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Kapitel 2
ОглавлениеDoktor Anton Wagner vermisste auf dem Weg zur Arbeit außer seinem neuen Freund nichts auf der Welt. Das halbfertige Stillleben eines Supermarktes und eine Ansammlung niedriger Gebäude prägten den Friedrichweg, ab hier strolchte seit mehreren Wochen ein augenscheinlich herrenloser Hund um den Historiker, spätestens nach der Einmündung in die Wismerkgasse stellte der Vierbeiner ein Höchstmaß an Zuverlässigkeit und Wiedersehensfreude unter Beweis. Wagner taufte das Tier Otto, zuweilen kantete die Kreuzung zwischen Border Collie und Retriever nach der Namensnennung treuherzig die Ohren ab. Otto leistete unterschiedlichen Verhaltensanweisungen Folge und Wagner dachte, ich liege richtig im Glauben. Der Hund schenkt dem Namen Gehör.
Im zunehmenden Unwohlsein, dass eine Menschenhand dem Tier leidvolles zufügte, senkte Wagner an diesem Montag sein Schrittmaß. Vergebens pfiff er lautstark, mit leiser, gedehnter Stimme rief er den Hund beim Namen. Im Kommandoton, mit Dehnungen und deutlicher Silbentrennung und zumeist gekoppelt mit Rundumblicken wiederholte er die Rufaktion.
Die Einsicht gegenwärtiger Erfolgsarmut und der beständige Glaube an das Halbsoschlimme leiteten den Mittvierziger zur Fleischerei Wohlfahrt, die sich an der Ecke zur Zufahrtsstraße Altes Dorf seit Anbruch der neuen Zeit wacker im Überlebenskampf schlug. Der kupferne Pferdekopf und die Jahreszahl Neunzehnhundertvierundzwanzig über der Eingangstür wiesen auf Gründungsgedanken und das bevorstehende hundertjährige Jubiläum des Geschäftes hin, ein Werbeaufsteller vor dem Schaufenster pries die Sonderangebote des Tages. Gonglaute verkündeten Wagners Eintritt in den kundenleeren Laden.
„Guten Morgen, Herr Doktor“, begrüßte ihn Hartmut Wohlfahrt im blitzsauberen Fleischerhemd hinter der Theke. „Wie immer?“
„Bedaure, heute nur für mich eine Bockwurst.“
Wohlfahrt krümmte den gedrungenen Körper, bis sich eine Sichtachse zu Wagners Füßen einstellte.
„Lief Ihnen Otto schon wieder weg?“
„Ich hoffe nicht“, drückte Wagner seine Kümmernis mit Zuversicht aus.
Wohlfahrt wickelte die Rindsbockwurst in knisterndes Papier, tütete sie werbeneutral ein, zögerte das Kommende etwas hinaus: „Heute Nacht pisste jemand gegen die Ladentür. Das war nicht Ihr Kumpan. Das waren die Hunde aus dem Asylantenheim, die sich hier Tag und Nacht herumtreiben. Der kürzeste Weg vom Domplatz zum Nachtlager geht leider Gottes geradewegs bei mir vorbei.“
„Wenn Otto der Schuldige ist“, beeilte sich Wagner zu sagen, „trage ich selbstverständlich die Unkosten der Reinigung“.
Wohlfahrt lächelte gezwungen: „Dieser Tage trat ich frühmorgens beinahe in einen Scheißhaufen. Den drückte unter Garantie der Arsch eines Zweibeiners auf den Bürgersteig.“
Wagner schwieg im Unwohlen, Wohlfahrt versteifte sich auf eine Mutmaßung: „Der Haufen und heute Nacht die Pisse, das kommt nicht von ungefähr, Herr Doktor. Damit drücken die Asylanten ihre wahre Gesinnung aus. Sie scheißen und schiffen auf uns Deutsche.“
Wagner wiegte in gleichbleibender Gemütslage den Kopf, vollstreckte seine Meinung: „Die Worte, die Worte, Herr Wohlfahrt“.
