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Kapitel 2
Оглавление»Oh nein, nein, nein, nein«, stöhnte Derek, als sein Handy schrill klingelte. Er schaute mit einem Auge verschlafen auf das Telefon und sah, dass es erst kurz nach sechs Uhr morgens war. Was bedeutete, dass er ganze drei Stunden geschlafen hatte, bevor er so rüde gestört worden war. Wenn auf dem Display ein anderer Name gestanden hätte als der von Sam, hätte er das Handy quer durch den Raum geworfen und in Kauf genommen, dass es zerschellte. »Was, zur verdammten Hölle, willst du um sechs Uhr morgens?«
»Beth hat gerade angerufen.«
Wenn es etwas gab, das ihn dazu brachte, aus dem Tiefschlaf gerissen so wach zu werden, als hätte er einen Liter Espresso getrunken, dann war es der Satz Beth hat angerufen. Beth war die Sozialarbeiterin, die mit Maisys Fall betraut war. Und Maisy war die Tochter von Sams verwahrloster Cousine, die das Jugendamt ihr direkt nach der Geburt weggenommen hatte. Danach war sie neun verfluchte Monate lang von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht worden, bis man endlich einen Verwandten ausfindig gemacht hatte, der sie aufnahm.
Sam hatte sofort angeboten, sich um das Baby zu kümmern, war aber zunächst aufgrund seines Äußeren abgelehnt worden. Sam war den Zwillingen sehr ähnlich ‒ unglaublich groß und einschüchternd mit massiven, hart erarbeiteten Muskeln, den Großteil seiner Haut von Tattoos bedeckt. Aber das Schlimmste war, dass man ihn offiziell wegen seiner Behinderung abgelehnt hatte. Die ursprüngliche Sozialarbeiterin hatte Sam die Aufnahme des kleinen Mädchens verwehrt, weil sie nicht überzeugt war, dass er in der Lage sein würde, einem Baby das zu geben, was es brauchte, während er im Rollstuhl saß.
Sam war schon mehr Zeit seines Lebens gelähmt, als dass er hatte laufen können. Mit 15 hatten er und ein paar Freunde eine Spritztour in einem Pick-up gemacht und der Fahrer hatte ein bisschen zu viel getrunken. Der Wagen hatte sich überschlagen und war einen kleinen Abhang hinuntergerollt. Sam war Tage später im Krankenhaus wieder aufgewacht und man hatte ihm gesagt, dass er nie wieder würde laufen können.
Er war jetzt 37 und leitete eine erfolgreiche Firma, die in Rehazentren Kurse anbot, private Fitnessstunden und, was er am liebsten mochte, Rollstuhl-Yoga. Das unterrichtete er jeden Samstag, bevor am späten Nachmittag seine Schicht bei Irons and Works begann. Sam war zwar nur ein Teilzeit-Künstler, aber für jeden von ihnen ein vollwertiges Mitglied ihrer Familie. Als sie erfahren hatten, dass Sam abgelehnt worden war, hatte das gesamte Studio sich zusammengeschlossen, um dafür zu sorgen, dass er sein kleines Mädchen bekommen würde.
Maisy lebte nun seit drei Jahren bei ihm und endlich hatte er die Erlaubnis bekommen, ihre Adoption zu beantragen, da seine Cousine nicht versucht hatte sie wiederzubekommen. Derek war in dieser schweren Angelegenheit nicht nur einer von Sams engsten Vertrauten, er war auch sein inoffizieller Babysitter, da Maisy ihn von allen am liebsten zu mögen schien. Darauf war er sehr stolz ‒ auch wenn er deswegen seinen Hintern morgens um sechs Uhr aus dem Bett schaffen musste.
»Was brauchst du?«, fragte Derek, während er die Beine aus dem Bett schwang und sich über das Gesicht rieb.
