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Kapitel 1
ОглавлениеElbland
Roman
Elmar Zinke
Impressum
Text: © Copyright 2018 by Elmar Zinke
Umschlag: © Copyright 2018 by Elmar Zinke
Verlag: Elmar Zinke
Tannhöfer Allee 21
D-19061 Schwerin
ISBN 978-3-746712-24-6
verlag-zinke@t-online.de
Druck: epubli, ein Service der
neopubli GmbH, Berlin
Printed in Germany
Eine Hühnerleiter führte zum Dachgeschoss. Im Emporsteigen achtete Egon Wagner auf Gefahrenherde, aus gutem Grund unterband er Licht jeglicher Art. Den Weg zur Dachluke verstellte ein Sammelsurium beschädigter Möbel und Kisten voller Kinderspielsachen, flinkes Abstützen bewahrte den schwergewichtigen Mann mit dem wuchtigen Schädel, buschigen Augenbrauen und einem Wundmal im Nacken mehrfach vor einem Sturz. Vergeblich zerrte er am Verschluss der Luke, die zum Trittbrett des Schornsteins führte. Ein derber Schlag mit dem Handballen löste die Vereisung, längere Zeit reckte er allein den Kopf in den windstillen Nachtfrost. Die Unzufriedenheit über die eingeschränkte Sicht der lautgedämpften Vorgänge in der Domstadt drängte ihn zum vollständigen
Hinausklettern. Eine dicke Eiskruste überzog das krummgebogene Stahlgitter, ein frostverklebter Metallring, der im Mauerwerk des Schornsteins in Brusthöhe steckte, sicherte Halt.
Eine unüberschaubare Zahl von Bombern in loser Formation führte Luftschläge aus, grelle Lichtpunkte markierten das Unheil, das Gros der todbringenden Fracht entluden die alliierten Angreifer über dem Flugplatz im Norden des Stadtgebietes. Im Tonfall des nimmermüden Aufbegehrens ratterten Flugabwehrgeschütze, ein abgeschossenes Flugzeug stürzte mit einer Rauchwolke zur Erde, zerschellte auf einer Wiese. Allerorts brannte es lichterloh, zunehmend schlugen haushohe Flammen aus dem Stadtinneren und am südlichen Stadtrand dem sternenklaren Nachthimmel entgegen. Eine Fliegerformation drehte gen Westen ab, das zahlenstärkere Geschwader hielt mit seinem eintönigen Brummen Kurs auf Berlin.
Als Egon Wagner die nackte Hand vom Metallring befreite, verlor er das Gleichgewicht, krachte zu Boden. Seine Schusswunde sandte kurzzeitig heftiges Schmerzstechen aus, eine hüfthohe Umzäunung des Podestes schützte ihn vor einem Sturz vom Dach. Mit einem Bein tastete er nach der erstbesten Eisenleitersprosse, mit leichten Blessuren kehrte er ins überheizte Wohnzimmer zurück.
Seine Frau Grete stopfte Strümpfe. Die bildschöne Frau steckte ihre honigfarbenen langen Haare zur strengen Duttfrisur zusammen, ein knielanges Wollkleid verhüllte die Vollkommenheit ihres Körpers. Egon Wagners älterer Bruder Siegfried fehlte das linke Bein bis zum Knie, mit seiner Frau
Lisbeth und den Kindern Fritz und Günther durchblätterte er in weitgehender Lautlosigkeit ein Fotoalbum.
„Die Amis heizen der Stadt mächtig ein“, richtete Egon Wagner das Wort an seine Frau. „Wieder ein Sargnagel für den Untergang und ein Hoffnungsschimmer für unser Überleben.“
Niemand bedachte das Gehörte mit einem Wort, Egon Wagner verkrümelte sich in seine Tischlerwerkstatt, um seine Arbeit an der Babywiege fortzusetzen. Im ständigen Wechsel von Feilen und Schleifen strebte er die Wandlung von Vierkantstäben zu Rundhölzern für die Seitengitter an. Er führte die Arbeitsschritte langsam aus, berichtigte das Ausgeführte unentwegt. Nirgendwo löste der Endzustand seine Vorstellungen wenigstens halbwegs ein. Als kein Stab in die vorgebohrten Löcher im oberen und unteren Abschluss des Gitters passte, sank er auf dem Stuhl zu Schwermut zusammen. Nach einem Blick zur goldenen Taschenuhr, einem Erbstück, versteckte er sämtliche Einzelteile für die Babywiege im übermächtigen Dielenschrank, den er vorsorglich leer räumte. Er fegte sämtliche Abfälle sauber vom Betonfußboden, zündete eine Petroleumlampe an, kehrte gegen Mitternacht durch die Stille der Bombennacht ins Wohnhaus zurück.
Im Wohnzimmer strahlte der Kamin Restwärme aus. Egon Wagner schlüpfte in die von Grete bereit gelegte Nachtwäsche, empfand Dankbarkeit für ihren Fürsorgenachweis. Ohne störende Geräusche tastete er sich durch das frostkalte Schlafzimmer, kroch bis zum Kinn unter die bauschige Bettdecke.
„Wo warst Du?“, fragte sie in Sorge.
„Du bist noch wach?“
„Ich habe auf Dich gewartet.“
„Ich sah im Kuhstall nach dem Rechten“, log er im Flüsterton. „Spätestens morgen kalbt die Frieda.“
„Bist Du schon sehr müde“, drang ohne Unterbrechung aus ihr.
