Читать книгу Elbland - Elmar Zinke - Страница 5
Kapitel 3
ОглавлениеRichter entfloh dem unmittelbar Bevorstehenden am Fenster. Der Sonnenstand inmitten der beiden Domturmspitzen lieferte ein bezauberndes Bild, der Halt der schwarzen Mercedeslimousine des Barons und Wagners Aussteigen holten Richter in die Gegenwart zurück. Die Tragik des Bevorstehenden kannte er seit drei Tagen, ließ sein Herz mehrfach ruckartig schneller schlagen. Ohne näheren Grund zog er die Vorhänge spaltbreit zu.
Der Zweiundsechzigjährige wahrte ein maßvolles Übergewicht, die auffällige Röte im fleischigen Gesicht bestätigte sich als angeboren und unabänderbar, seiner Bartpflege schenkte er mehr Einfallsreichtum als seiner Kleiderordnung. Seit vielen Jahren trug er an jedem Wochentag immer denselben Anzug, einzig die Wahl der Krawatte drückte das Unvorhersehbare aus. Der Professor galt als unumstrittener Kenner der preußischen Gesamtgeschichte, Universitäten in Frankreich und Polen würdigten seine speziellen Verdienste um die Aufarbeitung der Stellung Preußens zu ihren Ländern mit Ehrendoktorwürden.
„Guten Tag, Herr Kollege“, wahrte Richter den festen Klang seiner Stimme, setzte sich am Tisch Wagner gegenüber.
Wagner legte das Notizheft vor sich, schlug im Taschenkalender die aktuelle Woche auf, hielt den hochpreisigen Füllhalter schreibbereit.
„Ich hoffe, das Fest verlief ganz nach den Vorstellungen des Barons?“, kämpfte Richter gegen sein Unbehagen.
„Doch, ja. Ich erlebte eine Feierlaune völlig ungetrübt.“
Richter sammelte sich einige Atemzüge, seine Gesichtszüge entglitten ins Wehmütige.
„Doktor Wagner, ich überbringe schlechte Kunde“, brachte er hervor. „Das Kultusministerium verlängert nicht Ihren Vertrag.“
Wagners Augen und Gedanken irrten eine Zeit lang ohne Halt umher, wie betäubt druckste er: „Was bedeutet das?“
„Sie erhalten drei weitere Monate Ihre Bezüge, die andere Seite bittet aber um die Rechtschaffenheit, dass Sie Ihren Schreibtisch sofort und ohne öffentlichen Aufschrei räumen.“
Wagner bezeugte mit einem geöffneten Mund den zeitweiligen Mangel an Selbstkontrolle, stammelte: „Steht der Sparzwang im Vordergrund, also, es genügt mir durchaus weniger.“
„Ich weiß nicht um die Gründe Ihres zwanghaften Ausscheidens. Ich weiß jedoch, welch großer Verlust Ihr Weggang für uns bedeutet. Und ehrlich gesagt, ich verstehe auch nicht, weshalb der Landrat keine Bresche für sie schlug. Ohne das Einverständnis des Landkreises ist eine solche Maßnahme schwer möglich.“
„Den Landrat traf ich gerade“, entfuhr es Wagner verstört. „Er ließ sich nichts anmerken. Oder doch? Keine Ahnung.“
„Dahinter steckt womöglich ein Angriff auf unsere Forschung, Ihre im Speziellen. Manchen Leuten schmeckt offenbar Ihr Drang zur lückenlosen Darstellung dieses historischen Experimentes nicht.“
„Die Republik Elbland stellte sich mit ihren tiefgreifenden Veränderungen gegen die Ordnung im Allgemeinen. Es war ein Angriff auf die bestehenden Verhältnisse, wenngleich bestückt mit Schwächen, Fehlern, Widersprüchen. Wem passt die Geschichtsschreibung nicht in den Kram?“
Richter gebar ein unwissendes Lächeln, sagte: „Ihnen steht freilich das Recht zu, Einspruch zu erheben“.