Wohlfahrt wandte sich allerlei Handgriffen zu, Wagners Augen schweiften zum Blickfang des pieksauberen und halbhoch weiß gefliesten Ladens ab. Oberhalb gerahmter Meisterurkunden hing ein Zaum aus dunklem Leder, den helle Karius-muscheln belegten. Wohlfahrt fertigte ihn in aufwändiger Handarbeit nach historischem Vorbild und in Teamarbeit mit seiner Tochter Janine. Mit ihrer Ausbildung als Gärtnerin fand sie keine Arbeit, ab dem späten Vormittag machte sie sich im Geschäft der Eltern nützlich. Nach Dienstschluss kaufte Wagner im Geschäft mehrmals pro Woche vier Wurstscheiben in ewiggleicher Sortenwahl als Abendbrot, zu diesem Zeitpunkt bediente die junge Frau allein im Laden. In Wagners Gegenwart errötete das kluge und hilflose Gesicht vor schamhafter Verliebtheit, bislang gab kein Wort ihre Gefühlslage preis.
Wagners ausgestreckte Hand wies zur Irrtumsvorbeuge auf den Wandbehang, er lobte: „Wie schön“.
Wohlfahrts Gesicht durcheilte eine Verwandlung ins Hochgestimmte: „Das Halfter im Original trugen seinerzeit die Pferde der Offiziere im zweiten Leibhusarenregiment Königin Victoria von Preußen“.
Wagner kannte die Geschichte aus dem Effeff, nickte wohlgefällig, fragte mit ernsthaftem Interesse: „Wie viele Mitglieder zählt inzwischen ihr Traditionsverband?“
„Zweiundsechzig, aber…“
Wagners Augen weiteten sich in Gemeinschaft eines milden Lächelns: „Aber?“
Wohlfahrt überreichte Wagner die Bockwurst, strich die abgezählten Münzen ein, senkte die Stimme, obwohl sonst niemand im Raum verweilte: „Aber wir werden mehr und mehr, weil wir unser Aufgabenfeld aufstocken. Wechseln gar unseren Namen. Aber egal, welchen Namen das Kind am Ende trägt. Wir sind wild entschlossen. Wir gründen eine Bürgerwehr.“
„Oh“, rutschte Wagner ohne Absicht heraus.
„Wir Bürger setzen uns zur Wehr. Gegen alles, was unser schönes Leben zur Sau macht. Wir schaffen Ordnung, die Einhaltung von Prinzipien und eine Sicherheit, die jeder Bürger hochgradig fühlt. Und Sie, Herr Doktor, laden wir herzlich für diese Zukunft ein. Als geistigmoralische Speerspitze unserer Wertegemeinschaft. Sozusagen.“
Der Augenblick überforderte Wagner. Betreten schaute er zur Seite, rettete sich alsbald in einen Blick zu seiner Armbanduhr.
„Oh, gleich neun. Ich muss und möchte“, lächelte er gezwungen, probte einen Scherz: „Sonst entlässt mich der Herr Direktor in die Qualen des Nichtstuns.“
Wagner steckte die Kaufware in die Aktentasche, die eine Flasche Mineralwasser barg sowie eine Laufmappe mit befristeten Leihgaben, die wertvollen Originalbriefe entstammten dem Wismerk-museum in Potsdam. Trotz fortgeschrittener Zeit wahrte der mittelgroß gewachsene, drahtige Mann mit den haselnussbraunen Augen, aufrechten Schultern und dem geradlinigen Seitenscheitel im volldunklen Haar das Spaziergängerartige. Fragen über das gerade Gehörte bedrängten ihn nicht, indessen plagte ihn seit Tagen die Problemstellung, ob seine bisherigen Erkenntnisse über das zwischenmenschliche Sündenregister im Wismerk-geschlecht einen größeren Artikel lohnt oder gar genug Stoff für eine Artikelserie bietet.
Nach dem Schwenk in die Haupteinkaufsstraße postierte sich die Sonne grell vor ihm. Ihm schoss das Wort Himmelswächter in den Sinn, beschwingt dachte er, der Bote Gottes, was er uns täglich an irdischer Lebensfreude überbringt. Der Anblick dreier herumalberner Mädchen wärmte Wagner ebenso, zudem das Draufloslaufen eines Kleinkindes in Richtung eines älteren Mannes, der in gebückter Haltung die Arme weit ausstreckte. Wagner fiel auf, dass ein Eineuroladen eine Pelzboutique ersetzte und das Nachbargeschäft, dessen Auslage bislang hochfeine Schokoladen in eigener Manufakturherstellung anpries, eines Nachmieters bedurfte. Die Geschäftsaufgabe der Manufaktur für süße Augenblicke bedauerte Wagner, er verkehrte hier regelmäßig in kurzen Abständen. Nie verließ er das Geschäft ohne Biancoschokolade, in der
Nuancen von Vanille und Honig den Duft frischer Milch anreicherten. Die Gaumenfreude streichelte Mon Lubanas Seele. Eine Tafelhälfte verschlang die junge Frau vor der beiderseitigen Willensbekundung, den Rest im Zuge innerer Nachbereitung.