»Kann May heute eine Weile bei dir bleiben? Sie wollen eine weitere Heiminspektion durchführen und ich will nicht, dass sie dabei ist, wenn meine Sachen durchsucht werden und ich vorführen muss, wie viele Schritte ich mit dem Rollator machen kann.«
Derek knirschte unwillkürlich mit den Zähnen und zwang sich, ein paarmal tief durchzuatmen. »Na klar, Mann. Ich komme vorbei und hole sie ab, dann musst du dir deswegen keine Gedanken machen.« Er stand auf und musste stöhnen, als seine Muskeln unerwartet schmerzten. So fühlte er sich nach einer Panikattacke immer, aber er hatte nicht damit gerechnet, dass es an diesem Morgen so schlimm sein würde. »Scheiße.«
»Der?«, sprach Sam ihn leise mit seinem Spitznamen an. »Was ist los?«
»Oh Gott, das ist eine verdammt lange Geschichte«, gestand er und schlurfte ins Badezimmer, wo er seine Zahnbürste und das Mundwasser hervorkramte. »Ich erzähle dir gern alles, wenn dieser bescheuerte Tanz vorbei ist.«
»Soll ich Mittagessen mitbringen, wenn ich MayDay abhole?«, bot Sam an. Die Geräusche durch das Telefon klangen gedämpfter und Derek konnte gerade so hören, wie Sam Maisy sanft weckte. Da musste er lächeln, dann steckte er sich die Zahnbürste in den Mund und begann zu schrubben.
»Was auch immer du mitbringst, es muss lecker sein. Am besten frittiert. Zum Beispiel Falafel von dem Laden in der Neunten. Bei dem hast du keine Probleme, rein- und rauszukommen, oder?«
»Nein, ist schon in Ordnung. Außerdem habe ich dann auch Gelegenheit, ein wenig mit Abram zu flirten. Es ist schon eine Weile her«, sagte Sam mit einem Grinsen in der Stimme. »Ich packe May auch ein paar gefrorene Waffeln ein, dann musst du dir keine Sorgen wegen ihres Frühstücks machen, okay? Sie… hat es im Moment nicht so mit warmem Essen.«
Derek lachte leise. »Alles klar. Gib mir eine Viertelstunde, dann bin ich da.« Er legte auf, ohne sich zu verabschieden, dann zwängte er sich in eine zu enge Jeans und ein altes, schäbiges T-Shirt, das vom häufigen Waschen praktisch durchsichtig war. Doch es fühlte sich gut an, gemütlich, wie er sich in seiner eigenen Haut fühlen sollte. Er schaute in den Spiegel, seufzte und fuhr mit der Hand durch sein Haar in der verzweifelten Hoffnung, es ein wenig zu ordnen.
Dann schlüpfte er in seine Arbeitsstiefel, die er allerdings nicht zuschnürte, bevor er die Treppe hinunter zu seinem Auto eilte. Es war vom Regen noch ein wenig feucht, aber er hatte daran gedacht, alle vier Fenster zu schließen, was er als kleinen Sieg verbuchen konnte, wenn man bedachte, in welchem Zustand er sich befunden hatte, als er nach Hause gekommen war.
Sam wohnte nur zehn Minuten entfernt in einem kleinen, ebenerdigen Häuschen in einer Nachbarschaft aus größtenteils älteren weißen Mittelstands-Ehepaaren, die den tätowierten Mann in seinem sportlichen Rollstuhl seltsamerweise liebten. Wahrscheinlich unter anderem, weil Sam jeden Morgen seinen Hund ausführte, und der putzige Schnauzer liebte die Aufmerksamkeit der alten Leute. Außerdem war Sam ein außerordentlich guter Bäcker und schaffte es mit Leichtigkeit, die Herzen der meisten Leute zu gewinnen. So hatte er eine ganze Gruppe liebenswerter, alter Großmütter für Maisy um sich geschart, sodass das Mädchen nie auf Kniffe in die Wangen, Bonbons und Liebe verzichten musste.
Es erstaunte Derek immer wieder, dass Sam noch nicht vergeben war. Sam konnte gut mit Menschen umgehen und wurde nicht panisch, so wie er. Er war schlau, sah umwerfend aus und konnte die grimmigsten Fremden um den Finger wickeln. Aber es lag wahrscheinlich daran, dass Sam Verpflichtungen hatte, die keine Kompromisse zuließen. Die Arbeit, der Laden und Maisy ‒ nicht in dieser Reihenfolge.
Dennoch war Derek eifersüchtig. Wenn er nur ein wenig von Sams Charme besäße, hätte er vielleicht mehr von Basil mitnehmen können als nur eine vage Erinnerung an seine Hand auf Dereks Brust, den Nachhall seines Lachens und den Hauch von kräftigem Blumenduft. Er wäre tapfer und ein wenig übermütig gewesen. Er hätte mehr getan, als nur mit einer Gebärde seinen Dank auszudrücken und dann zu verschwinden wie ein gottverdammter Feigling.
Deshalb würde er allein sterben, umgeben von Katzen, die ihn mit etwas Glück nicht fressen würden, selbst wenn sie kurz vor dem Verhungern stünden.
