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VIKTORIA

Vorher

Vor genau zwei Monaten war ihr Leben aus dem Ruder gelaufen. Die Diagnose war schlecht. Sehr schlecht. Und die Prognose?

„Ich will Ihnen gar nichts vormachen, Frau Kollegin. Mit dieser Art von Tumor überleben etwa zehn Prozent das erste Jahr.“

Der Onkologe strich sich über den glattrasierten Kopf, seine Mundwinkel verzogen sich grimmig nach unten. So genau hatte sie es nicht wissen wollen. Statistiken klangen oft alarmierend. Jeder Einzelfall entwickelte sich anders, und sie, sie war ein Stehaufmännchen.

Die Schmerzen, die Krämpfe – natürlich hatte sie viel zu lange gewartet. Es gab immer einen Grund, eine Untersuchung hinauszuschieben. Und an manchen Tagen ging es ihr ja auch richtig gut. So gut, dass sie das Ganze oft vergaß.

Nach der Magenspiegelung erklärten sie ihr, sie hätten ein großes Magengeschwür gefunden. Sie könne sich glücklich schätzen, keinen Magendurchbruch erlitten zu haben. Und natürlich fanden sie Helicobacter, aber das hatte sie längst geahnt. Dieses widerliche Bakterium musste an sich noch nichts bedeuten, zumindest nicht gleich Krebs, auch wenn sein Vorhandensein das Krebsrisiko erhöhte.

Ein paar Tage später kam der Anruf aus der Internistenpraxis.

„Leider gibt es schlechte Neuigkeiten. Die Magenspiegelung hat ergeben, dass es sich um bösartige Zellen, also ein Magenkarzinom handelt. Sie sollten so schnell wie möglich zu einem Arztgespräch kommen.“

Sie spürte, wie ihr ganzer Körper sich versteifte, als verknote jemand sämtliche Muskeln zu einem Strang. Ihr Mund war mit einem Mal völlig trocken, die Kopfhaut prickelte wie unter unzähligen kleinen Nadeln, die auf ihren Schädel einstichelten. Und ihr Magen drohte in einem plötzlichen Krampf zu explodieren, so dass ihr Oberkörper ohne ihr Zutun nach vorn klappte. Als der Schmerz verebbte, kauerte sie sich in die Ecke neben dem Telefon. Ob die allen Patienten eine Krebsdiagnose am Telefon mitteilten?

“Sind Sie noch da? Hallo?“, tönte die junge Stimme der Sprechstundenhilfe aus dem Hörer. Viktoria atmete schwer und bemühte sich, das Zwerchfell zu entspannen. Den Schmerz bis ins letzte Molekül ausatmen. Dann wieder tief einatmen und den Atem anhalten, jede Körperzelle mit frischem Sauerstoff versorgen.

„Ja, es geht schon wieder“, keuchte sie schließlich in den Hörer. „Moment, ich hole meinen Kalender.“

Sie zog sich mühsam an der Türklinke neben ihrem Kopf hoch und verschnaufte einige Momente mit gesenktem Oberkörper, die Hände auf die Knie gestützt. Sie würde es sich nicht nehmen lassen, Ella aufwachsen zu sehen. Das allein war Grund genug zu kämpfen, zu überleben.

Am nächsten Tag saß sie dem Internisten gegenüber.

„Als allererstes muss der Magen komplett entfernt werden, denn der Tumor ist sehr groß und aggressiv. Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist es kein Problem, ohne Magen zu leben. Nach der Operation sehen wir weiter. Hoffen wir, dass die Lymphknoten noch nicht befallen sind. Sie hätten viel früher ...“.

„Ich weiß“, unterbrach sie ihn barsch. „Können Sie mir einen guten Chirurgen empfehlen? Eine Klinik? Wie lange werde ich außer Gefecht sein? Ich kann meine Patienten nicht zu lange hängen lassen.“

Es tat ihr gut zu spüren, dass sie ihr Leben wieder in die Hand nahm, auch in dieser bedrohlichen Situation. Der Internist musterte sie, und etwas wie Bewunderung glomm in seinem Blick auf. Er trug eine Brille mit rundem Goldrahmen, die ihm das Aussehen eines grauhaarigen John Lennon verlieh. Jetzt lächelte er und nahm behutsam ihre beiden Hände in seine. Sie ließ es zu, genoss es, wie seine Wärme ihn sie hineinfloss. Ein Strom von Zuversicht und Erleichterung durchflutete sie.

