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3. Kapitel: Kinder- und Jugendzeit.

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Tief beugte ich mich über das Foto, das Mora in einem geblümten Kleidchen und mit einem Schulranzen auf dem Rücken zeigte und aus weiter Ferne hörte ich ihre leise Stimme erzählen: „ Ich bin gerne zur Schule gegangen. In dieser Zeit war ich befreit von den Haus- und Feldarbeiten und vor allem dem Geschrei der Geschwister und dem Meckern der Geißen. In den Sommermonaten freute ich mich besonders auf den Schulweg. Dieser Weg zu unserer kleinen Dorfschule war zuerst nur ein schmaler, von uns und den Tieren ausgetretener, Fußweg, der sich entlang schlängelte an graubraunen Feldern und dunkelgrünen Wiesen, dabei heranführte an den Hohlweg mit dicht bewachsenen Büschen, hohen Gräsern und würzig riechenden Kräutern bis hin zur steinigen Landstraße, die sich bald danach durch das Dorf windete und letztendlich an der Volksschule vorbei schlich um die umliegenden Dörfer miteinander zu verbandeln. Leise murmelte ich: „Bereits zwei Jahre nach Deiner Einschulung begannen junge Männer damit, die inzwischen zu einem Arbeitsdienst verpflichtet worden waren, dieser Landstraße und auch anderen Straßen im Land, ihr harmloses Gesicht zu nehmen. Und dies habt Ihr zu spät gemerkt.“

Weil ich das kleine und magere Mädchen auf dem Foto noch nicht verlassen wollte, hielten sich meine Gedanken eine Weile an Moras Gesichtsausdruck fest.

Etwas schrägstehende graublaue Augen sahen mich mit forschem Blick aus einem mit Sommersprossen übersäten Gesichtchen an, das von zwei dünnen, rotblonden Zöpfen umrahmt wurde.

Banalitäten, die das Foto u.a. erzählten, beschäftigten mich kurz. Ich fragte mich, ob der Schulranzen aus Leder oder Holz gefertigt worden war. Schuhe aus Leder waren für Kinder zur damaligen Zeit im Woid höchst selten. Im Sommer waren ihre flinken Füße überwiegend barfuß unterwegs. Mitunter trugen sie auch, wie die Erwachsenen, Holzschuhe und dies vor allem an Regentagen und auch zur Winterszeit, an ihren kleinen Füßen. Wärme und Schutz gaben die aus Schafwolle gestrickten Strümpfe, die mit Gummibändern o.ä. am jeweiligen Oberschenkel befestigt worden waren.

„Ihre in späteren Jahren gemachten Äußerungen über kratzende Schafwolle, hatte wohl hier ihren Ursprung“, sinnierte ich beiläufig lächelnd.

Während ich das üppig bewachsene Umfeld auf dem Foto näher in Augenschein nahm, vor allem den Wegrain, in dessen Gräser ihre Hand spielerisch hinein geglitten war, meinte ich erneut ihr noch dünnes Stimmchen zu vernehmen, das mich jedoch schon die tiefere Bedeutung ihres Woides ahnen ließ: „Manchmal, nachdem ich die von Mutter aufgetragenen Arbeiten erledigt hatte, gelang es mir, ihr zu entschlüpfen. Dann bin ich barfuß und leichtfüßig zum Hochwald hinauf, hab sein hörbares Atmen und sein weiches Rauschen in mich aufgenommen, hab ihm meine heimlichen Gedanken und Empfindungen preisgegeben und mich wiegen und beruhigen von ihm lassen.

Der Hochwald hat seine ganz besondere Bedeutung, musst wissen, die Winde aus allen Richtungen, selbst die Winde aus dem Osten, die sogenannten harschen Ostwinde, verfangen sich seit eh und je in den Ästen und Zweigen des Hochwaldes, der ihnen seinen Rhythmus aufzwingt, ihnen das Atmen erleichtert um sie dann loszulassen, damit sie zur sanften Brise für die auslaufenden Weiten werden können.“

Mora und der Woid waren irgendwie eins und in der Tiefe ihres Herzens hat sie das zeitlebens genossen, so wie sie es zeitlebens genossen hat, mit ihrem Mädchennamen, dem seit alters her von der Familie W. mit Stolz hochgehaltenen Familiennamen, im Woid ein Begriff zu sein.

