagegen rotzfrech in die Packung obwohl er gar nicht gefragt war. „Dann nehme ich mir deinen, hab noch nicht gefrühstückt. Danke A.“ Sie wurde ganz rot und stammelte: „Lass es dir schmecken.“

Während er geräuschvoll kaute, zog ich die Zettel unter meinem Block hervor und versuchte, sie zu lesen. Da klatschte er mit seiner Hand auf die Zettel und zog sie zu sich rüber. „Hat sich erledigt“, nuschelte er mit vollem Mund und handelte sich dabei einen missbilligenden Blick von Sara und einen erstaunten Blick von mir ein. Er stopfte sie in seine Hosentasche, und da fiel mir plötzlich ein, dass ich den Zettel von gestern ja noch gar nicht gelesen hatte. Hatte ich komplett vergessen, aber jetzt war ich doppelt neugierig, was draufstand und hoffte, dass die nächste Stunde bis zu großen Pause ganz schnell vorbei ging…Das war zum Glück so und ich warf vor dem Gong noch schnell einen Blick auf meinen Plan wo die Toiletten waren (neben der Pausenhalle) und steuerte nach dem Pausen-Gong gleich drauflos. Sara rief mir hinterher: „Bis nachher bei Jack“ und hakte sich bei Nils ein.

Tja, soviel dann zu neuer Freundin. Chris grinste verlegen und fragte, ob ich auch zur Pausenhalle wollte, da könnte ich ja mit ihm gehen.

Wie das klang: “Da kannst du ja mit mir gehen...“ Ich kam mir vor wie mit 14 als wir bei unserer Klassenfahrt zum ersten Mal Blues getanzt und am nächsten Morgen alle einen Freund hatten (sogar die dicke Betty, die unseren Klassenstreber Björn abschleppte). Mensch, was waren wir stolz! Judy und ich hatten das Hochgefühl allerdings nur so lange, bis wir im Bus feststellten, dass unsere Freunde uns jeweils neben sich einen Sitzplatz reserviert hatten. Uns graute es davor, die nächsten 4 Stunden schwitzige Händchen halten zu müssen und ein Blick genügte, um an Tom und Dennis vorbei zu huschen und uns in die letzte Reihe neben Jenni und Frank zu quetschen. Allerdings waren wir uns dann in den nächsten 4 Stunden nicht so sicher, ob das wirklich die beste Entscheidung war, weil Jenni und Frank die ganze Zeit knutschten und komische Geräusche von sich gaben.

Ich darf nicht vergessen unsere legendäre „Schlussmachparty“ zu erwähnen, die bei Dirk stattfand, wo am Ende alle Jungs mehr oder weniger betrunken in der Keller-Bar seines Papas Trübsal bliesen, während wir Mädels unsere neu gewonnene „Freiheit“ im Elternbad feierten und jede neu dazukommende Klassenkameradin frenetisch bejubelten und ganz ohne Alkohol „high“ waren.

High war ich zwar jetzt nicht, aber es war trotzdem schön, die Haupttreppe nicht alleine zur Pausenhalle runtergehen zu müssen, auch wenn Chris nicht besonders gesprächig war. Er sparte sich seinen Charme offensichtlich für wichtigere Events auf. Ich blinzelte ihn kurz von der Seite an und bemerkte, dass er extrem blass war. Er sah so aus, als könnte er eine Mütze Schlaf dringend gebrauchen und war lange nicht mehr so spritzig wie gestern in Englisch. Ich fragte mich, was er des Nachts so trieb und bei den Möglichkeiten wurde mir klar, dass ich es so genau dann doch nicht wissen wollte. „Was hast du als nächstes?“ „Bio und du?“ „Auch.“ „Noch ein Herzchen...“, murmelte er und ich wurde wieder rot. „Aber diesmal gehe ich pünktlich und warte nicht wieder auf dich“, rief ich ihm betont streng zu, als ich rechts zu den Mädchen-Toiletten abbog.

