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Der Auftrag – Detektei Indiskret

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Der Sommer lag seit Wochen über der Stadt.

Lilo Moser stand vor der Zukunft wie vor dem Eingang eines langen dunklen Tunnels, trat auf der Stelle und hatte Angst vor dem ersten Schritt.

Mutig betrat sie durch eine Drehtür den Wolkenkratzer der Detektei Indiskret. Die durch die Klimaanlage gekühlte Luft schlug ihr unangenehm kalt ins Gesicht.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hatte sich hier viel verändert.

Begonnen mit Vater und zwei Söhnen. Ständiger familiärer Wechsel der Geschäftsführung. Teils freiwillig, meist jedoch verbunden mit einem Skandal. Aus der einst kleinen Dynastie war ein Imperium entstanden.

Im Vorzimmer gab es zwei Schreibtische und zwei Sekretärinnen. Der Energiepegel im Raum war hoch.

Beide Schreibtische waren ungeheuer aufgeräumt. Beide Sekretärinnen telefonierten hektisch, drücken Knöpfe und hackten im Zweifingersystem auf der Tastatur herum, starrten in ihre PCs, hatten augenscheinlich keine Zeit für die Besucherin.

Lilo begrüßte die Empfangsdamen. Die hübsche Blonde sah sie missbilligend an und unterbrach für einen Augenblick ihr Telefonat, indem sie die Hand über die Sprechmuschel hielt. „Zu wem wollen Sie? Haben Sie einen Termin?“, fragte sie nach kurzem Zögern, einen schnellen Seitenblick zu ihrer Kollegin werfend.

Lilo war erstaunt, dass man sie hier, in Frankfurt, als einen Niemand behandelte. In Offenbach wäre ihr das nicht passiert. Schließlich war sie die Frau von …

Andererseits war es pure Absicht über den Main zu fahren und um in Frankfurt um Hilfe zu bitten.

Eddies Praktikant tauchte wie aus dem Nichts vor ihr auf.

Bei dem sehr fotogenen Gesicht des Praktikanten, schön wie ein gefallener Gott, dachte man sofort an einen Tänzer. Ernst und schmal. Er hatte den durchtrainierten Körperbau und die Zartheit einer Gazelle. Nur der leichte Anflug von Bartstoppeln auf Kinn und Wange beeinträchtigten sein adrettes und gepflegtes Erscheinungsbild ein wenig.

Der Praktikant, so um die zwanzig, sah in Wahrheit zeitlos aus.

„Herr Fischer wird gleich Zeit für Sie haben“, sagte Kevin mit einer schönen tiefen Stimme. Er hatte einen frechen, irgendwie jugendlichen Zug um den Mund.

Lilo quittierte seine Worte mit einem höhnischen Lächeln.

„Hören Sie, Herr …, Termine sind meine Sache“, protestierte Sekretärin Nummer eins. Der Praktikanten reagierte nicht auf ihren Einwand und nichts in seinem Gesicht veränderte sich, abgesehen von einer sehr sparsamen Erregung um seine Augen. „Kommen Sie mit“, sagte er zu Lilo und machte eine kleine Kunstpause, hakte sie unter und tätschelte ihre Hand. „Sie werden bereits erwartet“, log er.

Kommentarlos drehte er den Empfangsdamen den Rücken zu, zog Frau Moser mit sich fort und führte sie zu einem Paternoster um die oberen Stockwerke zu erreichen.

Kevin hatte keine Ahnung wer diese reizende Dame war und Eddie wusste ebenso wenig Bescheid. Er wollte den beiden möchtegern Sekretärinnen lediglich wieder einmal eins auswischen.

„Können Sie meinen Mann überwachen? Ich glaube, er hat ein Verhältnis. Ihr Name ist Loreley, sie lebt mit ihm zusammen im Schloss“, seufzte sie und nahm Eddie gegenüber platz, knallte ihre Handtasche auf seinen Schreibtisch. Mit diesen Worten fiel sie, total überspannt mit der Tür ins Haus. < Dieses Äffchen klebt wie ein Stück Scheiße an seinem Absatz >, hätte sie am Liebsten gesagt. Ihr Puls raste, sie kochte vor Eifersucht. Um Fassung bemüht, blickte Lilo an ihm vorbei, starrte aus dem Fenster.

Eddie Fischer war ein ruhiger höflicher Mensch, der auf seine Umgebung ausgesprochen beruhigend wirkte, vielleicht weil er über seinem Ehrgeiz nie seine gute Erziehung vergaß. Alle mochten ihn. Einer der Gründe, weshalb sie ihn heute aufsuchte.

Der Ermittler der Detektei Indiskret überlegte, wie er aus dieser Nummer wieder rauskam. Kleinkram, wie stutenbissige, eifersüchtige Ehefrauen, lehnte er prinzipiell ab. Es war immer das gleiche mit nur geringfügigen Variationen. Er war doch kein Mülleimer, in den man seine Sorgen hineinwarf. Er konnte sie nicht ernsthaft beraten. Sie wollte reden und er sollte zuhören. Verständnisvoll, selbstlos, gerührt und sie vielleicht einmal auf die humorvolle Seite der Sache hinzuweisen.