„Es geht. Warum fragst du?“
„Heute ist ein guter Tag“, sagte sie, paarte das Gemeinte mit einem Kichern. „Ein Besserer klopft während Deines Urlaubes nicht mehr an unser Glück.“
„Aber nicht hier, in dieser Mordskälte“, wandte er ein. „Treiben wir es im Wohnzimmer auf der Couch.“
„Aber was, wenn Dein Bruder auftaucht? Oder seine dumme Frau? Nicht auszudenken. Nein, meine Liebe begehrt Dich unter meiner warmen Decke.“
Die Wohltaten ihrer schmalen Hand auf seiner Haut lösten vorwärtsweisende Erregungsschübe aus, geschwind streifte er seine gefütterte Unterhose ab. Direkt an ihrer Seite übertrug sich ihre Gluthitze in voller Länge auf ihn, Küsse starteten im Sanften und Seichten, fanden rasch in die Welt des Ungestümen. Seine Hand löste den Bindegurt ihres Nachthemdes mit Spitzenbesatz in Bauchnabelhöhe, netzte sich in ihrer Empfangsbereitschaft. Seine Leibesfülle streifte ihre frauliche Erscheinung allein im Augenblick der körperlichen Verbindung, nach dem Hochstemmen des Oberkörpers entpuppte er sich als zielstrebiger und zuverlässiger Liebhaber. Keiner beanspruchte Sonderstellungen, wie jedes Mal wuchtete er seine Hundertzehnkilo nach der schonenden Verabschiedung aus ihr sofort zur Seite, atmete hörbar die Nachlust heraus.
„Erlaubst Du mir das Rauchen?“, fragte er zeitversetzt.
„Natürlich“, säuselte sie. „Was fragst Du jedes Mal.“
Die silberne Schatulle mit einer Hand voll Zigaretten und einer Streichholzschachtel lagen griffbereit im Nachtschränkchen, die ersten Züge sog er tief in sich, den Rauch blies er ausschließlich durch die Nasenflügel ins Rabenschwarze.
„Vielleicht begrüßen wir unser Kind schon im Frieden“, drückte er seine Zuversicht leise aus.
Ihre Finger streichelten seine buschigen Brusthaare, sie sagte: „Auch im Krieg entsteht neues Leben. Nicht zuletzt unsere Kühe verschonen unser Kind vor Hunger und all die Grausamkeit der Zeit schlägt um unser kleines Dorf hoffentlich einen Bogen.“
„Die ganze Welt kämpft gegen das Deutsche Reich“, wahrte er das Hoffnungsfrohe. „Hitler…“
„Egon, ich bitte Dich um eines“, unterbrach sie ihn schroff. „Rede in Gegenwart Deines Bruders nicht schlecht über den Führer. Das beschwört tödliche Gefahren herauf.“
„Das setzt voraus, dass meine Überzeugung dieses Haus verlässt. Hältst Du meinen Bruder für fähig, dass er das eigene Fleisch und Blut verrät?“
„Die Gedanken sind nicht frei“, sagte sie abgeklärt. „Nicht einmal in den eigenen vier Wänden. Dein Bruder glaubt an den Endsieg und sieht in jedem Andersdenkenden einen Todfeind. Mit zwei gesunden Beinen stellt er zweifelsohne eine schwarze Uniform zur Schau.“
Er rauchte schweigsam bis zum kleinstmöglichen Zustand, auferlegte sich eine Selbstzensur, löschte den Zigarettenstummel auf dem Etuideckel. Ein inniger Mundkuss verabschiedete sie in die Nachtruhe. Alpträume und Harndrang rissen ihn mehrmals aus dem Tiefschlaf, er überwand sich zum Toilettengang, Erleichterung trat im vermehrten Wachzustand ein. Der Rückweg übersandte ihm bedächtige Klopfzeichen aus Richtung Hauseingang. Er dachte an die Windstille des Abends, erschöpfte sich in gefahrlosen Vermutungen. Die Türgeräusche steigerten ihre Lautstärke, in der Eingebung eines drohenden Überfalls zückte er ein Fleischmesser.
Er klinkte die Tür spaltbreit auf, raunte voller Argwohn: „Wer ist da?“
„Ein Mann, der um Hilfe fleht“, ertönte eine helle Männerstimme.
„Wie kommen Sie auf unser Grundstück?“
„Durch ein offenes Fenster auf der Rückseite des Nebengebäudes.“
Egon Wagner stieß seine Vergesslichkeit auf, fragte weiter: „Wo kommen Sie her?“
„Aus dem Arbeitslager des Barons. Bitte gewähren Sie mir Einlass. Es herrscht bittere Kälte und ich trage wenig Kleidung. Ich beantworte jede Frage mit der Wahrheit. Ich bin ein guter Mensch, noch nie tat ich etwas Böses.“
Aus Egon Wagner wichen Ablehnung und Misstrauen, er beäugte das gut sichtbare Schattenzittern, gab den Weg frei.
„Folgen Sie mir, aber leise.“
In der Küche zündete Egon Wagner das schwache Licht am Spülbecken an, hielt eine brennende Kerze auf dem Tisch in der Raummitte für angebracht, zur Verbesserung der Lichtausbeute schob er sie an den Tischrand. Der fremde Mann trug eine gestreifte Häftlingskleidung aus dünnen Leinen, durchlöcherte Sandalen, beidhändig umklammerte er eine Pudelmütze aus grober Wolle. Am kahl geschorenen Kopf hingen abstehende Ohren, aus tiefen Höhlen lugte das Gütige dunkler Augen. Wagner schätzte seinen gleich großen Gegenüber auf Mitte Vierzig, eigens fielen ihm das Langfingrige der Hände und die gekrümmte Nase auf.