Kerngesunde Altbaumbestände von Eichen und Linden rahmten das Wendaler Preußenmuseum von drei Seiten. Der Backsteinbau mit Satteldach umfasste drei Etagen, vom Keller zweigte ein verschütteter Tunnel ins Unerforschte ab. Seitliche Ziergiebel, ein Turm mit einer Glocke und einer vergoldeten Wetterfahne sowie die Sandsteinfigur des Heiligen Mauritius am Nordgiebel reicherten die äußere Schlichtheit an. Die Eingangshalle bestach durch vier Kreuzrippengewölbe auf achteckigen Säulen, Fresken mit biblischen Themen erbaten eine aufwändige Restaurierung.
Das Museum verkehrte in Augenhöhe mit den Schwestereinrichtungen in Potsdam und Köln, Wagners Veröffentlichungen in namhaften Publikationen mehrten den ausgezeichneten Ruf des Hauses unter Fachleuten. Die Besucherzahlen erlitten seit Jahren eine rückläufige Entwicklung, die als einzige Gegenmaßnahme mehrfach heraufgesetzten Eintrittspreise beschleunigten die Abwärtsspirale.
Wagners Büro lag direkt über dem Schutzpatron, zählte mit seinen vier Fenstern zu den stattlichsten Räumen im Haus. Allein das Vorzimmer maß die Größe der zwei größten Mitarbeiterzimmer, die jeweils drei Schreibtische beherbergten. Nach dem Vorruhestand seiner Sekretärin Sieglinde Meyer standen Wagner seitdem Praktikantinnen mehr und weniger hilfreich zur Seite, ihre Eingewöhnungsphase durchlebte gerade Ariane Schönwald. Die Tochter des Geschäftsführers eines Großhandelsunternehmens glänzte mit einem Einskommanull-abitur, vor dem Studium der Politikwissenschaften und der Weltreligionen in München behagte ihr ein praktisches Jahr. Das Bewerbergespräch führte Wagner persönlich, Ariane überflügelte zwei auf dem Papier gleichwertige Mitbewerberinnen. Als Einzige mied sie einen kurzen Rock, ein munterer Schlagabtausch über die Politik der gegenwärtigen Bundesregierung überzeugte Wagner vollends. Nach Wagners Entscheidung bebte Ariane vor Begeisterung, sie lohnte ihm die Wahl mit einer stürmischen Umarmung und einem Wangenkuss. Ab dem ersten Arbeitstag glänzten ihr starrköpfiger Wahrheitsdrang und ihr findiger Recherchefleiß, Wagners Vorteilsnahme äußerte sich überdies in ihrer haushohen Überlegenheit im Gebrauch von Social Media. Tag für Tag behagte ihm zudem ihr abwechslungsreiches Outfit, schlichte Eleganz koppelte sie mit auffälligen Accessoires in Farbe und Form, die allesamt im Hochpreissegment siedelten. Ihren gruseligen Kaffee hakte er rasch als hinzunehmenden Übelstand ab, zuweilen dachte er frohgelaunt, sie kocht Kaffee in einer Art und Weise, dass mich jeder Schluck unweigerlich zu Mon führt. Auch Arianes Atemgeruch nach Mentholzigaretten störte ihn kaum, zu Anlässen außerhalb des Vorhersehbaren steckte er selbst einen Glimmstengel zwischen die Lippen.
Auf Wagners Schreibtisch dampfte der Kaffeepott, Arianes Computerausdruck seiner Tagestermine gestattete ihm nirgendwo eine Rückzugszeit für seine Liebe zum schrankenlosen Denken. Laut Plan traf um zehn Uhr eine chinesische Delegation ein, der Museumsdirektor halste Wagner das einstündige Herumführen auf, die Gruppe von Politikern und Wirtschaftsbossen einer wohlhabenden südchinesischen Provinz lotete die Ansiedlung einer Großproduktion von Haushaltshilferobotern mit dem Gütesiegel made in Germany aus. Als Begrüßungsgeschenk für die weitgereisten Gäste wartete eine voll erschlossene Gewerbefläche in riesenhaften Ausmaßen zum Nulltarif, zu den Mittwettbewerbern im Auswahlverfahren zählten nur noch Stuttgart und Hamburg.