Sein Blick streifte ihr Gesicht. Ihre Augen gefielen ihm gar nicht. Er sah Niedertracht darin, wie das Blitzen in den Augen einer zusammengerollten Schlange, die jeden Moment zuschnappen konnte.

Doch halt. Da war noch etwas. Er kannte sie. Diese exzentrische eigensinnige Person. Von wo bloß?

„Tut mir leid, da müssen Sie sich an einen Kollegen wenden.“ Er stützte einen Ellbogen auf die Stuhllehne und lehnte das Kinn in die Hand. „Das ist nicht mein Ressort. Meine Abteilung hat den Schwerpunkt: Wirtschaftskriminalität“, log er.

Die Zeit, wo er mit Kamera, Block und Stift sich die Nächte um die Ohren schlug, waren Gott sei dank schon lange vorbei. Es schauderte ihn, als er daran dachte, wie er mit Haarspray und Zahnbürste bewaffnet vor Fußabdrücken kniete um einen Gipsabdruck abzunehmen, mit einem Pinsel aus Marabu-Federn Fingerabdrücke sicherte, die Post aus dem Briefkasten fischte, den Müll durchsuchte ...

„Nur keine falsche Bescheidenheit. Sie sind ein erfahrener Detektiv.“

Eddie wollte sie unterbrechen, aber sie ließ sich nicht beirren.

„Sie sind neugierig und lassen sich so leicht nichts vormachen ...“. Lilo suchte in seinen Augen nach einer Spur von Stolz, sah aber nur einen Ausdruck echter Verwirrung in seinem Blick.

Hatte, oder wollte sie ihn nicht verstehen? „Ich wiederhole mich nur ungern ...“.

Sie ließ ihn nicht ausreden. „Na ja, dann eben nicht.“ Sie warf ihm einen herablassenden Blick zu, legte die Hand über die Augen, wippte nervös mit dem Bein. Lilo war zerknirscht. Sie stand auf, griff nach ihrer dünnen Stola, die sie über einen Stuhl geworfen hatte und richtete sich kerzengerade auf, als ob diese Bewegung auch in ihrem Hirn etwas in Bewegung gesetzt hätte. Ihr Bein bewegte sich noch immer. Sie ließ ihren Blick zu Eddie wandern. Eine Weile sagte sie gar nichts. Lilo stand nur hoheitsvoll da, in ihr leichtes, pastellfarbene Etuikleid mit Spaghetti-Trägern gehüllt, tadellos gekleidet, wie immer, wie eine Priesterin in ihrer Robe und nestelte an ihrer Halskette. Dann wandte sie sich Eddie zu. Sie sah in ein ausdrucksloses Gesicht mit markanten Zügen und einem kühlen, distanzierten Schmunzeln. Lilo wusste, dass er sie im Stillen taxierte – und es missfiel ihr. Sie schaute ihn konsterniert an.

„Einen Versuch war es jedenfalls wert“, sagte sie abschied nehmend. Ein leises, hintergründiges Lächeln spielte um ihre gekräuselten Lippen. Sie zuckte mit den Schultern. „Sie haben mich nicht einmal nach dem Namen meines Mannes gefragt.“

„Nun, ich denke es ist alles gesagt.“ Eddie erhob sich, froh, zu einem Ende gekommen zu sein und machte keine Anstalten, ihr mit dem Tuch behilflich zu sein. Vielleicht verspürte er, dass sie nicht in der Stimmung war, sich verwöhnen zu lassen. Sie ging mit den Worten „Moser, Paddy Moser“ davon, aufrecht, fast steif.

Er dachte, ob man sie nun mochte oder nicht, sie war jedenfalls eine bemerkenswerte Frau, ein Knaller. Intelligent und attraktiv. Man musste vermutlich so sein wie sie, wenn man mit einem Mann wie Paddy Moser verheiratet war. Gefangene in einer freundlosen Ehe.

Und dann viel es ihm wieder ein. Das war doch eben Liese-Lotte mit Bindestrich Müller die ihm gegenüber saß. Einst Traum seiner schlaflosen Nächte.

Gewiss war er damals kein Adonis, ein vollschlanker Bube mit Pickeln und Brille, aber seine Augen besaßen einen humorvollen Schimmer und seiner Stimme hörte man an, dass er gern lachte. Sie hatte sich sehr rasch seinem Dunstkreis entzogen.

Wie war das nochmal?

Sie kannten sich von den Pfadfindern. Liese-Lotte, Theo und er. Paddy, um einiges älter, war der Rudelführer.

… schon in jungen Jahren litt sie an gnadenloser Selbstüberschätzung, nachdem sie die Wahl zur Miss Offenbach gewonnen hatte.

Eddie konnte nicht genau das Datum nennen, an dem ihre Beziehung zu Paddy anspruchsvoller wurde, die nun zu einer Belastung in ihrem Leben geworden war. Damals, als Paddy seine ganze Aufmerksamkeit immer mehr auf seine Karriere und seinen Ehrgeiz richtete. Sie war für ihn immer nur eine Trophäe. Ein Accessoire, wie ein Ring oder seinem zahllosen Lametta, dass er um den Hals trug. Er hatte sie nie wirklich geliebt. Sie war einfach da. Zur rechten Zeit am rechten Ort, aber eben nur die zweite Wahl. Hatte Lilo das alles nur verdrängt, oder tatsächlich vergessen? Liese-Lotte mit Bindestrich Müller. Nur noch eine hübsche Ruine! Nicht alltagstauglich.