„Der Einspruch setzt die Kündigung bis zur Urteilsfindung nicht außer Kraft, zudem übe ich meinen Dienst nur im Einvernehmen mit den Verantwortungsträgern aus.“
„Ich verstehe Sie und handelte nach den gleichen Grundsätzen“, pflichtete ihm Richter bei. „In allem tröstet mich der Umstand, dass sich Ihnen gewiss ein Füllhorn beruflicher Möglichkeiten bietet. Vielleicht macht Ihnen der Baron ein Angebot als eine Art Öffentlichkeitsverantwortlicher seines Hauses. An den Finanzen scheitert ein solches Amt sicher nicht. Oder der Elblandbote stellt Sie als Redakteur ein. Zum Herausgeber des Blattes pflegen Sie bekanntlich ein freundschaftliches Verhältnis.“
„Freilich, jedes Ende birgt die Chance des Neubeginns“, überkam es Wagner beherrscht. „Überdies befolgte meine Familie schon immer den Grundsatz, jede Arbeit ist besser als keine Arbeit. Mein Vater arbeitete nach der Einheit Deutschlands als Handelsvertreter für Baumaterialien, obwohl er das Diplom als Bauingenieur erwarb und zu DDR-Zeiten dem städtischen Bauamt vorstand. Meine Mutter leitete früher das hiesige Interhotel, das beste Haus am Platze. Nach der Wende machte sie sich mit einer Mittagessenversorgung zu kleinen Preisen selbständig.“
„Führen Ihre Eltern nicht einen landwirtschaftlichen Betrieb?“
„Das stimmt. Aber bis meinem Vater der Besitz seiner Eltern übertragen wurde, verstrichen lange Jahre… Also, wenn nichts fruchtet, Arbeit fällt auf unserem Bauernhof immer mehr als genug an. Der Gesellschaft falle ich niemals zur Last.“
Richter wirkte nachdenklich, unterbreite Wagner seinen Vorschlag zögerlich: „So Sie Ihrer bisherigen Forschungsarbeit die Treue halten, nutzen Sie doch gern weiter unser Archiv. Was im Übrigen keinen Rechtsbruch beinhaltet. Sie unterliegen keinem strikten Hausverbot und das Archiv steht jedem Bürger offen.“
Wagner führte nachdenklich das erste Mal seine Kaffeetasse zum Mund, fragte: „Was geschieht mit Ariane?“
„Für sie finden wir eine ebenbürtige Beschäftigung“, versicherte ihm Richter.
„Mich erfüllt eine inständige Bitte, Herr Professor“, zeigte sich Wagners Stimme geradezu flehentlich: „Ich versprach Feldmann, dem Fahrer des Barons, dass Ariane sich während der Dienstzeit um seine schwer kranke Frau kümmert. Feldmanns Zwischentöne klangen eindeutig. Es besteht bei ihr Suizidgefahr. Ariane steht dieser Nebenarbeit offen gegenüber. Sie ist ein guter Mensch.“
„Auch für dieses Anliegen finden wir eine Lösung.“
Am Schreibtisch überflog Wagner die Termine dieser Woche, den Stapel unerledigter Briefe, die lange Liste offener E-Mails. Was bedeutet ´sofort`?, dachte er vor sich. Heißt das, zehn Jahre enden von einem Augenblick zum anderen? Ein Ende, schlagartig herbeigeführt wie durch einen Verkehrsunfall, einen Blitzschlag, die Patrone aus einer fremden Waffe?
In den Schreibtischfächern stellte er einen auffälligen Mangel privater Gegenstände fest, in der Hauptsache beschränkte sich das Persönliche auf sieben Modelle von DDR-Fahrzeugen. Wagner strich über einen Miniwartburg Dreihundertdreiundfünfzig und dachte, Sieglinde schenkte mir jedes Jahr zum Geburtstag ein Einzelstück dieser Art. Im Überreichen der ersten Gabe äußerte sie den Wunsch eines gerechten Urteils der Geschichtsschreibung über die DDR. Gerecht nicht zuletzt im Sinne des Verzeihens und Vergebens. Ich weiß nicht mehr, was ich sagte, aber wahrscheinlich blieb ich stumm. Gerechtigkeit in der Geschichtsschreibung, wahrlich, auch ein weites Feld. Aber…
Wagners Handy meldete sich mit dem Klingelton eines langsamen Walzers. Er sah Mons Namen auf dem Display, glitt über den grünen Punkt.
„Hallo meine Schöne“, sagte er mit flugs gereifter Turtelstimme.