„Sie müssen jetzt vor allem an sich selbst denken. Ich weiß, wie schwer das ist. Aber eine Gastrektomie ist keine Blinddarmoperation. Nach der Operation müssen Sie sich lange schonen. Der aus einem Stück des Dünndarms geformte Ersatzmagen braucht Zeit, bis er die Magenfunktionen übernehmen kann. Und nicht nur das ... Sie wissen ja selbst, eine Krebserkrankung ist auch psychisch sehr belastend.“

Sie entzog ihm ihre Hände und lehnte sich im Stuhl zurück.

„Ich möchte den Eingriff so schnell wie möglich hinter mich bringen“, sagte sie. „Und es gelingt mir immer am Besten, Schwierigkeiten allein zu meistern. Ich bitte Sie also, nicht mit meinem Mann über meine Erkrankung zu sprechen, auch wenn er Sie fragen sollte. Das übernehme ich selbst.“

Die Operation verlief zufriedenstellend. Allerdings hatte sie trotz starker Schmerzmittel furchtbare Schmerzen in der darauffolgenden Nacht. Am nächsten Tag kam der Onkologe zu ihr.

„Von fünfundzwanzig entnommenen Lymphknoten waren leider zehn bereits befallen. Sie wissen sicher, dass dies die Chance auf Heilung erheblich reduziert.“

„Was empfehlen Sie mir? Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es noch?“ fragte sie leise. „Eine Chemotherapie? Bestrahlungen?“

„Der Nutzen einer Chemotherapie bei Magenkrebs ist umstritten. Dennoch würde ich Ihnen dazu raten, in Anbetracht der hohen Anzahl befallener Lymphknoten. Damit könnten Sie auf alle Fälle Ihre Heilungschancen verbessern.“

Er sah sie einen Moment lang abwägend an, dann zog er einen Stuhl heran und setzte sich neben ihr Bett. Unter seiner bleichen Gesichtshaut schimmerten dunkle Bartstoppeln, was ihm einen schmutzigen Teint verlieh. Sein Atem roch nach Spearmint, und sie glaubte, als er sprach, weit hinten in seiner Mundhöhle einen Kaugummi zu entdecken.

„Allerdings sollten Sie wissen, dass diese Chemotherapie sehr belastend ist und schwerwiegende Nebenwirkungen haben kann. Während der Behandlungszeit werden Sie auf gar keinen Fall fähig sein zu arbeiten. Für die ambulanten Infusionen wird Ihnen ein Port unter die Haut eingesetzt, in einem kleinen Eingriff ...“.

„Also, selbst wenn die Chemo mich nicht umbringt, heißt es noch lange nicht, dass sie etwas nutzt“, unterbrach sie ihn. “Ich werde es mir überlegen. Und bitte halten Sie sich an die ärztliche Schweigepflicht meine Ergebnisse betreffend, besonders gegenüber meinem Mann.“

Er blickte sie stirnrunzelnd an. Dann drückte er ihre Hand und erhob sich.

„Überlegen Sie nicht zu lange“, sagte er. „Sobald die Wunden verheilt sind, müssten wir anfangen.“

Sie wusste, wovon sie sprach. Ihr Mann hatte auf ihre Krebsdiagnose verängstigt wie ein kleiner Junge reagiert. Zuletzt hatte sie ihn trösten und beruhigen müssen, nicht umgekehrt. Es war völlig verrückt, überraschte sie aber nicht. Ihre Hauptsorge galt auch nicht ihm, sondern Ella. Ihre Tochter war gerade eineinhalb Jahre alt, noch so verletzlich, und sie brauchte ihre Mama.

Gut, vielleicht hatte sie bisher beruflich nicht genügend zurückgeschraubt und sich zu wenig um die Kleine gekümmert, sie zu viel ihrem Mann und der Nanny überlassen. Aber das würde sich von nun an ändern. In ihrem Leben würde sich einiges ändern, das hatte sie nun klar vor Augen. Eine Chemo kam gar nicht in Frage. Sie würde diese Krankheit mit eigener Kraft besiegen, nun, da die Quelle des Übels herausgeschnitten war. Sollte der Krebs zurückkehren, hatte ihr der Onkologe erklärt, hätte sie keine Chance mehr. Dann würde alles sehr schnell gehen.

Kalte Schatten

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