Von Anfang an hatte Paddy in ihrer Ehe das Sagen. In den vielen Jahren ihres Zusammenseins bestimmte er allein ihre Unternehmungen, mit wem sie verkehrte und was sie unternahm. Vielleicht hatte sie jemanden gebraucht, der ihr alle Entscheidungen abnahm, sie umsorgte und verwöhnte. Vielleicht hatte sie die Möglichkeit gebraucht, selbst in einem anderen zu verschwinden. Anfangs hatte Lilo nichts dagegen gehabt, dass Paddy ihr Leben in die Hand nahm. Er wusste, was für sie am Besten war. Er meinte es nur gut. Wie hätte sie, die aus bescheidenen Verhältnissen stammte, ein arme Leute Kind, wo man jeden Pfennig zweimal umdrehte, ohne sein Geld, überleben können?

Aber dann hatte sie in zunehmendem Maß, vielleicht sogar ohne bewusste Absicht, versucht, sich selbst zu behaupten. Lilo fing an sich mit Paddy zu streiten. Sie trug Kleider und Farben, von denen sie wusste, dass er sie nicht mochte. Sie stopfte sich, kurz bevor er sie in sein Lieblingslokal ausführte, mit Süßigkeiten voll. Lilo weigerte sich seine Freunde zu kontaktieren, bis sie zuletzt aus dem Schloss auszog. Sie ließ sich nicht länger, als Anhängsel, auf die Ehefrau vom Moser reduzieren.

Theo war doch damals auch ganz verrückt nach ihr, viel es Eddie wieder ein, aber Paddy machte das Rennen, nachdem Salome verschwunden war.

Apropos Theo. Man könnte sich mal wieder auf ein Bier treffen und über die alten Zeiten reden.

Lilos Besuch würde ihn bestimmt interessieren.

Trotz der Absage beschloss Eddie, ein Auge auf Paddy zu werfen. Nur so. Aus Neugier.

Zum Aufgalopp, eine schöne Aufgabe für seinen Praktikanten.

In strahlendem Sonnenschein trat Lilo wieder auf die Straße. Ein durchdringender Geruch von Benzin und Abgasen lag in der vor Hitze stehenden Luft. Dunkle Wolken kündigten Regen für den späten Abend an.

In der Ferne erblickte sie Helen, die ihr freudig zuwinkte und näher kam.

„Wo steht Dein Wagen?“, fragte Helen Lilo, als sie frohgemut über den betonierten Fußweg zum Parkplatz ging.

Sie wandte sich ihr zu. „Ich bin mit dem Taxi gekommen.“ Ihr linker Mundwinkel zuckte.

Helen schaute Lilo verdutzt an und schloss ihr Auto auf. Kleine Fältchen zogen sich um ihre Augen. Zwei tiefe Furchen liefen zwischen Wangen und Nase. „Das klingt aber gar nicht gut. Steig ein. Ich habe Brot, Käse, Schinken und ein paar Tomaten im Kühlschrank.“ Helen zögerte, „das müsste reichen. Oder wollen wir uns etwas vom Italiener holen?“

„Quatsch. Ein Glas Wein reicht mir.“

„Mir auch. Um ehrlich zu sein, Käse und Schinken sind reichlich betragt.“

„Obwohl für Alkohol ist es noch zu früh ...“. Sie sah Helen kritisch an.

„Blödsinn. Irgendwo ist immer Abend! Wir lassen den Wolf vor der Tür und haben Spaß.“

Helen schloss die Wohnungstür auf, legte ihre Handtasche, die sie unter dem Arm trug, auf der Garderobe ab und stieg rückwärts aus ihren Sandalen, ging Barfuß in die Küche.

„Rot oder Weiß?“

„Rot. Rot beruhigt.“

„Du liebe Güte! Ist es so schlimm? Wie kommt es, dass Du mit dem Taxi gefahren bist? Hattest Du einen Unfall?“, fragte Helen und war selbst überrascht, als sie das Zittern in ihrer Stimme wahrnahm.

Lilo setzte sich, schlang die Arme um die angezogenen Beine, schluckte trocken und erzählte, unheilschwanger, wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch, Helen von ihrem Verdacht, dass Paddy eine Geliebte hatte. Sie berichtete geduldig von ihrem Treffen mit einem Privatermittler der Detektei Indiskret und das dieser den Auftrag aufgelehnt hatte. Lilo vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich kann doch nicht einfach ins Schloss gehen und so tun, als sei alles in Ordnung! Wenn ich ihn fragen würde, würde er mir ausweichen oder alles abstreiten, dass weiß ich, so gut kenne ich ihn und zu einer Szene habe ich keine Lust. Das finde ich einfach unwürdig. Ich käme mir vor wie eine miese Schauspielerin in einer noch mieseren drittklassigen Schnulze“, ereiferte sich Lilo. „Würde ich ihm eine Szene machen, bekäme er sofort Oberwasser und würde, wie immer, die Schuld auf mich abwälzen.“

Helen schüttelte zustimmend mit dem Kopf. „Recht hast Du.“ Ihre Stimme gewann durch die Entrüstung wieder an Kraft.