In der Mittagszeit standen in der Druckerei letzte Absprachen für die Neuausgabe des Museumsflyers an, für dreizehn Uhr lag von Baron Werner Wismerk aus gegebenem Anlass eine Einladung zu einem Umtrunk in handverlesener Gesellschaft vor, die Rückübertragung des Anwesens Schloss
Döbbelau an die angestammten Eigentümer jährte sich zum dreißigsten Mal. Die Wochenbesprechung mit Museumsdirektor Professor Doktor Klaus
Richter montags um fünfzehn Uhr bürgerte sich als feststehendes Ritual seit Wagners Arbeitsbeginn vor zehn Jahren ein, die Zeit im Anschluss blockte Ariane für ein persönliches Anliegen, Doktor Lukas Falter erwartete seinen langjährigen Schulfreund zur halbjährlichen Zahnreinigung. Ariane notierte auch derlei Privattermine in den Terminkalender, das Zusammensein mit Mon verwaltete ausschließlich Wagners Kopf. Wagner süßte den inzwischen halbkalten Kaffee nach und dachte, was für ein guter Tag. Vorausgesetzt, Lukas raubt mir nicht die Lebensfreude.
Statt der Ankündigung von zehn Chinesen rollte eine schwarze Nobelkarosse mit vier Fahrgästen auf den gesonderten Parkplatz des Museums. Zu dieser Stunde stand auf der Schotterfläche nur Professor Doktor Egon Richters Auto, ein Mittelklassewagen mit Elektroantrieb. Wagner wartete den Gästen vor dem Eingang entgegen, ihre minutengenaue Pünktlichkeit freute ihn, im Anblick der Garderobe der Männer durchdrang ihn Unwohlsein. Durchgängig trugen sie tiefblaue Dreiteiler, die in modischen Experimenten Zurückhaltung übten. Sein Aufzug, Bluejeans und ein Langarmpoloshirt, wenngleich nach Mons Fürsprache in einer Nobelboutique der Stadt erstanden, kratzte an seinem Selbstwertgefühl. Noch am Morgen fühlte er sich überaus angemessen angezogen, letzte Prüfblicke vor dem Garderobenspiegel stärkten diese Ansicht.
Die rettende Idee entsprang ihm während des Begrüßungskaffees im Konferenzraum, den drei hohe Fenster üppig mit Tageslicht ausstatteten. Wagner raunte Ariane zu, die Gäste ordentlich mit Nachschub beim Baumkuchen und bei den warmen und kalten Getränken in Laune zu halten. Verstohlen zog er sich zurück, eilte die Treppen hinab in den Keller. Sein Einfall hing griffbereit im Nussbaumschrank. Der blaue Rock, die gelbe Weste und die gleichfarbige Hose kleideten Wagner wie Maß genommen, ebenso die Stiefel und der Dreispitz. Die Schärpe, das Portepee, der Ringkragen sowie die Straußenfeder an der Hutkrempe vervollständigten den Originalaufzug, der Wagner bereits mehrere Male schmückte. Im Ankleiden dachte er über die letztmalige Nutzung nach, wahrheitsgetreu fiel ihm Sieglindes Abschiedsfeier ein.
Mit gezücktem Säbel trat Wagner seinen Gästen entgegen, rief den allgegenwärtigen Flüstertönen zu: „Meine Herren, vor Ihnen steht ein preußischer Infanteriegeneral, bereit zum Kampf für Freiheit und Vaterland“.
Die Chinesen, alle um die Fünfzig, lächelten feinsinnig mit reichlich Kopfnicken, spendeten höflichen Beifall. Während des Rundganges erwiesen sie sich als wache und dankbare Zuhörer, Wagners lobenswertes Englisch tat sein Übriges für bleibende Eindrücke. Zur menschengroßen Bronzestatur, Wagners Lieblingsort in seiner Arbeitsstelle, stieß die Gruppe nach einer halben Stunde.
