Читать книгу Kalte Schatten - Elsa Mason - Страница 5
2
Оглавление„Hier Regine Bonewitz“, melde ich mich. „Mit wem spreche ich?“
Es ist lange her, seit ich den letzten Anruf aus Deutschland bekommen habe. Wer sollte mich auch anrufen? Mein Leben ist hier, in Norfolk, seit vielen Jahren schon. Ich habe alle Brücken abgebrochen, wie man so sagt. Oder andere haben sie für mich abgebrochen. Das schmerzt schon lange nicht mehr, mir geht es jetzt besser als je zuvor.
„Ich bin die Mitbewohnerin Ihrer Nichte Julia.“
Die Frauenstimme klingt kratzig und rau, erinnert mich an ein deftiges bayerisches Fleischgericht. Ich tausche einen Blick mit Jo, der fragend die Brauen hebt, und gebe ihm mit erhobener Hand zu verstehen, einen Moment zu warten, bevor er geht.
„Karen Glashauser“, sie hustet kurz, dann spricht sie weiter. „Entschuldigung, dass ich so einfach bei Ihnen anrufe, aber leider kann ich Ihre Schwester, also Julias Mutter, nicht erreichen.“
Ich schweige angespannt und warte. Jo tritt zu mir und versucht zu lauschen.
„Hallo?“, tönt es aus dem Hörer. „Sind Sie noch da?“
Ich räuspere mich. „Vielleicht sagen Sie mir erst einmal, um was es geht.“
Bewusst abweisend klingt meine Stimme, womit ich diese Frau auf Distanz halten will. Was fällt ihr ein, hier einzudringen, mich in die Enge zu drängen, hier in meiner Schutzhöhle in einem versteckten Winkel Englands am Rand der Welt?
Sie verfällt plötzlich in stärkeres Bayerisch, und ich merke auch ihr die Spannung an.
„Etwas Furchtbares ist passiert. Man hat Julia gefunden. Gestern früh. Julia ... ist tot. Sie hat eine Überdosis geschluckt und ist erfroren, an der Isar. Ein Spaziergänger mit Hund hat sie gefunden.“
Mir ist, als habe mir jemand einen Faustschlag ins Gesicht verpasst. Ich begreife gar nichts. Die Anruferin verstummt, nur unterdrückte Schluchzer dringen nun aus dem Hörer. Mit offenem Mund schüttele ich den Kopf und blicke zu Jo hoch. Der hat nichts mitbekommen und schaut mich fragend an. Ich senke den Hörer einen Moment lang und presse ihn gegen meine Brust, als könnte das die Wucht weiterer Worte dämpfen. Dann nehme ich ihn wieder auf. Das Schluchzen verebbt allmählich.
„Sind Sie sicher, dass es sich um Julia handelt?“, frage ich schließlich. Der Raum beginnt sich ein wenig um mich zu drehen. Ich kneife die Augen zusammen, um einen klareren Kopf zu bekommen. Jo drängt sich jetzt dicht an mich, um mitzuhorchen. Seine Nähe ist erstickend. Ich schiebe ihn fort und sinke langsam auf den wackeligen Schemel unter dem Wandtelefon.
„Ganz sicher. Sie hatte ihre Brieftasche mit ihrem Ausweis dabei. Deshalb ist die Polizei dann ja auch hierher gekommen. Ich musste sie gestern identifizieren“, sagt die Frau leise. „Eindeutig Selbstmord, meint die Polizei.“
Ich seufze. Meine Schwester Mona, Julias Mutter, hat seit ihrer Jugend an Depressionen gelitten. Ob sich so etwas vererbt?
„Aber ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat“, fährt die Frau fort. „Es ging ihr gut, da bin ich mir sicher. Sie wollte am nächsten Wochenende sogar mit Freunden in Skiurlaub fahren. Julia war Feuer und Flamme. Ich bin vor drei Tagen noch mit ihr einkaufen gegangen. Sie hat sich komplett neu eingedeckt, neue Skier, neue Schuhe, einen richtig coolen Skianzug ... Klingt das für Sie etwa nach Selbstmordgedanken? Nein, ich bin mir ganz sicher, dass jemand sie getötet hat.“
Sie macht eine bedeutungsvolle Pause. Jo sitzt mit angespannter Miene am Küchentisch und fordert mich durch Gesten auf, ihn in die Neuigkeiten einzuweihen. In meinem Kopf herrscht Schneegestöber, Gedanken wirbeln durcheinander.
„Ich habe Ihnen vorhin eine Email mit dem Zeitungsausschnitt aus dem Münchner Tageblatt von heute früh zugesandt. In dem sie über Julias Tod berichten. Sie ... Sie sind meine einzige Hoffnung.“
„Hoffnung? Wofür?“ frage ich verwirrt. Viel werde ich jetzt nicht mehr aufnehmen können. Was will diese Frau von mir? Warum ruft sie ausgerechnet mich an?