So ging die Unterhaltung weiter bis in die frühen Abendstunden.

Inzwischen war es dunkel geworden. Helen stand auf, holte sich Zigaretten und ein Feuerzeug, öffnete die Balkontür, um die laue Nachtluft ins Zimmer zu lassen.

„Lass uns die Sache einmal ganz nüchtern betrachten. Du hast Paddy mit Loreley an einem Ort überrascht, wo er mit großer Wahrscheinlichkeit auch von anderen, ich meine von gemeinsamen Bekannten, gesehen wurde. Wenn er tatsächlich ein Verhältnis mit dieser Person hätte, würde er sich nicht mit ihr in der Öffentlichkeit blicken lassen. Zumindest kann ich mir das nicht vorstellen.“

„Aber wie finde ich heraus, ob die beiden wirklich etwas miteinander haben?“ Lilo hob entmutigt ihr Glas, führte es an ihre Lippen und hielt es mit den Zähnen fest. Es war leer. Sie stellte es ab und schenkte sich nach, musterte aufmerksam, unverkennbar skeptisch, das Etikett.

„Bevor wir uns etwas ausdenken, hole ich uns doch etwas zu essen. Ich habe Hunger bekommen.“ Helen machte ihre Zigarette aus und ging zurück in den Wohnbereich, schloss die Balkontür und zündete zwei Duftkerzen an. Theo mochte es nicht, wenn in der Wohnung geraucht wurde.

„Ich auch“, gestand Lilo, stand auf und ging in die Küche, gefolgt von Helen.

„Hast Du Marmelade im Haus und Butter, die nicht ranzig ist?“ Sie lehnte ihren Kopf an das Regal mit den Kochbüchern und kreuzte die Arme vor der Brust, wohl aus dem Bedürfnis, sich vor ihren eigenen Gedanken zu schützen.

Helen verzog das Gesicht zu einer Fluppe und verbreitete somit eine komische Stimmung. „Bist Du verrückt? Marmelade mit Wein geht gar nicht. Aber Du bringst mich da auf eine Idee ...“. Sie rannte zum Kühlschrank und riss die Tür auf. „Sie ist noch da! Frühstücksfleisch in der Dose, das Verfallsdatum ist noch nicht abgelaufen. Na, wie klingt das?“

„Perfekt.“ Lilo prüfte das Toastbrot. „Das ist noch essbar“, stellte sie fest.

„Bewunderst Du Deinen Mann? Himmelst Du ihn an? Vermittelst Du ihm das Gefühl, er sein ein einziges Juwel und ein göttlicher Liebhaber?“

„Bin ich blöd?“, entgegnete Lilo heftig.

„Nein, das bist Du nicht, aber klug bist Du auch nicht. Du solltest Loreley dankbar sein, weil sie Dich aus deiner verschlafenen, phantasielosen Trägheit herauskatapultiert hat. Jetzt bist Du aufgeschreckt. Siehst Du.“ Helen sprach mit dem vollen Glas in der Hand. Sie war so in Rage, dass der Wein drohte überzuschwappen. „Jetzt willst Du vielleicht sogar kämpfen? Willst ihr zeigen, wer das Alphaweibchen ist. Auch zubeißen? So lange, bis sie abgeschlagen das Feld räumt? Gut so. Du musst ihr zeigen, wo‘s langgeht.“

Lilo spielte mit ihrem leeren Weinglas. Der letzte Tropfen begann anzutrocknen. Helen nahm es ihr aus der Hand, füllte es und reichte es ihr wieder. Er roch sehr viel besser, als er schmeckte.

„Wenn Du erst mal Deine Wunden geleckt hast, können wir uns auch morgen treffen und einen Plan schmieden.“

„Hast Du eine Idee?“

„Wir brauchen alle einmal einen Weckruf. Jeder isst gerne Steak, aber niemand möchte mit einem Metzger befreundet sein.“

Helen hatte, nach reichlich Alkohol, die perfekte Idee. Sie würde Paddy einem Treuetest unterziehen. Bei dieser Vorstellung glitzerten ihre flinken Augen wie Glasperlen. Sie bekamen eine warme Tönung und blickten mit unverhüllter Zuneigung auf Lilo.

In einem Magazin hatte sie erst kürzlich gelesen, dass Männer Menschen sind, bei denen Pubertät und Midlifecrisis fließend ineinander übergehen.

Der Auftrag – Club 56

Anders als die kleinen, dunklen Bars und Nobelrestaurants auf der Hafeninsel in Offenbach, in denen Lilo und ihre Freunde normalerweise verkehrten, war der Club 56 ein riesiges altes Lagerhaus, das man in eine Gaststätte mit Bar umgewandelt hatte. Von der hohen Decke hing ein gigantischer Leuchter in die Mitte des Raumes herab, der in einer Art Landhausstil eingerichtet war. Hinten standen, mit Sonnenblumen bepflanzt, mehrere große Tontöpfe, vorn war die stets gut besuchte Bar.