„Möchten Sie eine Tasse warme Milch?“
„Oh, sehr gern“, sagte der Neuankömmling, dankte das Angebot zusätzlich mit Blicken.
Egon Wagner erhitzte einen halben Liter auf dem Gaskocher, tischte das Getränk in einem roten Emailletöpfchen mit Griff auf. Der Andere wärmte seine Hände am Gefäß, schlürfte die Milch ohne Unterbrechung, sein Gesicht drückte unfassbares Glück aus.
„Wie heißen Sie? Aus welchem Land stammen Sie? Wieso sprechen Sie ein so gutes Deutsch?“
„Ich bin Pole und Tischler von Beruf. In jungen Jahren ging ich in Deutschland auf Wanderschaft. Vor allem im schönen Badener Land zog ich von Meister zu Meister und lernte viel, auch die deutsche Sprache. Ich verliebte mich in dieses Land, aber als die Deutschen Hitler zu ihrem Führer wählten, kehrte ich aus Vorsicht in die Heimat zurück, nach Krakau.
„Und Ihr Name?“, beharrte Egon Wagner nach längerem Schweigen.
„Ich nenne mich Miroslaw Podolski, aber auf der Urkunde meiner Geburt steht Simon Oppenheim.“
„Das heißt, Sie sind Jude“, äußerte Wagner ergriffen.
„Ich führte im Haus des Barons ein gutes Leben“, sagte Oppenheim bedrückt. „Durch meine deutsche Sprache war ich als Übersetzer wertvoll für die Herrschaften. Auch mein Beruf und mein handwerkliches Geschick standen hoch im Kurs. Beim Bau der Festhalle beförderten sie mich zum Vorarbeiter, die Frau des Hauses lud mich sogar zu Kaffee und Torte ins Wohnzimmer ein und sättigte ihre Neugier auf mein Leben. Und ich gestehe, sie legte eine Neugier ohne bösartige Hintergedanken an den Tag. Aber mein Schicksal war nicht aufzuhalten, denn ein Jude trägt mindestens ein äußeres Erkennungsmerkmal und unter der Dusche gelangt es für Andere zum Vorschein. Einer von Meinesgleichen übte Verrat, wahrscheinlich legte meine gehobene Stellung die Lunte für Neid und Missgunst. Die Frage, ob ich ein Jude bin, kam dem Baron ohne Hass, ohne Erregung über die Lippen und doch wusste ich, dass er die Frage auf Leben und Tod stellte. Um mir die Peinigung des Auskleidens zu ersparen, lieferte ich an Ort und Stelle das Geständnis ab. Zumal ich beileibe nicht wie ein Moslem aussehe.“
„Aber Sie leben“, bekundete Egon Wagner herzergriffen.
„Die Uhr des Todes tickt erst wenige Tage und das Schicksal öffnet mir vielleicht eine neue Tür. Heute Nacht legte eine Bombe einen Teil unserer Unterkunft in Schutt und Asche. Ich floh und jetzt schmecke ich eine bessere Welt. Nach mehreren Jahren trinke ich wieder heiße Milch, mein Lieblingsgetränk.“
Egon Wagner steckte den Kopf zwischen die Hände, schloss die Augen, rang mit dem niederdrückenden Gefühl der Handlungsunfähigkeit.
„Ich habe eine Frau, mein Bruder und dessen Familie leben hier. Oppenheim, Sie setzen uns alle entsetzlicher Gefahr aus. Der Baron lobt die preußischen Tugenden, wie Anstand, Ehre, Gerechtigkeit und Frömmigkeit, aber in Wahrheit paktiert er mit dem Teufel. Seine Tochter heiratete einen SS-Offizier. Das zahlt sich jetzt aus. Seinesgleichen suchen spätestens mit dem Morgengrauen nach Ihnen. Mit Fahrzeugen, mit Hunden, mit blutdürstiger Abscheu. Mein Gott, Sie sind ein Mensch wie wir.“
„Bitte nur wenige Stunden“, flehte der Jude mit gefalteten Händen. „Mit einem Laib Brot und Milch ziehe ich nächste Nacht weiter.“
Egon Wagner horchte angestrengt ins Haus hinein, öffnete ein Fenster zur Dorfseite. Überall beruhigte friedliche Stille.
„Gut, eine Nacht“, stimmte er zu.
Mit hochkant gestelltem Zeigefinger vor den Lippen mühte sich Egon Wagner hoch, legte eine dicke Wattejacke um die Schultern, wickelte einen Brotkanten und ein faustgroßes Käsestück in Zeitungspapier, ging voraus. In der Werkstatt gewahrte er das Geschlossensein sämtlicher Fenster, beide Männer schoben eine schräg stehende Matratze hinter die Werkbank, unter einer Kiste mit Werkzeug fand sich eine Decke.