Wagner legte den Säbel auf die Schulter der Figur, redete sich ins Leidenschaftliche: „Nach der Katastrophe von Achtzehnsechs, dem Triumph Frankreichs über Preußen,
marschierten alsbald erste Truppenteile des Siegers durch unser Land und sorgten für Angst und Schrecken. Allerdings strahlte auch Licht in jener Zeit, denn das französische Recht beschnitt die angestammten Privilegien der Gutsherrschaft in drastischer Weise. Dennoch begingen die Menschen Frankreichs Niederlage im Russlandfeldzug mit einem Freudenfest. Sodann schlug hierzulande die Stunde Null der Gebote Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Der Baron stürzte im Alkoholrausch von der Freitreppe und brach sich das Genick. Am Tage seiner Bestattung in der Gruft der ewig Schlafenden packten Freiheitsgeister das Zepter und riefen die Republik Elbland aus. Das Volk jubelte dem Neuen zu und die bisherigen Machthaber leisteten keinen nennenswerten Widerstand. Die Traumrealität einer Volksgemeinschaft im löblichen Sinne währte drei Jahre. Zerstörung erfuhr diese Staatsform nicht von außen, den Einmarsch von Truppen aus Berlin, sondern durch höhere Umstände. Eine Missernte folgte der anderen, die Menschen litten unter Hunger und Mangel, Verteilungskämpfe brachen aus. Und von außerhalb ereilte keine Hilfe. Die Republik Elbland schwappte zurück in ein Land voller Unzulänglichkeiten, wenngleich auch zuvor nicht ausschließlich Harmonie und Eintracht, all die guten Tugenden göttlicher Schöpfung, herrschten. Hoffnungslos uneins waren sich die Akteure im Bleiberecht für Neuankömmlinge, die zunehmend scharenweise aus halb Europa eintrafen. Der eine, nun ja, rechte Parteiflügel stempelte sie als zusätzliche Mäuler ab, die sozusagen Parteilinken hießen sie indessen als Aufbauhelfer mit eigenen Ideen willkommen.“
Wagner dankte ohne übertriebene Höflichkeit für das geduldige Zuhören, die Entgegnungen der Gäste aus Fernost fielen einheitlich aus. Jeder der Vier zollte Wagner ehrlichen Beifall, das Lächeln drang zunehmend aus lebendigen Gesichtern. Wagner entging die feine Veränderung der Chinesen, begleitete sie bis zum Wagen. Der Fahrer, ein Chinese, sprang heraus, riss sämtliche Türen auf. Ein tiefes Verbeugen paarte ein jedes Hinsetzen auf die cremefarbenen Lederbezüge, Wagners Winken erwies den Gästen das letzte Geleit.
Im Vorgefühl einer kleinen Schwäche wählte Wagner für seine Verschnaufpause die Treppenstufen des Museumseinganges, rauchte mit langen Zügen eine filterlose Zigarette. Eine Schulklasse der benachbarten Gesamtschule schlenderte vorüber, einige Mädchen schnitten Grimmassen.
Die Lehrerin in Wagners Alter rief ihm fröhlich entgegen: „Das ist der Lauf der Menschheit, Herr Doktor. Zuerst erschuf der Mensch seine Kleidung und seitdem erschafft die Kleidung den Menschen.“
Wagner lüftete vor Anerkennung seinen Hut, umgehend reichte er ihn samt Säbel und Portepee der Frau hinter der Kassenscheibe zur Aufbewahrung. Fast pünktlich eilte er zur Druckerei, die Robert Müller als beruflicher Quereinsteiger führte. Über Wasser hielt er seine Firma mit der Methode, Schwarzgeschäfte in Eigenkapitalspritzen zu wandeln. Wagner wünschte die neue Museumsbroschüre quadratisch, geheftet und mit Reliefdruck, beide Seiten erlangten rasch Handelseinigkeit, für das Museum als Großkunde forderte Wagner keine ruinösen Sonderpreise ein.
Ein mausgrauer Elbsegler aus Schurwolle und Kaschmir staffierte den Chauffeur des Barons als ständiges Erkennungsmerkmal aus, an der Vorderseite der Mütze prangte in Zweieurogröße das Wismerksche Familienwappen. Erwin Feldmann wohnte in Wagners Straße, erwartete seinen Fahrgast vor dem Museum. Feldmann arbeitete einst als Traktorist in der landwirtschaftlichen Produk-tionsgenossenschaft, im Dienst seines heutigen Arbeitgebers verzehrte er sich seit der Jahrhundertwende. Die Folgen eines unverschuldeten Verkehrsunfalls banden seine Frau Rosemarie an den Rollstuhl, mühsam blendete er diese Schicksalstragödie aus. In Wagners Sichtnähe fing Feldmann mit dem Herbeiwinken an.
