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Vorwort

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Die Bibel ist voller Geschichten über alle Arten von Migra­tion. Wir lesen von Männern und Frauen, die ihre Heimat verlassen, weil sie von Gott einen besonderen Auftrag erhalten haben. Andere werden aus ihrem Heimatland vertrieben oder fliehen vor Hunger, Unterdrückung, Krieg und Verfolgung. Die Geschichten sind sehr lebensnah erzählt und schildern das Schicksal der Flüchtlinge auf bewegende Weise. Die Aus- und Einwanderer in der Bibel machen ähnliche Erfahrungen wie heutige Migranten. Nie vergessen sie das Land ihrer Geburt. Es bleibt immer ein Stück ihrer eigenen Identität. Auch ihren Glauben lassen sie nicht hinter sich, sondern bewahren ihn.

Man kann die biblischen Geschichten über Migranten auf unterschiedliche Weise lesen. Entweder interpretieren wir sie als Erzählungen aus lang vergangener Zeit ohne weiteren Bezug zum heutigen Leben. Oder wir lesen sie vor dem Hintergrund der Erfahrung heutiger Migration. In diesem Buch haben wir uns für die zweite Möglichkeit entschieden. Denn so kann das Wort Gottes für uns lebendig werden. Es kann zu uns sprechen und uns als Christen für die Herausforderungen der weltweiten Migrationsbewegungen in unserer Zeit sensibilisieren. Aber vor allem möchten wir mit diesen Geschichten alle Migranten ermutigen und stärken.

Nach einer Statistik der Vereinten Nationen gibt es 230 Millionen Migranten auf der Welt. Große Menschengruppen fliehen in fremde Länder oder innerhalb eines Landes. Das ist nichts Neues. Dass Menschen an andere Orte vertrieben wurden, gab es schon immer. Geschichtliche Ereignisse und anthropologische Analysen zeigen, dass das Wandern zu den Wesensmerkmalen des Menschen gehört. Menschen verlassen ihren Heimatort und leben anderswo als Einwanderer. Freilich sind sie nun Fremde, und das tägliche Leben hat für sie sowohl gute als auch schlechte Seiten. So ist das schon seit jeher.

Schon das erste Glaubensbekenntnis in der Bibel nimmt Bezug auf die Flucht Abrahams nach Ägypten: »Mein Vorfahr war ein heimatloser Aramäer. Als er am Verhungern war, zog er mit seiner Familie nach Ägypten und lebte dort als Fremder.« (5Mose/Deuteronomium 26,5) Es gibt nur wenige wichtige Ereignisse in der Bibel, die nichts mit Wanderbewegungen zu tun haben, ob nun aus wirtschaftlichen Gründen, aus dem Wunsch, einem Familienmitglied nah zu sein, weil ein Krieg ausbricht oder aus anderen Gründen. Selbst Jesus Christus, der Sohn Gottes, kam aus Liebe zu den Menschen als Fremder auf die Erde (Philipper 2,6-7). Er wurde ein Mensch mit Fleisch und Blut, um uns den wahren Weg zu Gott zu zeigen. Wir erwarten im Glauben das versprochene Kommen der himmlischen Stadt auf die Erde am Ende der Zeit. Dies wird die ewige Stadt sein, in der es kein Weinen und kein Leid mehr geben wird. Denn Gott, ihr Herrscher, wird wie eine Mutter alle Tränen seiner Töchter und Söhne, der ewigen Migranten, abwischen.

In dem folgenden Zeugnis macht der Migrant Carlos deutlich, dass in jedem von uns etwas von einem Migranten steckt.

Meine Geschichte gleicht denen vieler anderer Menschen. Vor 29 Jahren kam ich in Caracas an. Ich kam von Argentinien, auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Meine Familie und ich leben nun seit 13 Jahren in Israel. Wir haben Zeiten von Freude, Traurigkeit, Misserfolg und Erfolg durchlebt. Ich fühle mich gut. Wenn ich zurückschaue, ist da Heimweh nach dem Land, in dem ich geboren wurde. Wenn ich nach vorn schaue, hoffe ich auf Erfolg mit unserem Geschäft. Ich bin davon überzeugt, dass das Bedürfnis, unseren Horizont zu erweitern, etwas ist, das zu unserer DNA gehört, es liegt uns im Blut, auch in unserer Zeit. Es gehört zur Evolution. So haben wir unseren schönen blauen Planeten bevölkert. Alles verändert sich, aber wir ziehen weiter über die Erde. Ich träume von dem Tag, an dem wir einst reisen können, wohin immer wir wollen.1