„Ich schließe Dich ein“, überkam es Egon Wagner im Anflug von Vertrautheit. „Nur gut, dass ein einziger Schlüssel passt. Im Schlaf schreckst Du hoffentlich beim kleinsten Geräusch auf. So wie ein Pferd, das die blitzschnelle Flucht vor dem Raubtier als Lebensaufgabe begreift. Sobald Du etwas hörst, versteckst Du Dich im Schrank. In Kauerstellung bietet er genug Platz. Bin ich es, öffne ich die Tür. Pass beim Essen auf, dass kein Krümel übrigbleibt.“
Egon Wagner klappte beide Flügel des Möbelstückes auf, räumte möglichst lautschwach die Teile der Babywiege aus. Er löschte das Deckenlicht, schloss von außen ab, als Schlüsselversteck auserkor er das eigene Nachtschränkchen. Bleich vor Erschöpfung im Gesicht kroch er unter die erkaltete Bettdecke.
„Wo warst Du?“, fragte Grete hellwach.
„Frische Luft schnappen und zu den Sternen blinzeln. Hoffentlich schlafe ich jetzt besser.“
„In Deiner Werkstatt brannte Licht.“
„Ich vergaß ein Fenster zu schließen.“
Geradezu überfallartig warf sich Grete auf ihn, gab eine Liebeserklärung ab: „Wir gehören zusammen. Egal, was uns die Welt beschert“.
Grete und Egon Wagner traten ihr Tagewerk im Kuhstall um fünf Uhr an. Mit einem einspännigen Pferdefuhrwerk holte die ortsansässige Molkerei die vorgeschriebene Milchmenge pünktlich um Siebenuhrdreißig mit einem Pferdefuhrwerk ab, um acht Uhr vereinte das Frühstück die Familie in der überheizten Küche. Alle tranken heiße Milch, als Seltenheit tischte Grete für jeden ein gekochtes Ei auf. Siegfried Wagner lobte das mustergültige Zustandekommen des festen Eiweißes und des flüssigen Eigelbes, führte zum Abschluss mit dem Ablecken des Eierlöffels eine abnorm lange und spitze Zunge vor, bot erneut seine Mithilfe im Kuhstall an. Die dankende Ablehnung begründete sein Bruder mit der Empfindsamkeit der Tiere gegenüber unvertrauten Menschen und der Gefahr einer nachlassenden Milchleistung mit absehbaren Folgen.
„Bleibt im Haus, in der warmen Stube“, fügte er im Tonfall des Achtsamen hinzu. „Jedenfalls, so lange mein Urlaub dauert.“
Das Ertönen der schrillen Hofklingel schreckte allein Egon Wagner. Er griff nach Mütze, Schal und Wattejacke, der Himmel entrollte sein Blau großflächig.
Dem hämmernden Pochen rief er beherzt entgegen: „Bin schon unterwegs“.
Vor der Tür erwarteten ihn der Ortsgruppenführer der NSDAP Richard Schulze sowie vier Soldaten in Gestapouniform und mit lässig herabhängenden Maschinenpistolen, der Mann am Steuer des Lastkraftwagens mit Holzgasantrieb harrte im Fahrerhaus aus. Schulzes körperliches Gutaussehen steckte in ziviler Kleidung, der Bürstenschnitt der schwarzen Haare unterstrich eine jugendliche Erscheinung, der längliche Kopf barg lebenslustige Augen und eine formvollendete Nase.
„Heil Hitler, Egon“, rief Schulze mit den Händen in den Hosentaschen. „Wir suchen nach drei Arbeitstieren, die dem Baron letzte Nacht wegliefen. Bei Dir fanden sie nicht zufällig Unterschlupf.“
„Pferde halten wir nicht, tut mir leid“, wagte Egon Wagner einen Scherz. „Nur Kühe und Kleinvieh.“
„Das glaube ich Dir gern“, wahrte Schulze seinen unverfänglichen Ton. „Aber lass uns kurz nachsehen. Reine Routine.“
„Pflicht ist Pflicht“, mühte Egon Wagner hervor.
„Im Duett ausschwärmen, alles durchkämmen und Beute machen, aber die Tiere möglichst nicht erschießen“, befahl Schulze mit schneidender Heiterkeit. „Für jeden Polack, den wir lebend zurückbringen, spendiert der Baron als Finderlohn eine Kiste Champagner.“
„Ich bitte nur um eines“, druckste Egon Wagner. „Die Kühe lieben keine fremden Menschen, erst recht keine hektischen Umtriebe. Also…“
„Den Stall drehen wir nicht um“, feixte Schulze dazwischen. „Eine deutsche Kuh muht, wenn ein dreckiger Polack in ihrem sauberen Stroh liegt, sich womöglich am Euter satt säuft.“
Schulzes Hand schwang windmühlenartig mehrere Umdrehungen, die Soldaten stürmten mit den Gewehren im Anschlag der Scheune entgegen.
„Für mich hast Du bestimmt eine Tasse Deiner hochgelobten Milch übrig.“
„Natürlich“, zwang sich Egon Wagner zu Freundlichkeit.
„Ihr Wagners genießt wirklich einen guten Ruf in der Molkerei“, sagte Schulze im Gehen. „Eure Milch ist schön fett, die Kannen stehen immer pünktlich zur Abholung bereit und nie fehlt ein Liter am Soll für die Volksgemeinschaft.“
Ein flüchtiger Seitenblick führte Egon Wagner das Verschwinden der Soldaten in der Scheune vor Augen, mit weiterhin pochendem Herzen druckste er: „Danke. Das höre ich gern“.