Derek verscheuchte die melancholischen Gedanken, stieg aus dem Auto und ging zur Eingangstür. Dabei stolperte er über die Kante der Rampe, konnte sich aber noch fangen, bevor er zu Boden fiel und auf dem Hartholz landete. Es würde zu ihm passen, sich die Nase zu brechen, gerade als er beweisen wollte, was für ein verantwortungsvoller Freund und Betreuer er war. Er straffte die Schultern in dem peinlichen Versuch, so zu tun, als hätte er sein Leben im Griff. Ja, es geht mir gut, bitte vertrau mir dein Kind an.
Er machte sich nicht die Mühe zu klopfen ‒ das tat niemand in ihrer Familie ‒ und trat in den Flur. Er bog um die erste Ecke und fand Sam auf dem Boden vor, wo er gerade Maisys kleinen Vaiana-Rucksack packte, während sie ein paar Meter entfernt mit ihrem Puppenhaus spielte.
Er schaute auf, als Derek eintrat, und runzelte die Stirn. »Warum siehst du aus, als hätte gerade jemand deinen Fisch umgebracht?«
»Erstens, ich hatte nur einmal in meinem Leben Fische«, erklärte Derek und glitt neben Sam zu Boden, »und die hat Sage ermordet, als er einmal bekifft war und seine Oreos mit ihnen teilen wollte. Zweitens… die letzten 24 Stunden waren echt scheiße.«
Sam zog die Augenbrauen zusammen und positionierte sich mithilfe seiner Hände um, sodass er Derek besser ansehen konnte. »Dein Dad?«
Derek fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Zum Teil. Aber erzähl Sage nichts davon, okay? Der alte Sack lässt ihn in Ruhe ‒ ich habe ehrlich keine Ahnung, ob er sich überhaupt erinnert, dass es zwei von uns gibt, und dabei soll es auch bleiben.«
Sam schürzte die Lippen, aber er widersprach nicht, was Derek als Sieg verbuchte. »Und was noch?«
»Oh, nur der übliche Mist. Ich hab mir im Laden den Arm verrenkt, eine Frau hat sich aufgeregt, weil ihr Tattoo ihr, kurz nachdem ich damit fertig war, nicht mehr gefallen hat, und mein Dad hat mich angerufen, um mir zu sagen, was für ein nutzloser Homo ich bin. Ach… und dann habe ich mich gestern Abend noch total zum Narren gemacht, als ich in dem Raum mit dem Geldautomaten festsaß und einen Klaustrophobie-Anfall hatte.« Er wollte nicht die ganze Geschichte erzählen, aber Sam kannte ihn zu gut.
»Im Vorraum? Wie zum Teufel hast du das denn geschafft?«
Derek lehnte den Kopf zurück an die Sofapolster und stöhnte. »Ich wollte Geld einzahlen, weil eine Menge Rechnungen anstehen und fast alle Kunden diese Woche bar bezahlt haben. Direkt nachdem ich meine Quittung bekommen habe, ist irgendwo in der Nähe der Blitz eingeschlagen und der Strom war weg. Die Türen müssen einen automatischen Schließmechanismus haben, denn ich wurde eingeschlossen und alles war aus.«
Da legte Sam ihm die Hand auf die Schulter, als könnte er gar nicht anders, und drückte sie. »Warum hast du nicht einen von uns angerufen?«
»Ich hatte mein Handy im Auto gelassen«, erklärte Derek seufzend. »Es hat wie aus Eimern gegossen und es war schon schlimm genug, dass ich ganz durchnässt war. Jedenfalls, wenn ich gewusst hätte, dass sich da alles automatisch verriegelt, hätte ich es mitgenommen.«
Sam wirkte nicht vollkommen überzeugt und ließ die Hand auf Dereks Oberschenkel sinken. »Eine Panikattacke?«
Derek zuckte mit den Schultern und wandte den Blick ab, aber er wusste, dass er Sam nicht anlügen konnte. Er war noch nie ein guter Lügner gewesen und Sam war praktisch ein menschlicher Lügendetektor. »Ja, eine heftige, aber das war schon okay.« Als Sam ihn skeptisch betrachtete, winkte Derek ab. »Ernsthaft. Da war noch ein Typ und der hat mir geholfen, sie wegzuatmen. Nachdem ich mich beruhigt hatte, haben wir uns hingesetzt und er hat meinen Kopf abgelenkt, damit ich nicht zu viel Gelegenheit hatte, darüber nachzudenken, dass ich festsitze.«
Da musste Sam grinsen und er senkte die Stimme, damit Maisy nicht mithören konnte. »Ich hoffe wirklich, dass du damit nicht deinen Schwanz meinst, Mann. Da gibt es Kameras. Die am Notstrom angeschlossen sind. Das Letzte, was du brauchst, ist, dass ein Sexvideo mit einem tätowierten, perversen Deppen die Runde macht.«
Derek verpasste ihm einen Schlag an den Arm. »Mein Gehirn, vielen Dank auch. Kommunizieren war ein wenig schwierig, also war es… wie zum Beispiel, wenn du Socke einen dieser Puzzle-Bälle gibst, damit er sich nicht aufregt oder langweilt.«
»Vergleichst du dich gerade mit meinem Hund?«, fragte Sam mit einem breiten Grinsen.