„Woher ... haben Sie eigentlich meine Telefonnummer?“, frage ich, und im selben Moment fällt es mir ein. Natürlich. Anonymität oder Privatsphäre sind im Zeitalter von Google und Facebook Fremdwörter geworden. Wahrscheinlich erscheint mein Name bei den Suchergebnissen gleich unter mehreren Rubriken. Als Besitzerin eines Bed & Breakfasts in Norfolk, als Editorin des Werkes der Botanikerin Mira Goldsmith. Ich bin auch als freiberufliche Übersetzerin in einigen Foren eingetragen. Abgesehen davon, ist sie ja auch nicht die Erste, die mich so aufgestöbert hat. Hätte ich doch bloß meinen Namen geändert. In England ist das gar nicht so schwierig. Leider habe ich nie geheiratet, was ebenfalls dieses Problem gelöst hätte.
Mona Winterfels. Meiner Schwester ist das gelungen, sie hat sich einen schönen Namen ergattert. Prompt erscheint jetzt ihr rundes Gesicht vor mir, ihr spöttisch verzogener Mund, und in meinen Ohren zetert ihre hämische Stimme. Ich spüre, wie eine Hitzewelle mich überflutet.
„Mit Google kein Problem“, bestätigt die Frau. Ihre Stimme klingt auf einmal sachlicher, fast energisch. „Sie sind ja nicht gerade schwer zu finden. Im Gegensatz zu Julias Mutter oder Vater. Der Vater ist wie vom Erdboden verschluckt, und die Mutter verkriecht sich in einem buddhistischen Kloster in Frankreich. Ist im Moment unansprechbar. Ein Schweigeretreat, wie es heißt.“
Mona ist in einem Kloster? Beinahe muss ich lachen. Das kann nur ein schlechter Scherz sein. Eine fiesere Nonne als sie kann ich mir kaum vorstellen. Jo schaut ungeduldig auf die Wanduhr und trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Er erhebt sich, schlingt den verfilzten Schal um den Hals und öffnet die Tür zur Halle. Ein scharfer Luftzug schießt herein. Ich bedecke mit der Hand den Lautsprecher.
„Jo, warte bitte. Es geht um Julia... Angeblich Selbstmord. Sie ist tot“, sage ich.
Sein Körper erstarrt mitten in der Bewegung. Dann dreht er sich langsam zu mir um. Sein Gesicht ist plötzlich um einige Schattierungen bleicher geworden.
„Hallo? Sind Sie noch da?“, fragt die Anruferin. Ich bejahe.
„Ich rufe an, weil ich Sie hier wirklich dringend brauche. Sie müssen kommen. Hier läuft etwas verdammt falsch, aber ich allein kann das nicht klären. Von wegen Selbstmord!“
„Ist das Klären nicht Aufgabe der Polizei?“ entgegne ich. “Wenn doch alles auf Selbstmord hindeutet...“.
Jo steht immer noch wie angewurzelt an der Tür.
„Es steht weitaus mehr auf dem Spiel als nur die Aufklärung von Julias Tod, glauben Sie mir. Ich kann Ihnen jetzt am Telefon nicht mehr sagen, es ist alles fürchterlich kompliziert und verfahren. Wenn Sie herkommen und wir uns unterhalten können, werden Sie mich besser verstehen.“
Sie hat Angst, das spüre ich plötzlich. Sie braucht mich, weil sie etwas weiß, das sie der Polizei nicht sagen kann oder will. Mein Herz hämmert vor Aufregung und Furcht. Alles in mir sträubt sich. Aber vielleicht hat sie Recht. Vielleicht bin ich es Julia einfach schuldig.
„Also gut“, sage ich. “Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, auch die von Ihrem Handy. Ich rufe Sie bald zurück.“
Nachdem ich die Nummern notiert habe, lege ich auf. Jo steht neben mir und starrt mich an.
„Ich fürchte, ich muss vielleicht nach München fahren“, sage ich.
Er nickt, als hätte er das bereits geahnt. Ich erkläre ihm in wenigen Worten, was ich gerade erfahren habe. Er legt seine Arme um mich, und ein paar Augenblicke lang klammere ich mich an ihn. Seine Jacke duftet nach frischem Holz und Harz, wohl noch von gestern, als er Berge von Brennholz gesägt hat.
Der wahre Schrecken der Neuigkeit hat mich noch nicht wirklich erreicht. Ich habe Julia vor langer Zeit aus den Augen verloren, und dem Kind von damals muss sie längst entwachsen sein. Julia gehört zu den Altlasten, die ich vor über zehn Jahren entsorgt habe.
Jo löst sich vorsichtig aus der Umarmung.
„Tut mir Leid, aber ich muss jetzt wirklich los“, sagt er sanft. „Kann ich dich allein lassen?“