In der Küche spülte Grete die winzigen Essenreste von den Tellern, das grob gesäuberte Geschirr legte sie in eine Zinkwanne mit heißen Wasser, sauberes Porzellan trocknete auf einem Spülbrett.
Mit dem Auftauchen Schulzes in der Küchentür unterbrach sie die Arbeit, verhehlte nicht ihr Misstrauen: „Was verschafft uns die Ehre des Ortsgruppenführers?“
Schulze beäugte sie unverblümt hingerissen, sagte: „Die Pflicht beschert mir unsagbares Glück. Eure Gegenwart.“
„Dem Baron liefen letzte Nacht drei Fremdarbeiter weg“, gelang Egon Wagner eine wertfreie Stimme.
„Und Sie glauben, sie verkrochen sich in unserem Stroh?“, wandte sich Grete unerschrocken an Schulze.
„Das glaube ich nicht, allerdings liebt mein Glaube das Wissen. Zu unser aller Beruhigung.“
„Grete, Richard trinkt gern eine Tasse heiße Milch.“
Wortlos ging sie zum Herd, löffelte im Topf die Haut von der erkalteten Milch. Sie beobachtete das Warmwerden, schenkte das Getränk für den ungebetenen Gast in eine Tasse des Sonntagsgeschirrs. Egon Wagner kämpfte mit tiefer Atmung gegen seine Angstzustände an, ein Bild in nächster Nähe mehrte sie. Sein Bruder querte mit Krücken den Hof, pausierte vor zwei Soldaten, die ausgestreckte Hand wies in Richtung Werkstatt.
„Wie lange dauert Dein Genesungsurlaub noch?“, wandte sich Schulze gelassen an Egon Wagner.
„Gut eine Woche.“
„Die Schusswunde, hindert sie noch?“
„Nein, alles bestens“, entwich Egon Wagner fahrig. „Alles ist gut verheilt. Die zwei Monate auf dem Hof wirkten Wunder.“
„Geht es zurück nach Frankreich? Helden wie Dich braucht allerdings mehr die Ostfront.“
Die Worte entlockten dem Anderen ein notdürftiges Lächeln: „Ich erwarte den Marschbefehl jeden Tag. Allerdings…“
Er unterbrach sich durch das Erscheinen eines Soldaten im vorgerückten Alter und passungenauem Stahlhelm.
Der Untergebene bezeugte militärische Haltung, sagte überlaut: „Nichts gefunden, Herr Oberleutnant. Allerdings ist im Quergebäude eine Tür zugesperrt.“
Schulze blickte ungelenk zu Egon Wagner.
„Kein Problem“, sagte Egon Wagner rasch. „Das ist mein eigenes kleines Reich. Nur ich habe Zutritt.“
„Dann machen wir Zwei uns auf den Weg“, wandte sich Schulze Egon Wagner zu, dem Soldat befahl er streng: „Alle Aufsitzen!“.
Schulze nahm Egon Wagner schulterumarmend ins Schlepptau, Grete reichte ihrem Mann eine wärmende Jacke. Vor der Tür wartete ein Tag mit vorteilhaft klassischen Wintereigenschaften, unterwegs verrichtete Egon Wagner Gebete, wenige Meter vor dem Eingang zur Werkstatt klatschte er einen Handballen an die Stirn.
Fast schreiend rief er: „Oh Gott, der Schlüssel. Er liegt in der Schlafstube. Bin gleich zurück.“
Egon Wagner eilte mit angewinkelten Armen über den Hof, Schulze zündete sich seelenruhig eine Zigarette an. Grete beobachtete das Geschehen am Küchenfenster. Minuten später betraten beide Männer die Werkstatt, das Tageslicht erhellte den Raum bis in die letzten Winkel. Schulzes Gesicht wirkte entspannt, der Matratze schenkte er mäßig Beachtung, alsbald widmete er sich den sorgsam aneinander gereihten Holzteilen auf der Werkbank.
„Was ist es, wenn es fertig wird?“, fragte er wissbegierig.
„Eine … Babywiege“, druckste Egon Wagner.
„Oh“, jubelte Schulze. „Grete lebt in froher Erwartung. Der Egon, was für ein Held. Traf wahrscheinlich gleich in der ersten Nacht ins Schwarze. Heil Hitler, in Frankreich kommt ein deutscher Soldat nicht aus der Übung.“
„Neinnein, noch steht nichts fest. Aber vielleicht… Grete weiß nichts von der Wiege. Ein Abschiedsgeschenk… Deshalb schließe ich die Tür ab.“
„Verstehe, eine Überraschung. Nährst außerdem in ihr nicht unnötig Hoffnungen und Sehnsüchte. Vielleicht klappt es erst nach dem Endsieg“, sagte Schulze im freundschaftlichen Ton, begutachtete einzelne Holzteile. „Hast Du alles beisammen?“
„Ich denke schon.“
Ein Geräusch ertönte, Egon Wagner zuckte zusammen. Nach einer Schrecksekunde gab Schulze Entwarnung, zur Geräuschursache erklärte er das Klappern der Fenster im schadhaften Holzkitt infolge einer Windböe.
„Räder täten der Überraschung gut“, sagte Schulze.