„Hallo Liebling“, hörte er ihre helle Stimme in steter Aufregung. „Wir heute Termin. Du mich nicht vergessen.“
„Ich vergesse Dich nie. Aber vielleicht fällt meine Stimmung heute nicht gut aus.“
„Welche Laus über Leber laufen?“
„Ich habe gleich beim Zahnarzt einen Termin.“
„Zahnarzt. Oh weh. Ich Trost spende mit allem, was habe ich.“
Um seinen Mund spielte ein unsicheres Lächeln und er dachte, die Notlüge wächst für das Leben als Heilpflanze. Wenngleich sie ausschaut wie eine Missgeburt.
Der Tag sandte am späten Nachmittag eine angenehme Milde aus. In den Außenbereichen der Boulevardcafés blieb kein Stuhl unbesetzt, die Umrandung des Jungfrauenbrunnens beschlagnahmten zumeist Jugendliche mit schwarzen Jacken aus Kunstleder, dunklen Markenjeans und südländischem Erscheinungsbild. Zwei junge Frauen mittendrin hielten ihre Augen hinter Sonnenbrillen geschlossen, ihre derben Gesichter kanteten sie ins Horizontale. Männliche Anzüglichkeiten durch Worte, Pfiffe und Gejohle straften sie durch Nichtachtung.
Falters Praxis mit hochmodernen Gerätschaften befand sich unweit des Domplatzes in einem Haus, dessen nüchterne Hässlichkeit im Angesicht der Nachbarschaft nicht auffiel. Trotz eines vollen Wartezimmers rief die Sprechstundenschwester Wagner als nächsten Patienten auf, auch Wagners untätige Liegezeit auf dem Behandlungsstuhl mit anatomisch geformter Sitzfläche hielt sich in Grenzen. Falter bohrte seinem Patienten zur Begrüßung den Zeigefinger in den Oberarm, das Vorgeplänkel beschränkte er auf das Übliche zwischen zwei Männern mit der gemeinsamen Schulzeit als einziges wesentliches Bindeglied.
Als Falter ein warmes Gemisch aus Wasser und Reinigungssalz in Wagners Gebiss sprühte, fragte er durch seine Mundschutzmaske: „Was meinst Du, wer macht am Sonntag das Rennen?“
In Anwesenheit der Gerätschaften im Mund brummte Wagner schwer Deutbares. Der Aufforderung zum Wasserspülen kam er mit Erleichterung nach, herauslaufender Speichel nötigte ihn zum mehrmaligen Spucken in das untertassenkleine Edelstahlbecken.
„Keine Ahnung“, holte Wagner seine Antwort nach.
Falter polierte mit einer rotierenden Minibürste ausgiebig die Zahnoberflächen, behandelte das Gebiss mit Fluoridlack.
Mit dem Unterton des Nichtwahrhabenwollens sagte er: „Sag mal, stimmt es, dass Heilmann, der Spitzenkandidat der Deutschalternativen, Dein bester Freund ist?“
Wagner sandte vermehrt Brummtöne aus, schlitzte die Augen. Das Endausspülen der Mundhöhle beanspruchte zwei Wassergläser, dankbar empfing Wagner eine Handvoll Kosmetiktücher zum Mundabwischen.
„Marcus Heilmann ist, was kaum einer weiß, Herausgeber des Elblandboten“, wich Wagner der Frage aus. „Maßgeblich ihm verdanke ich, dass mir die Zeitung für mein Schreibbedürfnis im Grunde jeden Platz einräumt.“
Falter streifte die Maske ab, lächelte schief im Vorgefühl eines kleinen Sieges: „Gut zu wissen. Gerade mit Blick auf diese Personalunion besitzt die Sonntagsfrage, die das Blatt gestern verbreitete, einen bitteren Beigeschmack. Sag das Deinem Freund. Diese Zahlen quasi aus seinem Mund stuft der mündige Bürger als billige Meinungsmasche ein.“
„Ich sehe ihn frühestens am Wahlsonntag.“
Im Freien hörte Wagner sechs wuchtige Schläge der Domuhr, atmete die herbe Frische seines Mundgeruches. Erstmalig nahm er Notiz von den jungen Ausländern am Brunnen, die das Frauenpaar im gesitteten Abstand umringten, Handybilder schossen. Das achtlose Vorbeilaufen einer Fußstreife der Polizei stärkte Wagners Glauben einer nicht bedrohlichen Grundstimmung. Am Bratwurststand kaufte er eine Boulette mit Brötchen, zahlte für die dreifache Portion Senf einen Zusatzbetrag, ließ sich in Hörnähe der jungen Flüchtlinge nieder. Eine Ansammlung zweitrangiger Fragen beherrschte ihn, bis Mon vor sein geistiges Auge trat. Sein Glied rückte von seiner Ruhestellung ab, eine Hochstimmung erfasste ihn. Sie ist göttlich schön, dachte er und vergegenwärtigte sich die Zeit.