Hier erinnerte ich mich daran, wie sie auch noch als Erwachsene wie unter Zwang mitunter in das Unterholz eines Jungwaldes kroch, dann zurück kam mit Spinnweben, Tannen- und Fichtennadeln im Haar und mit dem ihr eigenen Glitzern in den Augen, das zeitlebens ihre Augen überzog, wenn Wahrgenommenes mit der Erkenntnis darüber verschmolz. Es war ein Glitzern, einem geschliffenen Edelstein ähnlich, in dem sich die Vielfalt des Lichtes zu brechen schien. Oft, wenn es die jeweilige Jahreszeit zuließ, trug sie dabei den sanft-würzigen Geruch der dem Waldboden entwundenen Pilze mit sich, der dies Glitzern noch zu verstärken schien.

„Merk es Dir“, hörte ich sie raunen, „dort, wo die schönen, roten, aber giftigen Fliegenpilze wachsen, dort kannst auch den prallen und schmackhaften Steinpilz finden, musst die Augen nur richtig aufmachen. Ist halt genauso wie im wirklichen Leben.“

„Pilze…“, murmelte ich unvermittelt und gedankenverloren fuhr ich fort: „Wald-Pilze wissenschaftlich definiert, sind dies Organismen der Superlative, die sich im gegenseitigen fruchtbaren Austausch mit den Bäumen des Waldes inspirieren und am Leben erhalten…“

Ich war im Augenblick nicht dazu fähig, diesem Satz noch Gedanken oder Interpretationen hinzuzufügen oder ihn gar irgendwie weiterzuspinnen.

Ich blieb lieber träge und gedanklich wieder bei ihr untergehakt und unterwegs mit ihr, spürte erneut ihre vermeintliche Anwesenheit und meinte sie wispern zu hören in einer Sprache, die mit versteckten Lauten, so schien es mir, agierte und die ich noch nicht zu entschlüsseln vermochte.

Reglos hielt ich all den Gedanken stand, die überrumpelten und gleichwohl Aufmerksamkeit verlangten.

Fragen zum Leben der Familie W., die sich immer wieder an der politischen Entwicklung des Landes festmachten, wälzten sich förmlich an mich heran. Eine nicht definierbare Unruhe ließ mich aufstehen. War es Zufall, dass nun mein Blick direkt hinein fiel in das älteste der Fotos, die mir gegenüber an der Wand hingen und die alle für sich ihren Stellenwert besaßen. Ich nahm darauf einen alten Mann wahr, der, den Ellbogen auf der Tischkante aufgesetzt, den Kopf sorgenvoll und abgewandt mit der Hand stützte.

Der Anlass für das Foto war ein Familienfest. Bisher hatte ich noch nie über den, für ein Familienfest ungewöhnlichen Ausdruck im Gesicht, nachgedacht. Jetzt meinte ich, ihn als unbegreifliche Enttäuschung definieren zu müssen. Dieser Eindruck verstärkte sich beim näheren Hinsehen auf seine Frau mit Kopftuch neben ihm. Ihr Gesichtsausdruck signalisierte verbitterte Ratlosigkeit und zerfurchte Ergebenheit.

Als das Foto entstanden war, musste Mora ihr 10. Lebensjahr erreicht haben.

Damit begannen sich vor meinem inneren Auge die Jahre ab 1936 aufzublättern. Aus diesen Jahren, bis zur Vollendung von Moras 18. Lebensjahr, gab und gibt es keine Fotos der Familie W. mehr. Zudem waren nur wenige Familiengeschichten im Umlauf.

Das Wenige, was mir Mora über diese Jahre erzählte war u.a., dass der Vater während ihrer Kinder- und Jugendzeit manchmal mit arg versteiftem Rücken in der Tageszeitung las. „War das schon ab 1936 so?“, überlegte ich, begann auf und ab zu gehen und sie direkt anzusprechen, während ich meinem Geschichtswissen zur Abwechslung wieder mal Gehör verschaffte.

„In diesem Jahr, im Februar 1936, fanden in Garmisch die Olympischen Winterspiele statt und dann, gute 2 Monate vor Deinem 10. Geburtstag, richtete Berlin die Sommer-Olympiade aus. Erstmals durften Frauen daran teilnehmen. Juden jedoch, so stand es auf Plakaten, die ich in Geschichtsbüchern abgebildet sah, die waren unerwünscht. Die schon vorhandenen Nürnberger Rassegesetze haben dies untermauert, so konnte ich lesen und auch, dass nach 12 Jahren, im Jahr 1948, zur Olympiade in London, die Deutschen unerwünscht waren. Von all dem hast Du nie etwas erzählt.