„Das stimmt. Zur Not geht es auch ohne sie.“
Schulze spitzte den Mund, taxierte mit einem Blick die Größe des Schrankes, sagte: „Die Pflicht ruft, Egon. Womöglich kriege ich das Polenpack am Fluss zu fassen. Die denken am Ende die Torheit, dass das Eis sie trägt.“
Egon Wagner begleitete Schulze bis zum Hofeingang, das Fahrzeug wartete mit laufendem Motor. Jeder Mann drückte die Hand des Anderen wie eine Kampfansage, mit dem Aufheulen des Lkw-Motors und der Wegfahrgeräusche setzte Egon Wagners Erlösung ein. Im Hof lehnte er minutenlang an der Wohnhauswand, erlag mit geschlossenen Augen dem Rausch im Körper. Im Kopf sprossen Bilder von den unerwartet heftigen Gefechten an der griechischen Metaxalinie, die er mit einem Durchschuss am Oberarm überstand.
Nach dem Abendessen begründete Egon Wagner den Gang in die Werkstatt mit notwendigen Reparaturen vielerlei Art. Seine Manteltaschen bargen Brot, ein fingerlanges Stück Rotwurst und eine Bierflasche, in der Werkstatt riegelte er die Tür ab, sämtliche Fenster zum Hof nagelte er mit Papiersäcken zu.
„Simon, die Luft ist rein“, sagte Egon Wagner im Flüsterton.
Im Schrank herrschte Totenstille, Egon Wagner befiel eine dunkle Ahnung. Er riss die Schranktür auf, fand den Polen in einer unbequemen Sitzhaltung und einer andächtigen Gesamtstellung vor. Mit dem Augenöffnen hielt in Oppenheim eine Heiterkeit des Gemütes Einzug.
„Im Leben zählt jeder Tag in Freiheit ein Vielfaches gegenüber der Knechtschaft.“
„Iss etwas.“
Oppenheim entstieg dem Schrank mit Geschick, führte Leibesübungen des Dehnens und Streckens aus, begab sich zu Egon Wagner, der seine Mitbringsel auf der Werkbank ablegte.
Oppenheim biss kräftig in die geräucherte Blutwurst, verrichtete einige Kniebeugen, sagte kauend: „Mich plagte große Angst, dass mich mein Magen durch Knurren verrät.“
„Warst Du die ganze Zeit im Schrank?“
„Erst seit ich Stimmen dicht am Fenster hörte. Beim Verstecken gab es Probleme, die Schranktür ging immer wieder auf. Ohne Dein nochmaliges Gehen ins Haus …“
Oppenheim legte einen Zeigefinger an den Hals, riss ihn zur Seite.
„Lass Dir alles schmecken.“
Oppenheim aß und trank mit Hingabe, Egon Wagner schaute zu, empfand Freude wie über die Esslust eines Kleinkindes.
„Was wird das?“, fragte Oppenheim, zeigte auf die Holzteile neben sich.
„Eine Babywiege, die mir nicht recht gelingt“, klagte Egon Wagner stirnrunzelnd, hob die Hände. „Es grüßen zwei linke Hände.“
Oppenheim beäugte alles Herumliegende im Raum, sagte: „Ich sehe fast alles, was eine schöne Babywiege ausmacht. Wenn Du ja sagst, steht ein gutes Stück bald fertig vor Deinen Augen.“
Egon Wagner hielt seine Überlegung nicht lange zurück: „Mein Urlaub geht noch bis Sonntag in einer Woche. Bleib bis dahin. Ich denke, mein Schulkamerad erspart uns bis dahin seine Wiederkehr. Morgen bringe ich Dir warme Kleidung mit.“
„Du bist ein guter Mensch. Überlebe ich, erzähle ich den Siegern unsere gemeinsame Geschichte. Und jetzt gehe ich ans Werk.“
„Niemand hier weiß von Deiner Gegenwart und dabei bleibt es“, mahnte der Andere mit erhobenem Zeigefinger. „In meiner Abwesenheit arbeitest Du nur bei Tageslicht und Geräusche entstehen bitte nur in meiner Gegenwart.“
Als vorbeugende Sicherheitsmaßnahme für die nächsten Stunden einigten sich beide Männer auf ein Schweigen ohne Ausnahmeregelung. Oppenheim sägte, hobelte, schraubte und feilte in gewöhnungsbedürftiger Langsamkeit, jeder Handgriff kündete von meisterlichem Geschick, sein Augenmaß ersetzte zumeist den Zollstock und die Wasserwaage.
Zu fortgeschrittener Stunde unterhöhlte Egon Wagner die Übereinkunft, indem er gerührt sagte: „Ich hole uns noch zwei Bier. Leg eine Pause ein.“
In der restwarmen Küche stieß Egon Wagner auf Lisbeth, die am Tisch ihre klein geratenen Beine in Nylonstrümpfen übereinander winkelte. Sie trank selbstgemachten Apfelwein, rauchte eine Zigarette. Der Ausschnitt des leichten Kleides mit fröhlichen Blumenmustern und ohne Knielänge gestattete tiefe Einblicke zu den schweren Brüsten, die Füße steckten in roten Schuhen. Sie walzte ihre frisch feuerrot geschminkten Lippen aufeinander, tupfte auf ihrem ungleichmäßig gelockten und gewellten Haar herum, blies ihm den Qualm eines tiefen Zuges herausfordernd ins Gesicht.
„Egon, mein liebster, weil einziger Schwager. In der Werkstatt brennt Licht. Endlich errätst Du meine Gedanken.“
Er setzte lange Schritte zum Vorratsschrank, zögerte Augenblicke, fischte inmitten der Gläser mit selbst eingeweckten Früchten und mit mehreren Wurstsorten sowie einiger Apfelweinflaschen eine Flasche Bier mit Bügel heraus.