Heitere, sommerlich gekleidete Menschen saßen an den langen, mit blau-weißem Papier bedeckten Tischen, aßen Frankfurter Kranz, tranken Kaffee und genossen den schönen Tag. Andere liefen hierhin und dahin, um Freunde zu begrüßen. Wiederum andere balancierten gerippte Gläser mit Apfelwein vom Fass auf einem Tablett, gingen an das Buffet um sich Handkäse mit Musik, Grüne Soße und andere Köstlichkeiten zu holen.

Nach Lilos Schätzung hatten an den Tischen, im großen Speisesaal, leicht zweihundert Gäste Platz. Aus unsichtbaren Lautsprechern strömte, etwas aufdringliche, unpassende, bayerische Volksmusik. Der ideale Platz für ein geheimes Rendezvous.

„Du bist immer noch mit ihr verheiratet?“

„Ja. Immer noch.“ Theo goss sich ein Glas Bier ein und sah zu, wie der Schaum langsam hochstieg.

Es war weder ein nachdrückliches noch ein automatisches < Ja >.

„Bist Du glücklich?“ Lilo erwähnte den Besuch bei Helen mit keinem Wort. Sie hatte über ihre Ehe mit Theo ordentlich vom Leder gezogen.

Das Kinn auf die Hand gestützt, dachte Theo nach und konterte leichthin: „Selbstverständlich.“

Aber der Klang seiner Stimme verriet ihn. Sie hatte einen Unterton, die so beunruhigend war wie eine gefährliche Strömung eines trügerischen glatten Wasserspiegels.

„Lügner!“, sagte sie zu laut. Erschrocken über sich selbst sah sie sich um, ob sie belauscht wurden.

Niemand nahm Notiz von den beiden.

Er blickte auf das vom Kerzenschein beschienene Gesicht von Lilo. Seine Ehe mit Helen hatte längst an Feuer verloren.

„Du bist kein Mann, den man heiratet.“

„Ich habe auch immer gedacht, dass Du für die Ehe nicht taugst“, wehrte er beiläufig ab und trank betreten einen Schluck Bier.

Lilo errötete und brach verlegen ab. Sie nippte an ihrem Gänsewein und ging vorerst nicht darauf ein. Mit dem Daumen wischte sie die Lippenstiftspuren von ihrem Glasrand ab.

Es folgte eine Pause langen Überlegens.

Neben ihm wirkte sie klein und unscheinbar. Es war lange her, dass sie sich zuletzt begegnet waren. Lilo hatte sich offensichtlich sehr verändert. Gewiss, ihr Haar hatte immer noch diese widerspenstige Mähne aus schwarzen Locken aber ihr Gesicht war anders, als er es in Erinnerung hatte. Früher strahlte es eine grimmige Entschlossenheit und Selbstsicherheit aus. Nicht besonders schön, aber gleichwohl faszinierend, besonders wegen der glutvollen und klugen Augen. Jetzt sah sie abgehärmt und gehetzt aus. Sie hatte abgenommen. Er sah Schatten in ihrem Gesicht, in ihren eingefallenen Wangen, die früher nicht da waren.

Einen Augenblick war etwas von der alten Vertrautheit zwischen ihnen, aber sie stellte den Abstand schnell wieder her.

„… aber ja. Eine Frau kann so immer noch am leichtesten zu Geld kommen. Schon als kleines Mädchen wollte ich reich sein. Ich wollte nie etwas anderes geschenkt bekommen, keine Puppen, kein Spielzeug, am liebsten war mir immer Geld. Ich habe dazugelernt. Manchmal leicht, manchmal schwer, aber gelernt habe ich es. Man kann alles für Geld kaufen und ich mag Leute nicht, die das nicht zugeben. Reich bist Du erst, wenn Du nicht mehr fragst, woher das Geld kommt und das erreichst du als Frau nur in einer Ehe! Eine Frau in meinem Alter hat nur eines zu befürchten: Die Zukunft“, stieß sie zornig hervor und wickelte eine Strähne ihres Haares um den Mittelfinger bevor sie sie sich hinter das linke Ohr strich. Ihre Augen sprühten in einem lodernden Feuer und ließen von ihrer früheren Schönheit ahnen.

„Und wie ist die Ehe mit einem egozentrischen Künstler wie Paddy Moser, der Dich wie eines seiner Schmuckstück behandelt?“, beeilte sich Theo zu fragen. Er blickte auf und fixierte Lilo mit einer Intensität, die ihr Unbehagen bereitete.

Als sie seinen Blick erwiderte, hatte sie das Gefühl, dass er sich irgendwie in ihr Gehirn eingeschlichen hatte und darin herumwühlte, auf der Suche nach dem wunden Punkt.