„Der Rest der Uniform liegt schon im Auto“, rief er dem Fahrgast zu. „Ihre Kollegin war so freundlich.“
Wagner pflanzte sich auf den Beifahrersitz, Feldmann lenkte das Auto bedächtig durch Straßen im Zustand von Flickschusterei.
„Wie geht es Ihrer Frau?“, fragte Wagner zwischendurch.
„Danke der Nachfrage. Ehrlich gesagt, sie verlässt kaum noch die Wohnung und leider schmerzen ihr die Augen beim Lesen immer mehr. All diese Einschränkungen fördern nicht gerade ihren Lebensmut.“
Im Zustand von Bedrücktheit sagte Wagner: „Wissen Sie was? Ab morgen besucht Ariane, meine Praktikantin, jeden Tag Ihre Gattin. Liest ihr die Zeitung vor oder ein Buch und fährt sie ein wenig durch die frische Luft. Ariane verfügt über diesen Freiraum, weil ihr die Arbeit leicht von der Hand geht. Ich nenne zudem eine dienstrechtlich freie Hand mein Eigen.“
Voller Rührung entgegnete Feldmann: „Es mag abgedroschen klingen, Herr Doktor. Vielleicht rettet Eure gute Tat meiner Frau das Leben.“
Das Wismerkanwesen untergliederte sich in eine Vielzahl von Gebäuden. Schiefer deckte sämtliche Dächer, ein einheitlicher Neigungswinkel zeichnete sie zudem aus. Gauben durchbrachen sie mannigfach, die Fassaden bestachen ausnahmslos in kirschrot und blütenweiß. Das Herrenhaus umfasste einen Mittelbau und vier Anbauten, zwei Flügel gingen zur Hofseite, auch die gartenseitig zwei Turmpavillons schmückten die hauseigene Postkarte. Freitreppen aus Sandstein führten zum gepflasterten Hof und zum parkähnlichen Garten. Mit dem Baumbestand von Birken und Buchen, künstlich angelegten Teichen sowie einer Vielzahl verwitterter Skulpturen weitete sich das Gelände über nahezu sechs Hektar, ein namenloser Bach markierte die längste natürliche Grenze.
Der Fahrzeugmix der handverlesenen Gästeschar engte die Dorfstraße ein bis zu den ersten, zumeist abgeernteten Feldern, Girlanden überspannten den gesamten Schlosshof, die weißen Tischdecken der Stehtische hingen weit in die Tiefe. Wagners Aufzug erntete zu gleichen Teilen Aufmerksamkeit und Nichtbeachtung. Der Ankömmling suchte zielgerichtet den Hausherrn, schüttelte gelegentlich eine Hand, sichtete ihn im Beisein der Gattin Eleonore. Sie entstammte einem dänischen Adelsgeschlecht, nannte begrenzte Besitztümer in der alten Heimat ihr Eigen, bewirtschaftete sie in streng ökologischer Ausrichtung. Landrat Erwin Radwerk und Oberbürgermeister Burkhard Ständer vervollständigten ein Stehquartett.
Wismerk überragte seine Gesprächspartner um mindestens eine Kopfhälfte, das Alter von fünfundsiebzig Jahren drängte nirgendwo zum Vorschein. Zum leicht ergrauten Igelschnitt gesellten sich ein unentwegt forscher Blick, extrem dunkle Augen, ein vorspringendes Kinn und eine feinporige Haut.
Der Hausherr begrüßte Wagner mit Handschlag und Schulterklopfen, rief froh gestimmt: „Ein preußischer Offizier ist hier immer ein gern gesehener Gast. Im Gegensatz zum Franzos. Oder diesen deutschen Vaterlandsverrätern.“
Wagner setzte die Begrüßung mit einem gehauchten Kuss auf den Glacéhandschuh der Baronin fort, die Verbliebenen am Tisch streckten Wagner mechanisch die Hände entgegen.