In den zehn Minuten Wartezeit bis zum Miteinander versank er in maßvolle Verbitterung. Die Neuauflage dieser Grausamkeit erspart mir hoffentlich meine Vernunft, dachte er und ohne die Möglichkeit einer Gegenwehr tischte ihm die Erinnerung auf, dass er zwei Jahre zuvor vorzeitig läutete. Die Hauseingangstür gab von innen nach, bevor der Einlasssummer ertönte. Ein stämmiger Mann in Zimmermannsmontur und mit winzigen kreisrunden Ohrringen grinste ihn frech an, in seiner Augenhöhe bog er Daumen und Zeigefinger der rechten Hand kreisrund, der linke Zeigefinger stach unentwegt in das Luftloch. Arbeit im Stundentakt, wiederholte Wagner das damals Gedachte. Sie ist nicht nur schön für mich.
Als Mons Haustür in greifbarer Nähe aufging, schreckte er furchtsam zusammen, die heraustretende Frau mit einer Einkaufstasche und einer Gehhilfe würdigte ihn keines Blickes. Wagner huschte durch die Tür, horchte an Mons Wohnungstür, die Wahrnehmung völliger Stille beruhigte ihn sichtlich.
Die schmalgesichtige Frau erschien im schwarzen ärmellosen Kleid, dessen vorderer Spalt die Seide über die gesamte Brusthöhe teilte. Das Rückenfreie der Neuanschaffung reichte beinahe bis zur Gesäßtiefe, filigrane Sandaletten mit goldenen Absätzen hoben Mon um beinahe eine halbe Kopfgröße an. Die dunklen Augen sandten unaufhörlich Kraft und Hingabe aus, Lidstriche zauberten sie ins Größere. Die schmalen Lippen schminkte sie meist pink, grundsätzlich beschichtete Klarlack die spatenförmigen Fingernägel. Glatt und nabellang hing das rostbraun gefärbte Haar herunter, die einseitige Bündelung leistete einen Zusatzbeitrag zu Wagners Gefühlsaufschwung.
„Ich lange auf Dich warten“, schmollte Mon unterschwellig, auch die sofort einsetzende lächelnde Milde und der gehauchte Mundkuss zählten zum Brauchtum der Begrüßung.
„Wie schön Du bist.“
„Kleid nur für Dich.“
Weiße Wände, leichte Holzmöbel und eine Vielzahl von Topfpflanzen bestimmten die Dreizimmerdachwohnung mit einer Wohnküche und zwei Bädern, auffällig überspitzte Mon ihre Vorliebe für die Farbe Rot. In der Oberfläche der Küchenmöbel behagte ihr die vorherrschende Farbe kirschrot, im Schlafzimmer strafften die vier Holzsäulen des Bettes ein kirschrotes Segel dicht unter der Decke. Wandfächer aus Stoff mit zwei blutroten Drachen kleideten das Arbeitszimmer aus, im Arbeitsbad markierte die kaminrote Klobrille den hervorstechenden Farbpunkt. Im Vorausgehen in ihre Welt des Wohnens und Arbeitens setzte Mon kleine Schritte, die reale Sprache des schmalen Rückens und der breiten Hüfte übersetzte Wagner vollkommen richtig.
„Du trinken Weißwein oder nicht dürfen?“, sagte sie im Wohnzimmer. „Wegen Arzt für Zähne.“
„Beim Zahnarzt war alles gut.“
„Dann alles gut“, lachte sie innig, holte aus dem Kühlschrank Wagners Lieblingsmarke Chateau Bonnet, Jahrgang Zweitausendneunzehn. Wie üblich schenkte er für sie die Hälfte seiner Menge ein, wie immer nippte sie am Glas. Anders als sonst schüttete Wagner die Gesamtmenge in sich.