„In Ordnung, glaub ich. Ich bin eine treue Ehefrau.“

„Du konntest noch nie gut lügen.“

„Wie meinst Du das?“

Theo ging auf ihre Frage nicht ein. „Ich hab Deinen Göttergatten in einem vornehmen Restaurant, umgeben von Schöngeistern gesehen, wo die Kellner dich hochnäsig behandeln, aber um ihn sprangen sie herum wie emsige Bienen. Seine Stimme war von derselben Qualität wie sein Lächeln. Frisch und schwungvoll. Allenthalben sah man zarte Wangen gezeichnet von beherzten Bruderküssen. Paddy Moser, ein Mann, der über sich selbst spottete und ich fragte mich, ob das wirklich Überlegenheit war, oder ob er nicht eine Fassade zeigte, die sich von der Wirklichkeit unterschied. Ein Mann, der seine Lebensweisheit über die Gruppe ergoss. Paddy duldete dabei keine Unterbrechung. Souverän brachte er seine Zweifler zum Schweigen.“ Er machte eine Pause um seine Worte wirken zu lassen.

Was er Lilo verschwieg: Theo machte sich gegenüber Paddy natürlich bemerkbar und auf sein Zeichen hin trafen sich beide auf der Toilette und heckten einen Plan aus.

Es kam zu einer Übergabe.

Theo schwenkte das Bier im Glas, um zu sehen, ob es noch schäumte. Es schwappte über, der Rest blieb schal. Theo leckte sich die Lippen und trank es trotzdem achselzuckend aus. „Hast Du Probleme mit ihm?“

„Wie kommst Du darauf?“

„Nur so.“ Ein boshaftes Grinsen lag auf seinem Gesicht.

Mit einem lauten Seufzen atmete sie aus. „Ich spiele in seinem Leben nicht mehr die erste Geige.“

Es schien sie sehr zu beschäftigen.

„Und das soll ich ändern? Was erwartest Du von mir?“

Die Frage, mit so sanfter Stimme vorgebracht, ließ Lilo verstummen. Sie mochte es gar nicht, wie er ihr zu Leibe rückte, doch dann besann sie sich auf ihr Anliegen. Ihr Blick wanderte zur Eingangstür. Es vergingen ein paar Sekunden. Als sie wieder sprach klang ihre Stimme etwas weicher, leise und schläfrig, als ob sie in Trance wäre.

„Ein paar delikate Fotos den entsprechenden Leuten zugespielt – und ich könnte die Scheidung einreichen.“ Sie legte ihre Hand auf seinen Arm. Es war eine kalte, einstudierte Geste. Sie blieb ernst und angespannt. „Du weißt, dass ich lange gebraucht habe, um das zu erreichen und deshalb bin ich wachsam.“ Sie warf ihm einen flehentlichen Blick zu. Sie wusste, dass sie mit Hilfe eines kleinen Flirts und indem sie die naive Unschuldige spielte, dass von ihm bekommen würde, was sie wollte.

„So, so.“ Insgeheim machte Theo sich über ihren Plan hämisch lachend lustig. < So tief bist Du also gesunken um auf ein solches lächerliches Mittel zurückzugreifen. Das ist einfach nur billig! > Theo ließ es dabei bewenden. „Männer sind immer auf der Pirsch nach der idealen Frau – vor allem nach der Hochzeit. Treue ist nicht immer eine Frage des Charakters. Es ist eine Frage der Gelegenheit.“

„Du sprichst von Dir?“, gab sie mit einem ironischen Grinsen zurück und zog dabei die Augenbrauen hoch.

Theo blieb ihr abermals eine Antwort schuldig. Er ließ den Kopf gramerfüllt hängen und sah verdrießlich auf sein Glas, seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Sie betrieb psychologische Spielchen. Ein eindeutiges Zeichen für Wut und Hass. Sie war bösartig!

Lilo hatte jetzt Sicherheit. Mehr als andere. Und mehr als andere musste sie darüber wachen, jeden Augenblick.

„Am Samstag findet im Schloss eine Hochzeit statt. Paddy hat den Ballsaal im Erdgeschoss freigeben ...“. Lilo rang mühsam um Fassung. < Reiß dich zusammen! > befahl sie sich wütend, als ihr die Tränen in die Augen stiegen.

Da ihr Wehklagen leider keinen Heilbalsam aufs geschundene Herz träufelte, schluckte sie die Tränen herunter bevor sie verebbten.

Theo erwiderte nichts und keine Miene seines unbewegten Gesichts verriet seine Gedanken.

< Wir hatten einst eine schöne Zeit – leider nur viel zu kurz >, dachte er. < Du geldgeiles Miststück! >

Lilo hatte keine bösen Träume mehr, so etwas Ähnliches hatte sie gesagt. Sie waren nur in ihrem Kopf und somit hatte sie von ihnen nichts zu befürchten. Sie hatte gelernt, erhobenen Hauptes durch ihre Albträume zu wandeln und sich von ihnen keinen Schrecken mehr einjagen zu lassen.

Nun hatte sie zwar keine Angst mehr, aber noch immer keine Macht über ihre Träume. So gelang es ihr zum Beispiel nicht, ungebetene Gäste fernzuhalten. Immer wieder suchten sie in ihren Träumen Fremde heim, die nicht die Absicht hatten, zu ihrer Unterhalten beizutragen. Sie lungerten faul und untätig herum, als sei Lilos Kopf ein Wartezimmer. Sie hatte nicht selten das Gefühl, dass ihre Träume hinter den Kulissen der Träume anderer abspielten. Aber die bei weitem kuriosesten Besucher ihres Unterbewusstseins waren die Toten.

