Читать книгу Mora und...was bleibt. - Elsa Merten - Страница 6
4. Kapitel: Kriegsjahre.
ОглавлениеNach einer Weile schlug ich die Seiten des Fotoalbums auf, das Moras Vater in Uniform zeigte. „Vier Monate vor Deinem 14. Geburtstag wurde Paris von den Nazitruppen besetzt“, sinnierte ich und ergänzte: „Erstmals war zu Deinem Geburtstag der Vater nicht anwesend. Er war an der Westfront eingesetzt und von dort kam, wenn auch verspätet, eine Geburtstagskarte, die Du nicht aus den Händen gelassen hast, so wurde es überliefert.“ In diesem Zusammenhang erinnerte ich mich an die Fahrradgeschichte, die einiges über ihn erzählte und bezeichnend für ihn war.
Überwiegend war er mit seinem Drahtesel unterwegs, auch in der Dunkelheit. Kurz vor seiner Einberufung brauste er nochmal mit dem Fahrrad bei Einbrechen der Dunkelheit den Hang auf der Dorfstraße hinunter. Die Gedanken vorauseilend bereits bei seinen Freunden im Wirtshaus. Wieder mal war das Fahrrad-Licht ausgefallen und ausgerechnet jetzt stand am Straßenrand der Dorfpolizist, der ihm laut das Anhalten befahl. Rufenderweise bekam er zur Antwort: „Wie denn? Die Bremsen sind defekt. Bin außerdem auf dem Weg zur Front, da braucht`s kein Licht !“ Dem verdutzten Polizisten schienen Strafzettel in diesem Augenblick nicht zur Hand gewesen zu sein.
Mora hatte zu diesem Zeitpunkt die Volksschule schon beendet und hatte damit begonnen, die landwirtschaftliche Haushaltungsschule in der Kreisstadt ein Mal wöchentlich zu besuchen. In den Zeiten dazwischen vereinnahmten sie die herkömmlichen Arbeiten auf dem elterlichen Anwesen mehr als je zuvor und bei Bedarf auch auf dem großelterlichen Hof in der Dorfsenke; denn auch dort fehlte seit Kriegsbeginn, wie in bald jedem Haus, mindestens eine Arbeitskraft. Ich meinte in zeitlich und räumlich weiter Ferne die Dorfbewohner, vor allem die Frauen, immer näher zusammen rücken sehen um sich gegenseitig aushelfen zu können und dennoch konnten sie auf größeren Anwesen die Tatkraft eines Mannes kaum ersetzen. „ Deshalb mussten Kriegsgefangene einspringen,“ war ich wieder mal zu hören und fuhr fort: „Mancher Eurer Nachbarn, die hatten urplötzlich russische und polnische Hilfskräfte, auch weibliche, auf ihren landwirtschaftlichen Anwesen, die alles andere als zugänglich waren und von denen mancher plötzlich verschwand, hast Du erzählt“, dann spann ich halblaut diese Gedanken weiter: „Bald waren auch auf dem Bauernhof, der mal Deine Geburtsstätte war, auch Kriegsgefangene zum Helfen da, die jedoch kamen aus Frankreich, Du hast mir davon erzählt, wie Du diese fremden Männer von Anfang an neugierig umstrichen hast, vorsichtig und dennoch sichtbar zutraulich und dass Du dem Klang ihrer eleganten Sprache mit den ineinander verwobenen Lauten eine wohlwollende Bedeutung beigemessen hast.“
Während ich immer noch das Foto ihres Vaters betrachtete, schob sich Moras Gesicht erzählend darüber. Dazu meinte ich sie nun in der Stille, so, wie zu ihren Lebzeiten sagen hören:
„Eines Tages waren sie da, im Haus der Großeltern in der Dorfsenke. Drei Männer aus dem uns so fremden Frankreich. Sie waren hier her verschleppt worden um uns in der Landwirtschaft zu helfen. Sie taten dann das Ihre und wir taten das Unsere, dabei hatten sie nicht nur befohlene helfende Hände. Die Kluft zwischen uns wurde immer kleiner und nicht nur deshalb, weil wir mit Händen und Füßen, ähnlich wie bei der Anwendung der Gebärdensprache, der Sprachbarriere trotzten. Ihr Wissen und ihre bäuerliche Erfahrung, angesammelt auf der eigenen Scholle im fernen Frankreich, kam uns nicht nur ein Mal zugute. Dass sie, obwohl dies verboten war, zu den Mahlzeiten am selben Tisch saßen wie wir selbst, das hab ich außerhalb der Familie keinem erzählt. Das hat mir mein Instinkt so geraten. Auch von dem Erlebnis mit dem Großvater und den Franzosen auf dem Heuboden habe ich während der Kriegstage keinem Menschen erzählt und dies hat mir nicht nur der Instinkt, sondern vor allem die Angst geraten. Als ich nämlich wieder einmal in der Dorfsenke aushelfen musste und mich auf dem Heuboden zu schaffen machte, da stand ich unerwartet dem Großvater und den Franzosen gegenüber. Die Männer waren allesamt nicht weniger erschrocken als ich selbst, als wir uns so unerwartet und nicht verabredet zwischen den aufgetürmten Heuballen trafen. Nachdem wir uns ausreichend genug angestarrt hatten, bemerkte ich den kleinen braunen Volksempfänger, den sie wohl nicht mehr schnell genug verschwinden lassen konnten. Sie wussten nun, dass ich wusste, nämlich von dem geheimen und verbotenem Hören von BBC- Nachrichten und sie schärften mir ein, dass ich über diese Entdeckung zu absolut niemandem sprechen durfte, sonst kämen sie alle mit mir ins KZ nach Dachau. Aus der Art und Weise, wie sie mir das einschärften, mit blanker und noch nie vorher von mir so gesehener Angst in deren Gesichtern, die blind dann auch auf mich übergriff, spürte ich erstmals in meinem Leben eine undefinierbare, aber dennoch sehr greifbare Gefährlichkeit, die meine sonst so munteren Lippen verschloss.