„Nicht alles gut?“
„In der Zeit mit Dir ist alles gut.“
„Ich heute ganz viel Zeit für Dich. Wenn Du willst, ganze Nacht. Und frühstücken. Du holen frisch Brötchen.“
„Ich…“
Wagner hielt beschämt inne, Mon wusste um den unterdrückten Restsatz.
„Alles gut“, lachte sie schrill auf. „Nix Geld mehr.“
Ihr Mund schoss gegen Wagners Lippen, die im Überfallartigen Geschlossenheit wahrten.
„Anton, alles gut. Für immer.“
Zierliche ringfreie Hände begradigten die Finger seiner rechten Hand, leiteten sie zu ihrem Mund, während der Wegstrecke schabten gelegentlich ihre Fingernägel. Mon leckte jeden Finger mit zärtlicher Hingabe. Der Daumen entschwand vollends in ihrem Mund, erfuhr von der energischen Zuwendung ihrer Zunge und im allmählichen Sichtbarwerden ihrer schönen Zähne von deren lustreicher Bissfestigkeit. Seine sonderbehandelte Hand strich über ihr Kleid, die Beschaffenheit erlaubte sofortige Streicheleinheiten ihrer kleinen, festen Brüste. Im Anschluss glitt die Hand unter ihr Kleid, stellte das Fehlen ihres Slips fest. Wagner schob das Kleid hüfthoch, küsste ausgiebig ihr rundes, straffes Gesäß. Abrupt winkelte sie ihren Körper über die leicht klebrige Ledercouch, mit heruntergelassener Hose drang er von hinten in ihre rasierte Scheide.
„Im Schlafzimmer mehr Bumbum“, empfahl sie, als er nach verbissener Heftigkeit innehielt. „Himmelbett.“
Die Tagesdecke des Zweimalzweimeterbettes lag sorgfältig gefaltet zwischen dem vollgestellten Nachtschränkchen und der sitzenden Buddhafigur aus Flussstein. In völliger Nacktheit gab Mon ihrem restlos entkleideten Gegenüber seine Liegestellung zu verstehen, belohnte seine Folgsamkeit mit Knabbereinheiten seiner Brustwarzen. Der bestens bewährte Reizauslöser legte die Lunte an seine innere Explosion, für den Ausbruch genügten ein Stellungswechsel und ein Mindestmaß seiner Regungen in ihr. Nach ihrem Auseinandergehen wähnte Wagner sie alsbald im Kurzschlaf, ihre Hand auf seinem Nabel stellte die körperliche Verbindung her. Er genoss das Dahindämmern im Stillliegen, der Tatbestand seiner Kündigung sickerte nur zeitweilig in seine Gedanken ein. Was wird aus uns?, mengte er an dieser Stelle die Wirklichkeitszustände und dachte alsbald mit zugeschnürter Kehle, ohne meine Dienstbezüge ergraut sie woanders noch mehr im Dienste.
Wagner flüchtete vor seiner Wahrheit, stellte sich ans Fenster. Die Straße unter ihm sank in eine menschenleere und spärlich erleuchtete Dunkelheit, kein Geräusch drang von außen in diesen Lebensbestandteil, den er sich zwei Mal pro Woche leistete. Das Auflodern von Licht am südlichen Rand der Altstadt bemerkte er unterschwellig, ihn erfasste Zukunftsangst. Sich einstellende Wehmut blockierte die Suche nach Gegenentwürfen, Tränen kugelten über die Wangen. Ich verliere sie, dachte er fassungslos.
„Warum Du mich lässt allein“, hörte er Mons Stimme wie aus weiter Ferne.
„Ich gehe kurz unter die Dusche“, zwang er eine fast nüchterne Tonlage herbei.
Das Wasser aus der Edelstahldusche stellte er in die Maximaltemperatur, dem schmerzhaften Einwirken des Wassers widerstand er mit zusammengebissenen Zähnen. Dampf umhüllte seine Nacktheit, beschlug sämtliche Glasflächen. Im allmählichen Übergang mischte er das Wasser ins Handwarme, die Gesamtoberfläche des Gesichtes kostete diesen wohltuenden Zustand längere Zeit aus. Mit einem sorgsam abgetrockneten Körper und einem weißen Frotteehandtuch um sein Mittelteil kehrte er zu Mon zurück, die in einer aktuellen Modezeitschrift blätterte, in seiner Gegenwart das Blatt zu Boden warf.