„Schade, dass Sie, Verehrtester, meine Rede versäumten“, wandte sich Wismerk erneut Wagner zu. „Ich stimmte darin ein Hohelied auf Ihre Person an, auf das, was Sie mit Ihrer exzellenten Öffentlichkeitsarbeit für meine Familie leisten. Dieser ganz vorzügliche Artikel in der Frankfurter Allgemeinen vor wenigen Tagen aus gegebenem Anlass setzt Ihrer Arbeit die Krone auf. Seitdem treffen zuhauf Busladungen aus dem ganzen Bundesgebiet ein.“
„Da klingelt die Kasse“, warf Ständer ein.
„Wir sitzen alle im gleichen Boot“, entfuhr Wismerk beschwingt. „Möge unterm Kiel immer ausreichend Wasser fließen.“
Wagner angelte sich vom Silbertablett einer jungen Partyserviceschönheit im weißschwarzen Dress eine Sektschale, suchte Wismerks Augen.
„Auf welcher Treppe kam Ihr Vorfahr zu Tode?“, warf er unvermittelt ein.
„Auf der Freitreppe in den Park. Seitdem, so die Überlieferung, finden sämtliche Lustbarkeiten unter freiem Himmel ausschließlich auf dem Hof statt.“
„Der Aberglaube und die Geschichte, wie wahr, auch ein weites Feld zum Beackern“, sagte Wagner.
Ständer spitzte den übergroßen Mund, warf ein: „Was sind Sie ohne die Geschichte, Doktor Wagner?“
Wagner wertete das Gehörte auf eine wohlwollende Weise, seine Augen entzündeten sich vor Verzücktheit: „Selbstverständlich, die Familie des Barons ist mein Steckenpferd, aber auch die Republik Elbland, dieses herausragende gesellschaftliche Experiment, mit dem unsere Heimat Geschichte schrieb. Vieles lagert hier noch im Dunklen.“
„Zum Beispiel?“, entsprang es Radwerks schmalen Lippen.
„Zum Beispiel die historisch verbriefte Tatenarmut des preußischen Staates gegenüber diesem eigenständigen Gebilde, diesem Staat im Staate. Hier bekenne ich, dass ich zuweilen im Vagen schwimme, mehr noch, meinen Ruf gefährde, indem ich nicht Hiebfestes und nicht Stichfestes in den Rang historischer Mutmaßungen erhebe. Zum anderen der Tod von Hans Wismerk. Steht sein Ableben tatsächlich in einem direkten Zusammenhang mit dem Ausbruch der Rebellion? Anders gesagt, ohne seinen Tod kein gesellschaftliches Experiment?“
„Trinken wir auf das Leben, auf das Hier und Heute“, mischte sich Eleonore stimmungsvoll ein, erhob ihr Gemisch von Sekt und Orangensaft.
„Und darauf, dass unsere schöne Heimat weiter auch durch die Wismerks in die Welt strahlt“, ergänzte Radwerk.
Dem kraftvollen Gläserklang folgte kurzes Schweigen, dem der Baron Einhalt gebot: „Nun lasset uns speisen, meine Herrschaften. Genießen Sie Eisbeinsülze, Blutwurst und Leberwurst, Tatar vom Rumpfsteak, die Kutscherpfanne, Kartoffelsuppe, Schwein am Spieß. Genießen Sie unsere geliebte preußische Hausmannkost. Das Essen spiegelt Teile unserer Tugenden. Bescheidenheit, Sparsamkeit, Ehrlichkeit, Heimatliebe.“
Im gemeinsamen Marsch zum Büfett suchte Wagner unauffällig Wismerks Nähe, raunte: „Nach ein paar Happen suche ich gern stillschweigend das Weite, Herr Baron. Der Termin mit dem Professor lastet mir im Nacken.“
„Wir verneigen uns auch vor Pünktlichkeit und Pflichtbewusstheit“, sagte der Andere und tätschelte Wagners Schulter. „Bis zum nächsten Mal, Verehrtester. Der Fahrer steht Gewehr bei Fuß.“
Wagner verzehrte mehr als gewöhnlich zur Mittagszeit, schreckte vor einer dicken Scheibe Spanferkel nicht zurück. Das Reuegefühl schwand mit jedem Bissen und er dachte, Otto schmeckt sowas auch. Treffe ich ihn am Abend, kriegt er wenigstens Wohlfahrts Bockwurst.