»Ach, weißt du, was du…«, setzte Derek an, aber Sam drückte seinen Oberschenkel, um ihn zu beruhigen.
»Ich verstehe schon. Also, wie war er so?«
Total heiß, lieb, toll, und ich trete mir in den Arsch, weil ich ihn habe gehen lassen, dachte er. »Ähm, er war echt nett und hilfsbereit. Außerdem war er taub, deshalb mussten wir auf seinem Handy schreiben. Das hat mich abgelenkt. Ich habe ihm meine Galerie gezeigt.«
Sams Grinsen wurde noch breiter. »Ja, darauf wette ich.«
»Großer Gott«, murmelte Derek. »Ich gehe, bevor es noch absurder wird.« Er wollte aufstehen, aber Sam hielt sein Handgelenk fest und zog ihn zurück. Er runzelte die Stirn. »Soll ich denn nicht verschwinden?«
»Doch, schon«, erwiderte Sam, »aber ich muss mir auch sicher sein können, dass es dir gut geht.«
Derek leckte sich die Lippen, aber er war froh, dass er ehrlich antworten konnte. »Ich bin fix und alle und habe letzte Nacht nur ein paar Stunden geschlafen, aber ich fühle mich viel besser als nach meinem letzten Zusammenbruch. Ernsthaft, der Typ hat mir echt geholfen.«
»Okay«, sagte Sam nach einem Moment des Schweigens, dann ließ er ihn los. Er packte Maisys Tasche fertig, bevor er sie ihm reichte, dann zog er seinen Rollstuhl heran und hievte sich mithilfe seiner Arme hinein. »Komm her, Zwerg«, rief er sie.
Maisy ließ auf der Stelle ihre Puppe fallen und warf sich in Sams Arme. In diesem Moment, wo er die beiden so dicht beieinander sah, konnte Derek die familiäre Ähnlichkeit zwischen ihnen erkennen. Maisy hatte das gleiche braune Haar wie Sam, dieselben hohen Wangenknochen ‒ wenn ihre auch unter einer weichen Schicht Babyspeck versteckt waren ‒, denselben herzförmigen Mund. Ein Außenstehender mochte sie für seine leibliche Tochter halten.
Und weil Sam sie so sehr liebte, war sie das im Grunde auch.
»Du musst bei Onkel DeDe brav sein, okay?«, sagte Sam zu ihr und strich ihre ein paar verirrte Strähnen aus der Stirn. »Ich hole dich ab, wenn ich fertig bin.«
Maisy schien nachzudenken und schaute dabei zwischen Derek und Sam hin und her, dann nickte sie. »Ja. Ich kann lieb sein.«
Sam gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Das weiß ich, Zuckerschnute. Wir sehen uns nachher.«
Maisy rutschte von Sams Schoß, marschierte zu Derek und reckte ihm beide Arme entgegen, weil sie hochgenommen werden wollte. Derek gehorchte ‒ er konnte ihr nie etwas abschlagen, was wahrscheinlich der Grund war, warum sie ihn am liebsten mochte ‒, hob sie hoch und hielt sie an seiner Seite. »Fahren wir in deinem Pikap?«, wollte sie wissen.