Mit dem Senken der Augenlider brachte sie ihre verlängerten Wimpern wirkungsreich zur Geltung, sagte: „Du nicht satt. Du komm zu mir. Haben Zeit.“
„Nutzen wir die Zeit für einen kleinen Spaziergang“, schlug er vor. „Ein gemeinsamer Ausflug ist unser neues Erlebnis.“
„Ich nicht wissen“, hielt sie sich bedeckt. „Gehe immer nur fix zum Einkaufen zu Menschen.“
„Die Dunkelheit schützt uns vor neugierigen Blicken, außerdem begegnen wir kaum einer Menschenseele“, beharrte er.
„Gut. Ein bisschen. Ich ziehe Jacke mit Kapuze an.“
Vor der Haustür kündigte sich mehrfaches Sirenengeheul an. In dichter Folge rasten Einsatzfahrzeuge der Polizei und der Feuerwehr über das Kopfsteinpflaster in Richtung Süden, zwei Erste-hilfepaare von Rettungsfahrzeug und Notarztwagen reihten sich an. Wagners suchender Blick fand nichts Auffälliges, mit sprachloser Verblüffung folgte das Paar dem Rettungstross zum Tatort. Martinshörner hallten vielerorts durch die Stadt, die Mischung aus Sensationsgier und Argwohn füllte die Bürgersteige mit Menschen in Freizeitkleidung.
Angsterfüllt hakte sich Mon bei Wagner unter, zeitweise umschloss sie fest seine Hand, presste ihren Körper an ihn. Aus irgendeinem Grund schob sie ihre Kapuze vom Kopf, warf ihre Haare über die Schulter. Im offenen Fenster über seiner Stammfleischerei deutete er Wohlfahrts Kopf. Wagner scheute den Blickkontakt, wechselte abrupt die Straßenseite, schleifte Mon in die nächste Seitengasse.
„Gehen zurück. Gut“, sagte sie.
„Ich pinkele nur schnell“, log er in seiner Erklärungsnot. „Dann schauen wir, was passiert ist.“
Wagner presste einige Urintropfen in das ausgedörrte Gras, im Anschluss drosselten sie ihr Schrittmaß. Auf der nächstgrößeren Straße strömte Menschengewimmel dem Brandort entgegen.
Die Grundschule Freiherr-vom-Stein stand über ein Jahr leer. Sie zählte zu den jüngsten Flüchtlingsheimen der Stadt, erst Wochen zuvor bezogen zweiundfünfzig Personen aller Altersgruppen das Backsteingebäude aus dem vorletzten Jahrhundert. Zeitgleich mit der Ankunft des Paares brach ein Teil des Dachstuhles krachend ein, funkensprühende Flammen schossen in den Nachthimmel empor. Auch aus zahlreichen Fenstern schlug das Feuer, explosionsartig zerbarsten Fensterscheiben.
Wasserstrahlen schossen aus zwei Richtungen in die Hauptbrandstelle Schrägdach. Feuerwehrleute in Schutzanzügen und Gasmasken stapfen durch den Haupteingang, begleiteten zumeist kleinere Kinder mit übergeworfenen Decken ins Freie, einzelne Bewohner kletterten über die lang ausgefahrene Leiter eines Feuerwehrautos in Sicherheit. Inmitten der Rettungskräfte sichtete Wagner den Kameramann des Stadtfernsehens Fred Grabowski und Norbert Schlächter, den Fotografen des
Elblandboten.
Mit einem entsetzlichen Schrei stürzte aus dem obersten Stockwerk eine ältere Frau als krummer Schatten in die Tiefe. Sanitäter und Feuerwehrleute eilten zum Unglücksort. Aus der gesplitterten Schädeldecke des Opfers floss Blut zur Lache, der Notarzt bestätigte den Tod der Frau. Grabowski richtete die Kamera in nächster Nähe auf die Unglücksstelle, neben ihm blitzte Schlächters Fotolicht unentwegt auf. In direkter Nachbarschaft führten zwei Polizisten ein zwangloses Gespräch.
Ohne Gegenwehr durchbrachen Schaulustige die rotweißen Absperrbänder der Polizei, näherten sich unerschrocken der Brandstelle. Aus umliegenden Schattenfenstern wehte vereinzelt die Kreuzflagge in den Farben Schwarz, Gold und Rot, lang gezogene Pfiffe, Gejohle und Händeklatschen ertönten. Aus der dastehenden Menschenmenge hielten zuhauf Handys das einschneidende Ereignis fest, inmitten der Zuschauerschar brach eine junge Frau ohnmächtig zusammen.