Die meisten Menschen machen sich die Entscheidung zum Auswandern nicht leicht. Andere Sitten und Bräuche, die Notwendigkeit, eine neue Sprache zu lernen, Schwierigkeiten, eine Arbeit zu finden, Fragen der Religion und vieles anderes stellen große Herausforderungen dar. Wenn Menschen auswandern, ohne an dem Ort, an dem sie leben wollen, Bekannte oder Unterstützer zu haben, haben sie es besonders schwer. Wenn sie die bürokratischen Prozeduren bei den Einwanderungsbehörden nicht kennen, wird das Erlangen der nötigen Papiere viel Arbeit, Kosten und manche Enttäuschungen mit sich bringen. Außerdem müssen sie etwas über das Leben in dem Zielland wissen. Sie müssen wissen, welche Gewohnheiten Anstoß erregen und welches Verhalten gut ankommt. Sie müssen ehrlich, klug und scharfsinnig handeln, um als Fremde akzeptiert zu werden. Natürlich garantiert das noch nicht, dass sie glücklich sein und Erfolg haben werden. Aber sie werden mehr gute als schlechte Erfahrungen machen.

Um die biblischen Geschichten mit den Augen heutiger Migranten sehen zu können, muss man etwas über ihre Lebenswirklichkeit wissen. Dann kann das Wort Gottes Bedeutung bekommen und Leben verändern. Der Welt­entwicklungsbericht des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) über Migration und mensch­liche Entwicklung2 zeigt uns, dass viele Vorstellungen, die die Menschen über Migranten haben, falsch sind, zum Beispiel: »sie nehmen uns unsere Arbeitsplätze weg«, »sie klauen« oder »sie liegen uns Steuerzahlern auf der Tasche«.

Die Forschung zeigt jedoch, dass im Allgemeinen beide Seiten profitieren, die Zuwanderer und die Einheimischen. Beide erweitern ihren Horizont und lernen Neues hinzu. Die Begabungen und Fähigkeiten der Einwanderer ergänzen die Ressourcen des Landes, in das sie gekommen sind. Wenn sie erfolgreich sind, helfen sie nicht nur sich selbst und ihren Familien in der Ferne, sondern auch der Gesellschaft, in der sie als Einwanderer leben. Sicher, es kommt nicht jeder voran. Einsamkeit, Zurückweisungen, ein fehlender Arbeitsplatz, Krankheit, Probleme mit den Behörden etc. sind belastende Faktoren, die es ihnen schwer machen, sich ihre Träume zu erfüllen. Wenn Vertriebene oder Flüchtlinge aus Kriegsgebieten kommen oder aus Gegenden, in denen die Gewalt grassiert, werden sie sich besonders schwertun. Sie haben ihre Heimat ja nicht freiwillig verlassen. Aber in der überwiegenden Zahl der Fälle ziehen die Menschen aus eigenem Entschluss fort, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Wie Ban Ki-Moon, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, es ausdrückt: »Migration ist ein idealer Weg, um Armut zu reduzieren und neue Möglichkeiten zu schaffen.«

Man könnte meinen, dass die großen Migrationsbewegungen von den armen Ländern in die reichen führen. Nach dem UNDP-Bericht gibt es allerdings mehr Menschen, die innerhalb eines Landes auf der Flucht sind oder umziehen (740 Millionen), als Menschen, die von einem armen Land in ein reiches ziehen (70 Millionen). Und nicht nur das, die Wanderbewegungen von einem reichen Land in ein anderes reiches Land sind mit 200 Millionen ebenfalls zahlreicher als die von einem armen in ein reiches Land. Diese Zahlen vermitteln uns eine ausgewogenere Sicht auf das Phänomen der Migration.

Tauchen wir nun ein in die faszinierende Welt der Bibel und lassen uns anrühren von den spannenden und bewegenden Geschichten, die sie zu erzählen weiß.

1 So in einem Artikel auf www.bbc.com/mundo am 9. März 2004.

2 Human Development Report 2009. Overcoming barriers: Human mobility and development (Weltentwicklungsbericht 2009. Barrieren überwinden: Migration und menschliche Entwicklung). New York: UNDP, 2009: 2-5.

Flucht und Neuanfang

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