Er schüttelte den Kopf. »Onkel Sage hat heute den Pick-up, deshalb nehmen wir das Zoom-Auto.« Er fuhr einen Mini, den sie einfach toll fand ‒ wie ein altes Cartoon-Auto aus Roger Rabbit, von dem die Kinder nicht genug bekommen konnten. »Ist das in Ordnung?«
Sie dachte kurz nach, dann nickte sie. »Okay. Kann ich meinen E'efant mitnehmen?«
Derek zuckte mit den Schultern und ließ sie zu Boden gleiten, damit sie in ihr Zimmer rennen und den Elefanten holen konnte, ohne den sie nicht leben konnte. Er sah, dass Sam ihn angrinste, und widerstand dem Drang, ihm den Mittelfinger zu zeigen. »Wenigstens kann ich sie wieder zurückgeben«, ätzte er.
Sam hob die Schultern. »Hey, ich will mich nicht beschweren. Ich wüsste nicht, was ich tun sollte, wenn ich euch nicht hätte.«
»Aber du hast uns, also mach dir deshalb keinen Kopf«, rief Derek ihm in Erinnerung. »Wir schaffen das schon. Wir alle zusammen.«
Sam entspannte sich ein wenig und brachte sogar ein Lächeln zustande, als Maisy aus ihrem Zimmer kam, die Arme voller Puppen und Stofftiere. Mit einem Seufzen löste er die Bremsen seines Rollstuhls und rollte auf sie zu. »Eins«, sagte er mit festem Tonfall.
Sie schob die Unterlippe vor und blickte dabei so traurig drein, dass Derek sich beinahe zu ihren Gunsten eingemischt hätte. »Aber…«
Sam schüttelte den Kopf. »Du bist nicht lange weg, May. Eine Puppe. Darüber haben wir doch schon gesprochen.«
Sie sah rasend vor Wut aus und warf in typischer Kleinkind-Manier alles auf den Boden. »Na schön!« Dann drehte sie sich auf dem Absatz herum und rannte zur Vordertür. Es war Sams Mitdenken und einer Menge Erfahrung zu verdanken, dass er an allen Türen kindersichere Schlösser angebracht hatte, deshalb brauchte keiner der Männer hinter ihr her zu hasten.
»Soll ich dir beim Aufräumen helfen, bevor ich gehe?«, bot Derek an.
Sam verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. »Nein. Dann habe ich wenigstens etwas zu tun, bis Beth hier ist.«
Derek nickte und beugte sich vor, um ihn mit einem Arm kurz zu umarmen. Er konnte hören, wie Maisy an der Tür mit dem Fuß stampfte und versuchte, sie zu öffnen, deshalb packte er ihren Rucksack und ihren Elefanten, dann eilte er zu ihr, um ihren Wutausbruch zu besänftigen. Sie weinte nicht, als er mit ihr hinausging und sie im Kindersitz anschnallte, und als er mit ihr auf die Straße auffuhr, hatte sie sich beinahe ganz beruhigt.
Zwar hätte Derek am liebsten den ganzen Tag geschlafen, aber er war froh über Sams Anruf. Nicht nur, weil es ein weiterer Schritt für ihn war, die Adoption endlich abzuschließen, sondern auch, weil ihm allmählich bewusst wurde, dass er jedes Mal an Basil denken musste, wenn er nichts zu tun hatte. Er konnte immer noch den Blumenduft riechen, das warme Gewicht seiner Hand spüren, die sich an Dereks Brust drückte. Er konnte sein Lachen hören und seine tiefgründigen, bedeutungsvollen Augen vor sich sehen, die ihn angestarrt hatten, als das Licht wieder angegangen war.
Derek hatte sich schon viel zu lange nicht mehr so gefühlt ‒ eigentlich war er sich nicht sicher, ob er sich überhaupt jemals so gefühlt hatte ‒ und das machte ihm zu schaffen. Sie waren sich nur zufällig über den Weg gelaufen, nichts Besonderes, kein Schicksal. Es wäre ein Wunder, wenn er den Mann jemals wiedersehen würde.
Als sie bei ihm zu Hause ankamen, war Maisy schläfrig und ließ sich von Derek ins Haus tragen, wo er sie auf das Sofa setzte und auf Netflix eine Sendung mit irgendeiner Prinzessin anschaltete. Sie wollte keine Waffeln, deshalb legte er sie ins Gefrierfach, dann nahm er seine weichste Decke und hüllte sie beide darin ein. Sie kuschelte sich an seine Brust, ihr Gewicht war warm und beruhigend, und er döste allmählich ein.
Später schreckte Derek aus dem Schlaf hoch. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, und es dauerte einen Moment, bis er erkannte, was ihn geweckt hatte. Sein Handy. Er versuchte, es aus seiner Hosentasche zu holen, ohne die immer noch schlafende Maisy zu stören, und als er es geschafft hatte, entdeckte er Sams Nummer auf dem Display.