„Bitte fort“, flüsterte Mon.
Wagner spürte ihr Körperzittern, seine Augen wanderten für letzte Eindrücke über die mystisch anmutenden Lichtgegensätze, im Losgehen umfasste er fürsorglich ihre Schulter.
„Nun enthüllen Hass und Wahn auch in unserer Stadt ihre Fratze.“
Wagner löste sich von Mon, suchte nach der bekannten Stimme, deutete im Schein einer aufglühenden Pfeife das Gesicht von Norbert Wunsch. Der vollbärtige Mann mit den gütigen Augen, den breiten Schultern und Fleischerhänden trug sein Hemd und sein Jackett geschlossen. Er stand in Begleitung einer älteren Frau, deren Angst sich in körperlicher Befindlichkeit ausdrückte. Keiner erhob sichtbar Besitzansprüche vom Anderen.
„Guten Abend, Herr Pfarrer“, sagte Wagner mehr schamhaft als erfreut.
Wunsch saugte einen Zug aus der Pfeife, streifte Mons Gesicht, sagte betroffen: „Vor uns brennt ein Scheiterhaufen unserer Zeit. Wie im Mittelalter legt hasserfüllte Unwissenheit die Lunte. Und wie der Mob damals der Grausamkeit der Blindgläubigen zujubelte, so tut er es auch heute.“
„Ist die Brandursache derart eindeutig?“, fragte Wagner bedrückt.
„Mein Freund, der Polizeichef, den ich gerade sprach, meinte, es handele sich nach menschlichem Ermessen um Brandstiftung. Das Feuer brach zeitgleich an mehreren Stellen aus, zudem griffen die Flammen rasend schnell um sich. Ein deutliches Zeichen für die Verwendung von Brandbeschleunigern.“
„Sind weitere Opfer zu beklagen?“
„Den Tod einer Frau haben wir alle live miterlebt. Von weiteren Todesopfern weiß ich nichts. Verletzte mit Sicherheit. Schwerverletzte? Hoffentlich nicht.“
Wagner spürte Mons heftige Klopfzeichen am Gesäß, sagte: „Wir ziehen uns zurück, Herr Pfarrer.“
„Beileibe, im Moment bleibt uns nichts weiter übrig“, entfuhr es Wunsch traurig.
Ankommende und abfahrende Rettungsfahrzeuge passierten unentwegt die Straße. An der nächsten Kreuzung zweigte das Paar ab, die wesentlich längere Wegstrecke zu Mons Wohnung machte den Tatort auffällig rasch unsichtbar, merklich unhörbarer. Niemand begegnete dem Paar, es lief eng umschlungen Arm in Arm. In einer völlig lichterlosen Gasse verharrte Wagner, im Miteinander der Köpfe öffnete Mon willig ihren Mund.
„Ich weiß, es verstößt gegen Deine Verhaltensregeln“, flüsterte er, strich eine Haarsträhne sanft hinter ihr Ohr. „Aber ich tat es. Mein Innerstes drängte nach außen und nichts leistete Widerstand.“
Mon beschenkte Wagners Streicheinheiten auf vielfältige Art, sagte: „Ich in Deutschland. Ich sein wie deutsche Frau. Gebe mir Mühe.“
Dann gehen wir heute nicht zum letzten Mal durch die Straßen meiner Stadt, dachte Wagner und verzahnte seine Finger mit ihren. Auch im Taghellen. Wie ein Paar. Als Paar. Im wortlosen Dahingehen weitete Wagner seinen Traum aus. Vor seinem geistigen Auge radelte er mit ihr den Elbdeich entlang, sie benutzten die Elbfähre hinüber ins Brandenburgische, stillten ihren Liebesdurst in einem urigen Landhotel. Sie unternahmen Tagestouren nach Berlin, Hamburg und an die Mecklenburgische Ostsee, in einem Reisebüro buchten sie gemeinsam eine Reise nach Thailand. Mons leise fluchende Schlüsselbundsuche überführte Wagner in die Wirklichkeit. Ich brauche unbedingt ein Auto, dachte er weiter. Und Mon ein Fahrrad. Sonst entartet die Stadt zu unserem Gefängnis.