Theo kannte Loreley vom Sehen. Ihr Ruf eilte ihr voraus. Sie hatte lange, fantastische Beine, eine schmale Taille, intensiv blaue Augen und einen schön geschwungenen Mund. Ihre hellbraunen Haare waren glatt und lang bis zum Po. Oft band sie sie zu einem smarten Pferdeschwanz zusammen. Dabei zog sie das Haar so straff nach hinten, dass es ihre Gesichtshaut wie ein Facelifting zu spannen schien.

Theo nahm sich vom Italiener an der Ecke eine Pizza mit und kramte zu Hause noch einen vergammelten Salatkopf aus dem Gemüsefach des Kühlschranks. Er zupfte die welken, braunen Blätter ab, bis er zu dem gerade noch essbaren Kern vorgedrungen war. Es war ein blasser und wenig appetitanregender Salat, den er mehr als Pflichtgefühl als aus Genuss verzehrte. Zum genießen fehlte im die Muse. Theo aß nur, um seinen Energiespeicher für sein Vorhaben aufzufüllen.

Nach ein paar Bissen schob er den Pappkarton von sich weg und stand auf.

Helens Augen waren grünlich und hatte eine gelb gesprenkelte, meergrüne Iris. Ihre Haare waren blond, dauergewellt und kurz geschnitten.

Im Gegensatz zu Lilo war sie an ihrer ersten großen Liebe klebengeblieben.

Theo, eine außergewöhnliche Persönlichkeit, war lustig, humorvoll, charmant, intelligent, ein guter Zuhörer und konnte bei Frauen eine unheimliche Faszination auslösen. Glücklicherweise besaß er Helen gegenüber ein umgängliches Naturell. Theo war großzügig und in seiner typischen Zurückhaltung vermied er es, sich zwischen Helen und ihre Freundinnen, die er, wenn überhaupt, kaum kannte, zu drängen. Er war ein wilder, gutaussehender, kultivierter Lebemann. Beherrscht, elegant. Und er gefiel nicht nur ihr.

Theo war offiziell ein geschätzter Fotograf, aber in der Realität war er ein gefürchteter Paparazzo. Für genügend Zaster hätte er seine eigene Großmutter verkauft. Auch ihm eilte sein Ruf, in gewissen Kreisen, voraus. Er war oft auf Reisen, eher selten Zuhause.

Helen war, was sie nach außen nie zeigen würde, eine zerbrechliche Frau. Sie konnte es immer schlechter ertragen, dass ihr Mann in allen Ecken und Enden der Welt unterwegs war und für ein Foto manchmal sein Leben aufs Spiel setzte. Theos Rücken und ein Teil seiner rechten Seite trugen Narben, die von einer leidenschaftlichen Umarmung mit dem Tod zeugten.

Aus diesem Grund schob sie es vor sich her, ein Kind zu bekommen. Jetzt war es zu spät. Sie hatte so jung geheiratet. Eine Zeitland war es Leidenschaft gewesen.

Sich zu betrinken was etwas für schwache Menschen, eine Krücke für diejenigen, die nicht genügend Kraft besaßen, ihr eigenes Leben zu leben, auf den eigenen Füßen zu stehen. Sich zu betrinken hieß, vor etwas davonzulaufen.

Helen selbst zählte sich nicht zu dieser Spezies.

Ihr Bett stand am Fenster. Sie wechselte die Plätze, wo sie den Alkohol versteckte. Der Bettkasten war eine gute Stelle, um mit der Suche zu beginnen.

Er hatte ihr Zimmer lange nicht mehr betreten. Der Anblick war ein ziemlicher Schock. Überall Nippes. Sie war morgens immer in Eile und es musste schwer sein aufzustehen, nach einem Abend mit der Flasche, jeden Tag sich wieder neu aufzuraffen. Duschen, anziehen, frühstücken.

So sah der Raum auch aus. Nach einem schnellen Aufbruch. Halboffene Schranktüren und Schubladen, die Kleider auf dem Bett, die sie herausgenommen, aber nicht angezogen hatte. Auf dem Fußboden lag ihr noch feuchter Bademantel. Theo hängte ihn auf einen Kleiderbügel.

Auf einer Kommode, neben einem Kerzenständer, stand ein Kristallglas. Sie goss es sich im Wohnzimmer immer voll, das letzte, was sie jeden Abend tat, ehe sie sich hierher zurückzog. Das letzte Glas von vielen, aber das Wichtigste, um ihr in den Schlaf zu helfen.

Die Türen an den Seitenteilen ihrer Kommode waren verschlossen, der Schlüssel abgezogen, aber er wusste, wo er zu suchen hatte.

Eine Zeitlang hatte sie ihn einfach dadurch hinters Licht geführt, dass sie dreiviertel leere Flaschen offen herumstehen ließ. Die vollen Flaschen hatte sie verborgen, in Koffern und Stoffbeuteln, in denen sie ihre Schuhe und Handtaschen aufbewahrte.