Wen wundert es, all dies war weit weg vom harten Leben im Woid.

Habt Ihr deshalb auch keine Notiz vom Einmarsch der Nazis in die entmilitarisierte Zone Rheinland genommen?

Als jedoch 2 Jahre später im Frühjahr aus dem Volksempfänger kreischender Jubel drang, weil Österreich oder besser, die Ostmark, heim ins Reich gekommen war, da müsst Ihr wohl doch in Eurer Arbeit inne gehalten haben; denn Du hast Dich mir gegenüber noch daran erinnert, dass der Vater Deinen fragenden Blicken hierzu ausgewichen war. Gedankenverloren, so sagtest Du, sah er hinaus aus den sicheren Mauern seines Hauses und sein Blick schien an keine Grenzen gekommen zu sein.

Im selben Jahr, es durften nach meiner Rechnung noch keine 2 Wochen nach Deinem 12. Geburtstag gewesen sein, da saß Dein Vater vor einem Artikel der Tageszeitung und seine starre Körperhaltung signalisierte arge Betroffenheit. An dies hast Du Dich bei einem unserer Gespräche irgendwann erinnert. Mit dem Artikel in jener Zeitung war über die erfolgreich stattgefundene Reichskristallnacht vom 09.11.1938 berichtet worden.

Es müssen nur ein paar Monate nach diesem 09.11.1938 vergangen sein, als Du auf der nahen und mittlerweile gut ausgebauten Landstraße eine Vielzahl von Soldaten von Westen kommend in Richtung Osten marschieren gesehen hast und davon hast Du häufig erzählt. Stundenlang seid Ihr beide, Deine Mutter und Du, damals am Straßenrand gestanden um den vorbeiziehenden und schwitzenden Soldaten aus Euren mitgebrachten Eimern Malzkaffee und gekochte Kartoffeln anzubieten. Unterwegs, mit den leeren Eimern nach Hause, schmerzte Deiner Mutter der Rücken und Du hast damals schon vermutet, dass dies nicht nur wegen des wiederholten Bückens hin zu den Eimern so war.

Ihr musstet das Märchen vom Angriff der Polen im September 1939 auf Deutschland wirklich glauben, weil ihr nicht jenes Geheimpapier kanntet.

Immerhin, knappe 46 Jahre später erinnerte der amtierende deutsche Bundespräsident in seiner denkwürdigen Rede zum 08. Mai 1945 erstmals öffentlich daran, dass bereits am 23. August 1939 Hitler und Stalin in einem geheimen Zusatzprotokoll, das dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt anhing, festlegten, wie Polen nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen zwischen der Sowjetunion und Deutschland aufgeteilt werden sollte. Damit war nicht nur der damaligen sowjetischen Führung der heran stehende Ausbruch des 2. Weltkrieges voll bewusst geworden. Vorher hatte sich Euer Führer, begleitet vom haltlosen Beifall des Volkes, den allein gelassenen tschechischen Nachbarn einverleibt und nun brauchtest Du Deine Gänslein aus dem Böhmischen nicht mehr auf verwegenen Schmugglerpfaden herüberholen. Dass sich die Hand des Böhmen, der Dir das Gänslein rüber reichte, nun nicht mehr als freundliche Geste in seinen Augen widerspiegelte, das hast Du wohl registriert, aber in flacher Erzählweise allzu lange noch damit abgetan, dass dies nun mal aus einer den Tschechen eigenen Falschheit resultierte. Nach dem 08. Mai 1945 gab es sie nicht mehr, diese aufgesetzte Freundlichkeit, diese den Tschechen eigene Falschheit, sie verweigerten Dir in deutlicher Offenheit ihre Ware und sie spuckten Dich an und verjagten Dich und hierüber hast Du erstaunlicherweise wenig sprechen wollen.“ Draußen war es still, aber von unten im Haus hörte ich ab und an das Klappen einer Tür und dabei hervor-quellende Geräuschfetzen, die sich schnell wieder zurückzogen.Es schien mich dort unten niemand zu vermissen und es schien mich hier oben auch keiner stören zu wollen und dafür war ich dankbar. Mir wurde bewusst, dass ich mit Mora bereits in die Kriegs-Jahre hineingestolpert war und hielt inne im Bewusstsein an all die Opfer dieser Zeit.

Mora und...was bleibt.

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