Ich konnte es kaum erwarten, den Zettel von gestern zu lesen und war gespannt wie ein Flitzebogen. Zum Glück musste ich nicht lange in der Schlange stehen. Ich griff in die linke Hosentasche, hielt inne, suchte noch mal, griff in die rechte Tasche und stellte bitter enttäuscht fest, dass meine Hosentaschen beidseits ein Loch hatten. So was Blödes. 5 Minuten später hatte ich mir auch einen Platz an einem der Spiegel erkämpft, an denen 12 aufgescheuchte Hühner versuchten, die Schminke zu erneuern oder ungeniert Pickel auszuquetschen. Ich warf einen Blick auf mein blasses Gesicht, das zum Glück nicht so abgekämpft wirkte, wie das von Chris. Neben mir stand ein Mädel mit kurzen Haaren, die mir irgendwie bekannt vorkam. „Hi Lisa“, sagte ich zu ihr, worauf sie mich irritiert ansah und pikiert fragte: “Kennen wir uns etwa?“ Ich wurde rot und versuchte mich zu korrigieren „Ich dachte schon, heißt du nicht Lisa?“ Sie nickte: „Doch, aber ich habe dich noch nie gesehen…“, drehte sich um und ging mit ihrer Freundin raus.

Etwas verwirrt trat ich hinter ihnen auch in die Pausenhalle. Ich warf meine Brote in die nächste Mülltonne und kaufte mir am Kiosk eine Cola light. Sara wedelte aus Jacks Ecke mit den Armen und rief mir etwas zu, was ich in dem allgemeinen Getöse in der Pausenhalle aber leider nicht verstand. Ich trabte auf sie zu. „Sag mal, bist du des Wahnsinns deine Brote weg zu schmeißen? Hier gibt es genug Abnehmer, die gegen ein zweites Frühstück nichts einzuwenden hätten.“ Ich schluckte schuldbewusst meine Cola runter. „Ja, sorry, und in Afrika verhungern die Kinder…“ „Hey, das war kein Scherz, ich hab eigentlich immer Hunger, also wenn du was übrig hast, immer her damit.“ Somit hatten wir geklärt, wo Omas „Stullen“ demnächst landen würden und ich war mit dieser Lösung mehr als zufrieden. Ich fragte sie sogar, ob sie irgendwas nicht essen würde und sie antwortete mit bierernstem Gesicht: „Artischocken“. Ich musste so lachen, dass mir die Cola zur Nase wieder raus kam und ich erst mal ein Taschentuch brauchte. Sara drückte mir ein reichlich ramponiertes Teil vors Gesicht und lachte auch. Das war jetzt fast so nett wie mit Judy.

So ganz aus dem Kontext fragte ich sie dann auch noch nach den Handballvereinen und zu meinem Erstaunen lachte sie mich nicht aus, sondern erzählte mir, dass sie just heute Nachmittag selber zum Training gehen würde. „Kommst du mit? Ist heute das erste Training nach den Ferien. Wir könnten gleich nach der Schule los.“

Ich sagte spontan zu und rief gleich auch kurz Oma an, um es mit ihr abzuklären. Sie war zum Glück noch nicht bei den Vorbereitungen für das Mittagessen und versprach mir, meine Sportsachen zur Schule zu bringen.

„Bestimmte Sachen?“

„Nur die Joggingschuhe und die Leggings, das T-Shirt müsste auch noch über dem Schreibtischstuhl hängen, danke.“

„Schon gefunden, ich warte nach der Schule an der Bushaltestelle auf dich.“ Es war klar, dass sie auch was zum Essen dabei haben würde.

Ich freute mich sehr, dass Sara mich gleich mit eingeladen hatte. Als hätte ich jetzt eine Schleuse aufgemacht, begann sie mir ganz begeistert von dem großen Herbstturnier zu erzählen, das am übernächsten Wochenende stattfinden sollte. Sie erzählte, dass sie sich schon das ganze Jahr auf dieses Turnier gefreut hatte, weil sie das erste Mal auch über Nacht mit dort bleiben durfte. „Und am allerbesten ist, dass es ein Mixed-Turnier ist, d.h. unsere Jungs aus der A-Jugend fahren auch mit.“ Was da jetzt so toll dran sein sollte, leuchtete mir nicht so ganz ein, aber ich war mir sicher, dass ich das auch noch herausfinden würde. Zunächst sonnte ich mich aber in dem warmen Gefühl, heute etwas Eigenes vorzuhaben und mich nicht wieder mit Selma, Luise und Co treffen zu müssen. Sara erzählte nonstop durch, bis wir vor dem Bioraum ankamen und sie mich den Mädels vorstellte, die dort schon gestanden und gelästert hatten.