Sie war in dem Sinne keine Trinkerin, dass es irgendjemand aufgefallen wäre. Sie würde jederzeit leugnen, überhaupt zu trinken. Was sie brauchte war lediglich ein Glas nach einem anstrengenden Tag.

Er fand den Schlüssel für das Möbelstück in der Tasche ihres Bademantels.

Mehrere Flaschen Wodka, davon eine noch offen, hatte sie im Schrank gebunkert.

Er nahm sie an sich. Einen silbernen Lippenstift, der sich nicht öffnen ließ, ließ er liegen. Dessen Inhalt: Vermutlich ihr Tabletten-Vorrat.

Er öffnete das Fenster bevor er den Raum verließ.

Die Glasscheibe hielt beides fest. Sein Gesicht und die Landschaft, wie eine doppelt belichtete Platte.

Theo wartete auf Helens Rückkehr.

Es schien ihm fast sinnlos zu warten und er überlegte, dass er einfach so gehen konnte, aber er fand, er war es ihr schuldig, nicht einfach nur einen Zettel zu hinterlassen. Sie hatte ein Anrecht darauf, es von ihm selbst zu hören, dass er sie verlassen würde. Es änderte nichts, aber ein Anrecht darauf hatte sie. Er hatte Helen schließlich von Anfang an belogen und betrogen, dass Pflaster der Verwundung nie abgerissen. Sein Herz hatte eine tiefe unsichtbare Narbe und als er Lilo sah begann es erneut zu schmerzen. Helen hatte nie eine Chance gehabt – gegen einen Traum kam niemand an. Es war unfair von ihm, unfair von Anfang an.

Theo war zum Sterben elend.

Das Problem war, dass sie in ihm etwas sah, was er nicht erfüllen konnte. Sie hatte ihn geliebt und er hatte sie gemocht und Menschen die Helen liebte, hatten besonders vollkommen zu sein. Sie durften keine Schwäche zeigen, keinen Irrtum begehen. Anderen hätte sie vielleicht noch verziehen, ihm nicht!

Die Haustür öffnete sich und Theo ging ihr entgegen. Helen wollte sich auf dem Absatz umdrehen, als Theo sie am Arm packte und versuchte, sie ins Wohnzimmer zu ziehen.

Helen zuckte zusammen, als hätte er ihr wehgetan. „Was soll das?“, sagte sie ungehalten in die Stille hinein. „Lass mich sofort los!“

„Entschuldigung.“ Er lockerte seinen Handgriff. „Ich möchte mich mit Dir unterhalten“. Besorgnis schwang in seiner Stimme mit. „Ich ...“

Sie schnitt ihm das Wort ab und schaffte es, ein Gesicht zu machen, als interessiere es sie wirklich. „Wozu? Was gibt es zu besprechen, was so relevant ist?“, erkundigte sie sich in Zeitlupe den Kopf schüttelnd. Diese Geste hatte sie sich bei älteren Männern abgeschaut und sie passte nicht zu ihr. „Ich bin müde und möchte mich hinlegen.“ Sie war nervöse und unruhig. Sie blickte auf die Tür ihres Zimmers. Es war nur diese Tür die sie von ihrer Flasche trennte.

„Ich möchte mit Dir sprechen.“ Schweiß brach ihm unter den Achselhöhlen aus, benässte das Hemd.

Sie gab noch nicht auf. „Ich zieh mich nur rasch um ...“, sagte sie mit kalter Schärfte.

„Bitte!“ Theo hielt sie am Arm zurück.

„Herr Gott, was ist denn so verdammt wichtig?“, fluchte sie nicht im geringsten eingeschüchtert.

Sie folgte ihm angespannt ins Wohnzimmer und blieb steif in der Nähe der Tür stehen. Helen schaute sich um.

„Willst Du Dich nicht setzen?“

„Sag was Du zu sagen hast, ich hatte einen anstrengenden Tag.“

Sie bemerkte die Flaschen auf dem Regal und wurde zugänglicher Laune. Helen dachte Theo wäre wütend. Ihr Körper entspannte sich. Sie warf ihre Handtasche auf einen der Sessel und näherte sich dabei wie unbeabsichtigt dem Regal mit dem Wodka. Sie versuchte nicht dorthin zu sehen, aber es kostete sie große Beherrschung.

Theo glaubte zu bemerken, dass Helen schwerer atmete.

Als sie Theos verzweifelte Miene sah versuchte sie zu lächeln, ein leicht erschrecktes verquere Lächeln, das sie immer dann aufsetzte, wenn es darum ging, sich einem zu entziehen. Sie hätte ihn gerne am Hals gepackt und geschüttelt, damit er endlich zum Wesentlichen kam.

Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie alles so ruhig hinnehmen würde und dieses bezaubernde Lächeln überraschte ihn noch mehr.

„Ich hatte meine Chance“, sagte sie halsstarrig und schüttelte ihr Haupt, wie über etwas, das ihr Kopfzerbrechen machte.

Bleiweiß – Der schleichende Tod

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