Wenn mich deswegen während der Kriegstage ab und an Unruhe und Unsicherheit heimsuchen und vereinnahmen wollten, dann bin ich hinauf in den Woid.“
Versunken in die mir wieder bewusst gewordenen Ereignisse von damals hörte ich mich plötzlich unvermittelt und mit einem gewaltigen Kloß in der Stimme sagen:
„Die Konzentrationslager (welch infame Wortfindung) wurden immer mehr und mehr und die gestreiften Pyjama darin immer mehr und mehr. Wer wusste, dass in Berlin am 20.12.1942, nur wenige Tage vor dem Weihnachtsfest, dem Fest zu Ehren der Geburt des Juden Jesus, die Wannseekonferenz einberufen worden war, mit der die systematische Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Europa beschlossen wurde? Alle 15 Teilnehmer zeichneten zustimmend ab, das ist alles unerträglich.
Offiziell gab es keine Information über bestehende KZ, woher kam dann die Kenntnis über sie mit der sie begleitenden panischen Angst davor?“, fragte ich mich verhalten. Ich erinnerte mich an die Fotos und Filme, die erst nach Kriegsende von den Siegern veröffentlicht wurden und die eine deutsche beispiellose Unmenschlichkeit an den Tag brachten, der ein undefinierbares Schweigen der Täter und, für mich sehr lange unverständlich, gar der überlebenden Opfer folgte.
Mora musste das 16. Lebensjahr vollendet haben, als die ersten Verwundeten als Fronturlauber der Heimat einen kurzen Besuch abstatten durften. Etliche waren beim Überfall auf das unvorbereitete Russland im Juli 1941 dabei.
„Im Frühjahr desselben Jahres stellte Hitler wegen des Russlandfeldzuges den Luftkrieg gegen England ein“, ging es mir durch den Kopf. Einen bedrückend langen Augenblick musste ich an das aus heiterem Himmel von deutschen Bombern angegriffene London und vor allem an das zerstörte Coventry und die verheerenden Folgen denken.
Danach begann ich murmelnd die einspurige Kommunikation mit ihr fort zusetzen:
„Mit ca. 16 Jahren hast Du unter dem Siegel der Verschwiegenheit von Fronturlaubern der Ostfront beim Federnschleißen erfahren, dass es Abscheulichkeiten und praktiziertes übles, abartiges Verhalten dort an der Ostfront gab, das den Krieg, vor allem im Osten, als eine Ausgeburt des Bösen auszeichnete. Einzelheiten hast Du später darüber nicht erzählt. Erzählt hast Du aber, dass dieselben Fronturlauber nach übermäßigem Alkoholgenuss und zu fortgeschrittener Abendstunde den propagierten Endsieg verdammten, weil sie mit ihm den Einzug einer Zweiklassengesellschaft zugunsten der SS fürchteten und auch, dass mit ihm zu viele Männer unfreiwillig die Uniform zeitlebens wie eine zweite Haut zu tragen gehabt hätten um die besetzten Gebiete zu befrieden.“
Im Bedürfnis, mich von all den schrecklichen Gedanken befreien zu wollen, drückte ich intuitiv mein Rückgrat durch bis zur geraden Körperhaltung, zog dann den Begriff „Federschleißen“ nah zu mir heran und ließ ihn sich bis zur Heiterkeit entfalten, die mich innerlich entspannt zurücklehnen und die Berührung mit der Stuhllehne suchen ließ.