„Wieso schläfst Du nicht längst?“, fragte er gequält.
„Ich bin schön für Dich“, sagte sie aufreizend. „Oder bin ich nicht schön?“
„Doch, das bist Du zweifellos.“
Sie löste die Beine voneinander, spreizte sie weit auseinander, das Kleid rutschte über die Oberschenkel.
„Von mir aus geht es sofort los“, brachte sie ihr Verlangen hemmungslos zum Ausdruck. „Schenk mir Deinen Heldenschwanz und ich schenke Dir meine feuchtfröhliche Möse.“
„Ich liebe meine Frau“, entwich sein fortgesetztes Schamgefühl.
„Das weiß ich, Egon. Aber Du besitzt die Manneskraft für zwei Frauen. Denk an die Ostfront ab nächster Woche. Da macht höchstens sibirische Kälte aus Deinem Schwanz einen Knüppel. Also ficke lieber auf Vorrat. Hier? Oder lieber in der Werkstatt?“
Sie erhob sich, ein strahlendes Lächeln begleitete ihre Rückkehr vom Küchenfenster.
„Den Schlüssel zur Tür der Werkstatt verwahrst allein Du, die zugeklebten Fenster schützen vor dem Verrat, eine geeignete Unterlage zum Flachlegen sah ich unlängst, als die Tür zufällig einmal offenstand. Insofern lockt ein Liebesnest ohne Fehl und Tadel. Wie für uns erschaffen. Und falls es an Wärme fehlt, wie verrückt einheizen, Herr Soldat, tun wir uns gegenseitig.“
„Ich begehre nicht die Frau meines Bruders.“
„Dein Bruder ist ein Krüppel“, giftete sie jählings. „Früher ein Langweiler, heute eine grausige Zumutung. Weißt Du, wie ich fühle, wenn ich beim Ficken an seinen Beinstumpf anecke? Mehr Teufelei erwartet uns bloß, wenn der Russe in der Tür steht."
„Er ist mein Bruder und ich liebe ihn“, begehrte er auf.
„Dein Bruder“, schniefte sie. „In seinem Schädel lebt nur noch der Führer und aus seinem Schwanz fließt nur noch Pisse.“
"Ich gehe zurück in die Werkstatt und Du ins Bett“, sagte er in geradliniger Strenge. „Mein letztes Wort.“
Lisbeth leerte ihr Glas, schenkte sich nach, trank es ohne Unterbrechung aus. Schnurstracks steuerte sie auf ihn zu, drückte ihm in der Umklammerung die Luft ab. Sie packte seinen Penis, der tatenlos in der Hose ruhte. Im Zurückfallenlassen landete sie auf dem Stuhl, er klatschte auf ihre Oberschenkel, die Auflösung der misslichen Körperverbindung glückte erst durch derbe Griffe an ihre Schulter.
Ihr Blick härtete sich ins Feindselige: „Was mag wohl in der Werkstatt so interessant und wichtig sein, dass mein Schwager dort mehr Zeit verbringt als am Kamin mit seiner Familie“.
Egon Wagner schnippte den Bierbügel auf, schlürfte den ausströmenden Schaum ab.
Lisbeth lachte mit kalter Wut: „Dort versteckt sich der Teufel“.
Die Tür zur Werkstatt riegelte er sofort hinter sich ab, horchte eine Weile auf verräterische Laute hinter der Wand. Oppenheim schlief im verschlissenen Ohrensessel, sandte piepende Töne aus. Egon Wagner breitete die Pferdedecke über ihn, stellte die Bierflasche auf der Werkbank direkt neben die halbfertige Babywiege. Mit dem Löschen des Lichtes und der Rückkehr ins Wohnhaus wartete er eine halbe Stunde, Oppenheims mehrmalige Stöhnschreie förderten Egon Wagners Angst.
Am Tag vor seinem Einberufungsbefehl an die Ostfront mistete Egon Wagner am Vormittag die Kühe vollständig aus. Er sorgte für Vorrat, indem er zwei Wände des Stalles hoch mit Strohballen stapelte, im Anschluss half er Grete und Lisbeth in der Herstellung von Butter und Käse. Die Gespräche kreisten um die Eisverdickung des Flusses, die Nachricht von zwei Gefallenen im Dorf, die stark schwindenden Vorräte an Heizmaterial. Als sie Egon Wagners Rückkehr an die Front anschnitten, schossen aus Grete jene Tränen, die sie bis dahin mühsam unterdrückte. Egon Wagners Umarmung seiner Frau kündete von ungelenker Leidenschaft.
Das Türklopfen trennte die Körper, alle Gesichter im Raum sahen sich sprachlos an. Egon Wagner eiste sich aus der Erstarrung los, Schulzes Gegenwart an der Haustür löste Herzstiche aus.
„Die Hoftür stand sperrangelweit offen“, gab sich Schulze arglos.
„Wahrlich, nicht gut in diesen Zeiten.“
„Ich komme nicht mit leeren Händen“, flüsterte Schulze in Egon Wagners Ohr. „Ich bringe Räder für Deine Babywiege. Vom Gefährt für die Kinder meiner Schwester, das jetzt auf dem Dachboden Staub fängt.“
Schulze griff den abgelegten Rucksack neben der Haustür auf, schulterte ihn wie ein Gewehr.