Eine davon war Lisa, die ich vorhin ja auf dem Mädchenklo angesprochen hatte. Sie lächelte leicht angesäuert und sagte Sara, dass wir uns bereits kennen gelernt hätten. Sara zog nur eine Augenbraue hoch. Wow, das hatte ich bisher noch nie gesehen und war beeindruckt, dass jemand nur eine Augenbraue bewegen konnte. Sie ignorierte meinen verblüfften Blick, aber sagte nichts mehr, sondern schob mich an den Mädels vorbei in den Klassenraum. Dann winkte sie mir noch kurz zu und verschwand zu ihrer Geschichtsstunde. Gestern war ich vor lauter Aufregung gar nicht dazu gekommen, mir das Klassenzimmer genauer anzuschauen, aber jetzt hatte ich noch einen Moment Zeit, bis Direktor Hofmann kam. Ich setzte mich in die dritte Reihe ans Fenster, wo ich gestern schon gesessen hatte.

Der Raum erinnerte mich an das Biozimmer in meiner alten Schule und ich hatte fast den Eindruck, außer gestern schon öfter hier gewesen zu sein, aber wahrscheinlich gab es in ganz Deutschland mehrere identische Klassenräume in Gebäuden gleichen Baujahres, so dass mich das jetzt nicht wirklich irritierte. Nach und nach füllte sich das Klassenzimmer, der Platz neben mir blieb aber erst mal frei. Doch da kam Christopher als einer der Letzten um die Ecke gebogen und schaute sich hastig um, um dann an Boris vorbei zu sprinten, der auch auf unsere Reihe zuhielt, um sich neben mich zu setzen. Boris hockte sich neben ihn und kurz darauf erschien Herr Hofmann in der Klasse mit einem Netz Kartoffeln in der linken Hand.

Mit einem Schlag waren alle still – alle Achtung, er schien sich Respekt verdient zu haben. So trantütig, wie er gestern schien, war er nämlich gar nicht. Ich war ziemlich erstaunt. Er reichte das Netz herum und jeder sollte sich eine Kartoffel herausnehmen. Als nächstes verteilte er Skalpelle und schaute jeden von uns durchdringend an: „Wir haben heute nicht den Erste Hilfe Kurs- also bitte keine Messerstechereien – ich hoffe jeder ist mit seinem Sitznachbarn auf gutem Fuß…“ Das war eine komische Ansprache, aber die Message kam an. Chris grinste mich von der Seite an und ignorierte Boris komplett, dem das aber gar nichts auszumachen schien. Die nächsten 30 Minuten waren erfüllt von konzentrierter Ruhe wegen der Versuche, die wir mit den Kartoffeln durchführen sollten und ich war überrascht, was man mit so ollen Knollen alles anstellen konnte. Zwischendurch schwadronierte Herr Hofmann über die Vorzüge von „Linda“, „Bintje“ und wie sie nicht alle heißen für Reibekuchen und Kartoffelpüree – ich wusste nicht, dass es für jedes Gericht eine passende Kartoffel gab und fragte mich, ob irgendwer das sonst noch mitbekam. Auch diese Doppelstunde war schneller um, als gedacht, und ich freute mich schon auf die 2. große Pause.

Kurz vor Schluss kam ein Zettel von rechts: „Heute schon was vor???“ Ich schaute zu ihm rüber, seine Augen lagen im Schatten und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht wirklich deuten. Gespannt? Neugierig? Auf jeden Fall interessiert und das freute mich irgendwie schon. Ich wusste nicht, wieso er mir plötzlich so viel Aufmerksamkeit schenkte, aber ich versuchte es fürs Erste mit einem Lächeln und schrieb dann auf den Zettel: „Ich gehe mit Sara zum Handball.“ Ein Grinsen glitt auf sein Gesicht: „Na dann, bis später.“ In dem Moment läutete die Schulglocke und er sprang zur Tür und verschwand, bevor ich auch nur die Chance hatte, zu reagieren. Was meinte er mit später? Boris packte langsam seine Sachen in den Rucksack und fragte mich: „Was hast du als nächstes?“ „Chemie.“ „Weißt du, wo das ist?“ „Jep, ich hab ´nen Plan…“ „O.k. dann bis nachher.“

Hey, was war das? Plötzlich fluppte es- wie kam ich denn dazu? Ich war so überrascht, dass ich nicht mal rot wurde. Ich schaute mich zu Sara um, die vor dem Klassenzimmer auf mich wartete und mich angrinste: „Du hast nicht nur einen Plan, du hast auch mich, ich habe nämlich auch Chemie…“ Ich strahlte sie an, der Tag wurde immer besser.

Zu den letzten 2 Stunden gab es nicht viel zu sagen, sie gingen schnell um und es passierte absolut gar nichts. Erstaunlich, dass jetzt schon niemand mehr starrte, ganz so als wäre Sara am Arm der Türöffner oder mein Schutzschild.

Voll erwischt

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