„ Von diesem Wochenendspektakel in den Herbst- und Wintermonaten, auch noch in den Kriegsjahren, davon hast Du allzu gerne erzählt.“
Froh, den davor mich niederdrückenden Gedanken entkommen zu sein, wandte ich mich erneut an sie: „ Die Mutter hatte Dich schon in jungen Lebensjahren Dank Deiner geschickten und flinken Hände gerne zum Federnschleißen mitgenommen und Du hast die dort zelebrierte Gemeinsamkeit mit den Familien aus der Nachbarschaft im Tal zwischen den Woid-Hügeln, wie auch all die dort gehandelten Neuigkeiten, den gewöhnlichen Tratsch mit eingeschlossen, genossen. Ich weiß es so von Dir, dass das Federnschleißen abwechselnd immer eine der größeren Bauernfamilien ausgerichtet hatte, weil sie die dazu benötigte große Wohn- oder Wohnküchenstube und vor allem den großen Tisch zur Verfügung stellen konnten, auf dem gemeinsam das vorgesehene Pensum für den jeweiligen Samstagabend an Federn und Daunen geschlissen werden musste. Ein gegenseitiges Aushelfen ohne großer Worte war für Dich selbstverständlich, so wie es halt üblich war in den Tälern zwischen den Woid-Hügeln.“
Ich stellte mir vor, wie sie inmitten eines rührigen Menschenknäuels aus jungen und alten Frauen, das sich zu diesem Anlass um einen großen Bauerntisch sortierte, stundenlang bis in die Nacht hinein damit beschäftigt war, die von Enten und Gänsen gerupften Daunen und Federn zu schleißen, d.h., sie bettfederngerecht zurechtzustutzen. Ich sah sie entsprechend ihrer Schilderungen während dieser mühseligen Arbeit vor mir, wie sie dabei, ohne auf die Tür starren zu müssen, bereits aus den Augenwinkeln heraus festgestellt hat, wer von dem Jungvolk aus der Umgebung hereinströmte um an dem teilzunehmen, was das Federnschleißen eigentlich ausmachte. Da gab es nämlich nach getaner Arbeit für alle, die sich im Laufe des Abends eingefunden hatten, trotz vorgerückter Stunde, noch eine schmackhafte Suppe. Während man dabei war, diese zu verzehren, so erzählte sie es mit einem Gesicht, das noch im Nachhinein ihren ganzen Spaß zum Ausdruck brachte, begann schon ein fröhliches Treiben bei dem man sich gegenseitig aufzog und die neuesten Witze von sich gab. Spaßeshalber wurde das eine oder andere Vorkommnis aus dem Leben eines Anwesenden angeprangert ohne dass dies verletzend ankam. Als dann der letzte Löffel sauber abgeleckt und in der Spülschüssel abgelegt war, griff man sich nach alter Tradition entweder Zither oder Ziehharmonika und begann nach Herzenslust die allbekannten Weisen zu spielen.
Ohne Aufforderung begannen Einzelne dazu zu singen und wer Freude am Tanzen
hatte, der stampfte trotz des derben Schuhwerks mit erstaunlicher Leichtigkeit den Takt der Melodien in den alt bewährten Holzboden. Wenn männliche Partner hierzu nicht ausreichend genug anwesend waren, dann tanzte Frau halt mit Frau und dies tat dem Spaß keinen Abbruch. Ich verweilte in Gedanken gerne bei diesen Erinnerungen, die sie mir uneingeschränkt nachvollziehbar und mit anrührender Freude und Sensibilität hinterlassen hatte. Bei einer so aufgeheizten Stimmung, inmitten einer dampfenden Stube, war auch manch gekonnter Sketch entstanden, der Kirche und Obrigkeit ungehemmt den Spiegel vorhielt.
„Durch diese Einblicke hast Du mir schon frühzeitig den Meier vorgestellt “, murmelte ich ironisch.
Dann wandte ich mich mit hintersinnigem Lächeln an sie:
„Jahr für Jahr bist Du also neben der Mutter auf immer denselben ausgetretenen Wald- und Wiesenwegen zum Federnschleißen, hin zu einem der zerstreut in der Hügellandschaft liegenden Bauernhäuser, hast Du erzählt und auch davon, dass Du in diesen Wochen an den jeweiligen Samstagen nicht schnell genug mit der allabendlichen Stall- und Hausarbeit fertig werden konntest. Die Samstagabende konntest Du dann noch weniger erwarten, als Du den Heimweg nicht mehr neben der Mutter und den anderen Frauen antreten musstest. Da kam zu dieser unbeschreiblich freudigen Erwartung noch ein anderes Gefühl hinzu, ein bis dahin Unbekanntes.“
Ich schwieg eine Weile, wollte sie eigentlich nicht mehr darauf ansprechen auf das, was erstmals das Kribbeln um den Bauchnabel herum auslöste, weil ich bei diesen Erinnerungen jetzt nur mehr die verschlissene Trauer in ihrem Gesicht sah. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass dies meine Gedankenwelt weiter belebte. Ich sah sie mit dem lärmenden Jungvolk über die ausgetretenen Wald- und Wiesenwege nach Hause streben, die plötzlich keine Mühsal mehr waren. Dann stellte ich sie mir mit dem jungen Mann vor, dessen brauner Haarschopf ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen war und der nun endlich, nachdem sie all die Anderen geschickt abgehängt hatten, ihr alleiniger Begleiter war auf dem Nachhauseweg über nachtdunkle Wälder und feuchtkühle Wiesen. „ Danach war er fest in Deinem Herzen verankert“, diese halblaut gesprochenen Worte bedrängten mich auf ungewohnte Art, weil ich wusste, dass dies so geblieben war, ihr ganzes Leben lang.
Und so glitt ihre Erzählung über diese Liebe wieder heran, so wie damals, als sie mir davon in der in Dämmerung getauchten Küche erstmals erzählte.