„Wie schön“, quälte Egon Wagner hervor. „Ich schaffe sie gleich in die Werkstatt, Grete verblüffe ich am Abend.“
„Gönne mir einen kurzen Blick auf Deine Schöpfung. Ich bin gespannt.“
Egon Wagner impfte sich Abgeklärtheit im Menschenmöglichen ein, wahrte die Lichtarmut in der Werkstatt.
Die vier Holzräder und die beiden Achsen packte Schulze neben die fertige Babywiege, lobte überschwänglich: „Ehrlich gesagt, das habe ich Dir nicht zugetraut. Was für ein Meisterwerk. Sogar an ein himmlisches Dach wurde gedacht. Hoffentlich lindert das Geschenk wenigstens ein bisschen den Abschiedsschmerz.“
„Das hoffe ich auch.“
„Aber wieso hütest Du das Geschenk nicht vor Gretes Augen? Der Schrank zum Beispiel empfiehlt sich als Versteck.“
„Grete…“
Egon Wagners Stimme versagte ihren Dienst, Schulze wählte den direkten Weg zum Schrank. Die zeitlupenhafte Drehbewegung des Türschlüssels quälte Egon Wagner, in furchtsamer Kauerstellung gelangte Oppenheim zum Vorschein.
„Für die Babywiege reicht der Platz nicht mehr aus“, wahrte Schulze die Fassung, verriegelte die Tür.
„Ich…“
Egon Wagner fand auch nach mehreren Anläufen keinen Zugang zu einem vollständigen Satz.
„Wo kommt der Polack nicht abhanden?“
„Im Keller für die Kartoffeln und die Futterrüben“, stammelte Egon Wagner nach fieberhafter Überlegung. „Die Tür kriegt niemand von innen auf.“
Egon Wagner führte die beiden anderen Männer über den Hof, Schulze hielt seine entsicherte Pistole auf Oppenheims Nacken. Im Keller herrschten Minusgrade, ein u-förmiges Türeisen sicherte dem Bolzenriegel stabilen Halt.
„Gehen wir in die Küche und regeln die Angelegenheit“, sagte Schulze unterwegs ohne jede Zurechtweisung.
„Wer ist dieser fremde Mann, der mit Euch über den Hof lief?“, empfing Grete die Männer zurückhaltend im menschenvollen Raum.
„Darüber wird zu reden sein“, sagte Schulze gelassen. „Vorerst bitte ich um eine heiße Tasse Milch.“
Schulze schlürfte vom eilig Herbeigebrachten einige Schlucke, in seinen Augen wuchs ein Lächeln.
„Egon, besser ich regle die Angelegenheit mit Deiner Frau.“
„Ich bleibe hier“, begehrte Egon Wagner auf.
In Schulzes Haltung lag nichts Bedrohliches, als er entgegnete: „Egon, Wiederholungen treffen nicht meinen Geschmack. Aber in der Einzelfallregelung drückt der Gehobene im Menschengeschlecht sein wahres Wesen aus. Also noch einmal in gebotener Klarheit für alle. Alle außer Grete räumen postwendend den Raum. Sonst erschieße ich auf der Stelle Egon Wagner wegen Hochverrats.“
Siegfried Wagner humpelte angsterfüllt los, seine Blicke drängten Lisbeth zum sofortigen Hinterherlaufen. Egon Wagner verharrte in Reglosigkeit, in unaufhörlicher Wechselseitigkeit sammelte er die stummen Worte von Grete und Schulze ein. Mehr noch als Schulzes Augen forderten jene von Grete ihn zur lebensechten Einschätzung des Kräfteverhältnisses auf. Egon Wagner beugte sich auch seinen Selbstvorwürfen, Lisbeth schloss sich ihm an. Aufreizend wackelte ihr Hintern, mit ihrer Sturzeinlage auf der Türschwelle rechnete niemand.
Das Alleinsein mit Grete bedachte Schulze ohne ein sichtbares Überlegenheitsgefühl. Er setzte sich geradezu scheu, drehte die Milchtasse mit dem Henkel zu Grete, die ihn abwartend ansah.
„Das Amt bürdet mir die Pflicht auf, Deinen Mann standrechtlich zu erschießen“, erklang seine Stimme wie gedrückt. „Im Grunde gehört jedem von Euch eine Kugel aus meiner Pistole, da ein Feind der deutschen Volksgemeinschaft bei Euch Unterschlupf fand. Tue ich es nicht, bin ich eine Drecksau, wie Ihr es seid. Verdiene auch ich eine Kugel. Was aber vermag die Festung eines jeden treuen deutschen Volksgenossen, die unabdingbare Pflichterfüllung, zu stürmen? In Schutt und Asche zu legen? Es ist die Liebe, wunderschöne Grete. In meinem Falle Deine Liebe zu mir. Lass Dir gesagt sein, in Deiner Gegenwart überfallen mich betörende Wonneschauder. Diese auszukosten in reizvoller Abfolge, macht alles andere vergessen. Sogar, was rede ich, den Treueschwur auf den Führer. Im Klartext heißt das, zwei wertvolle Menschen besiegeln einen Pakt von Liebe oder Tod. Vollbringe ein jeder von uns sein Opfer für die Liebe und das Leben.“
Grete wahrte im Schweigen ihre aufrechte Körperhaltung, mit gefalteten Händen und ohne Furchtmerkmale näherte sie sich ihrer Antwort: „Zu Befehl, Herr Ortsgruppenführer.“