In der Wohnung schaltete Mon nur Flurlicht an. Sie suchte das Bad auf, Wagner seinen vorangegangenen Fensterplatz, der im Halbdunkel lag. Ich sah dieses Feuer, bevor ich wusste, dass es ein Feuer ist, dachte er. Dieses Feuer, es schaute stimmungsvoll aus, herzergreifend. Wie eine kraftvolle Morgendämmerung. Nicht wie ein Todesbringer, ein Weltuntergang.
Mon kehrte im kurzen, feuerroten Spitzenkleid, hochgestecktem Haar und frisch geschminkten Lippen zurück, ihre Hände umschlossen zwei Weingläser und eine neue Flasche Chateau Bonnet, eine einzelne Kerze sandte das einzige Raumlicht aus. Ergriffen folgte Wagner ihrem andächtigen Handwerk, für eine genauere Sehleistung kniff er die Augen mehrmals zusammen.
„Komm zu mir, Liebe Anton“, sagte sie.
Wagner entkorkte die Flasche, schenkte ohne jedes Nachfragen beide Gläser voll, belegte den geräumigen Zweisitzer in liegender Schräglage.
Mon hob das Glas in eine reglose Körperhaltung, mit etwas Zeitverzögerung tat es Wagner ihr gleich.
„Du fragst, warum ich habe sooooo viel Zeit für Dich“, öffnete sie sich im feierlichen Ernst. „Ich weiß Antwort. Ich habe Botschaft für Dich. Ich habe nur noch Zeit für Dich. Wir zusammen leben in einer Wohnung. Du genug Geld für uns beide. Du mich heiraten. Ich schenke Kinder Dir. Meine Liebe. Mein Leben ganz.“
Der Kerzenschein erhellte Wagners gerührtes Dahinstarren und Mons erwartungsvolles Augenfunkeln. Nach einer Schweigeminute sprang sie hoch, umschlang seinen Hals.
„Du mich nicht lieben?“, entfuhr es ihr ängstlich.
„Ich liebe Dich. Und Du weißt es auch… Und ich möchte es auch.“
Mon hastete zu seinen Lippen, umklammerte ihn in einer ungewohnt festen Art.
„Du alles für mich. Auch mein Beschützer.“
„Ich will alles für Dich sein. Auch Dein Beschützer. Aber wir sind hier in Sicherheit.“
„Anton, das Feuer, Mensch tot“, beschwor sie ihn mit weit aufgerissenen Augen. „Im Haus wohnen Menschen von Ausland. Ich auch Ausländer. Ich habe Angst.“
„Das, was der Pfarrer zur Gehör brachte, dass Hass und Wahn als Flächenbrand um sich greifen, das betrifft nicht Dich“, beschwichtigte er. „Mon, Du bist kein Flüchtling. Mon, Du bist kein Moslem. Mon, Du lebst seit Jahren in diesem Land. Alles spricht für Dich.“
„Ich sehe aus wie Ausländer. Feuer brennt Angst in mich.“
„Niemand fügt Dir etwas Böses zu“, sagte er überzeugend.
Später bestieg sie seine erneute Liegestellung wie mit einem Herrschaftsanspruch, klemmte seine Unterarme mit ihren Knien ein, ein schmerzhaftes Kribbeln ergriff seine Hände. Nach seiner Befreiung gestalteten seine feuchten Küsse über die Gesamtheit ihrer Haut mit einer frechfrischen Duftnote das Vorspiel. Griffe verfestigten sich an ihrem Po, ihren Beinen und ihren Brüsten. Erneut fühlte er sich pudelwohl in ihrem Körper und im stillen Nachspiel dachte er, ich, der promovierte Historiker Anton Wagner, Spezialgebiet preußische Geschichte, suche inständig Arbeit. Dienstbeginn zum nächstmöglichen Termin. Spätestens in drei Monaten. Referenzen? Zehn Jahre Leiter der Forschungsabteilung des Preußenmuseums Wendal, in dieser Zeit zahlreiche wissenschaftliche und journalistische Veröffentlichungen zur Geschichte der Mark Brandenburg. Gehaltsvorstellung? Der normale Lebensunterhalt für zwei Personen in einer Wohnung. Wagner hielt die Augen geschlossen, Mons Unruhe im Schlaf übertrug sich auf seine Oberarme.