»Hey, alles klar?«, fragte er.
Sam seufzte leise in Dereks Ohr. »Wenn du damit meinst, dass ich nach Denver muss, um eine weitere psychiatrische Beurteilung über mich ergehen zu lassen, dann ja. Alles bestens. Ich kann es kaum erwarten.«
Derek kniff sich in die Nasenwurzel, um sein verschlafenes Gehirn zu wecken. »Im Ernst? Schon wieder?«
»Beths Vorgesetzter war mit der ursprünglichen Beurteilung nicht zufrieden, deshalb wollen sie noch eine. Außerdem wollen sie Berichte über den Verlauf meiner Reha und sie denkt, dass ich mich für einen Kurs anmelden muss, um… zu lernen, mit meiner Behinderung umzugehen und wie ich mein Leben leben soll. Es interessiert keinen, dass ich schon seit einer Ewigkeit damit umgehen muss und mich um May kümmere, seit sie neun Monate alt ist, verdammt noch mal.«
Brennende Wut breitete sich in Dereks Bauch aus, aber er hielt sie im Zaum. Sam hatte sie vorgewarnt, dass sie ihn dabei unterstützen mussten, sich dem System zu beugen und alles zu tun, was man von ihm verlangte, statt sich dagegen zu wehren, was wohl ihre erste Reaktion gewesen wäre. »Das tut mir leid«, sagte er schließlich. »Was kann ich tun?«
»Ich habe Kat angerufen. Sie hat heute Morgen zwei Termine, aber sie sagt, sie kann dir May vor deinem ersten Kunden abnehmen, wenn du sie zu ihr in den Laden bringst.«
»Ich rufe sie an«, sagte Derek, »aber das sollte klappen. Und wenn ich die Termine absagen soll…«
»Alter, nein«, sagte Sam hastig. »Du wirst deswegen keine Termine absagen. Wenn Kat es aus irgendeinem Grund nicht schafft, kann Mat aushelfen. Er sagte, dass er sich heute nur um Laufkundschaft kümmert. Wir kriegen das schon hin, außerdem will ich das so schnell wie möglich hinter mich bringen und nach Hause kommen.«
»Okay«, sagte Derek. Er verschwieg Sam, dass er sich über einen Grund gefreut hätte, seine Termine heute abzusagen. Durch die Panikattacke war sein Kopf immer noch etwas benebelt. Zwar konnte er damit seinem Job nachgehen, aber eine Pause würde ihm guttun. »Fahr vorsichtig und komm nach Hause, sobald du kannst. Du weißt doch, dass sie bei uns in guten Händen ist.«
»In den besten«, versicherte Sam ihm mit warmer Stimme. »Gib ihr einen Kuss von mir und sag ihr, dass sie brav sein soll. Ich melde mich, wenn ich auf dem Rückweg bin.«
»Alles klar. Bis später.« Derek beendete den Anruf, dann öffnete er seine Nachrichten-App und schickte seinem Bruder eine kurze Textnachricht.
Derek: Wo steckst du?
Sage: Auf der Arbeit, du fauler Sack. Wieso?
Derek: Ich hab May bis heute Nachmittag. Sam wird wieder gepiesackt. Mittagessen?
Sage: Auf jeden Fall. Ich vermisse den Zwerg. Komm gegen 12 vorbei. Ich helfe Kat mit Jazzy, dann können wir zusammen was holen.
Derek schaute auf die Uhr und sah, dass es gerade kurz nach acht war, was bedeutete, dass er noch genug Zeit hatte, sie zu wecken, ihr Frühstück zu machen und mit ihr zu spielen, sodass sie sich nicht wie ein Monster aufführen würde, wenn er sie mit in den Laden nahm. Er wand sich unter ihr hervor und lehnte sie an die Sofakissen, dann ging er in die Küche und schaltete die Kaffeemaschine an. Als die Kanne voll war, kam Maisy in die Küche geschlurft und ihre nackten Füße patschten auf den Fliesen. Sie rieb sich mit ihrer kleinen Faust die Augen und hob den anderen Arm, damit er sie hochnahm.
Derek zögerte nicht sie hochzuheben und setzte sie auf seine Hüfte, dann ging er mit ihr zum Gefrierfach, um ihre Waffeln zu holen.
»Hast du Hunger, Zwerg?«
Sie zuckte mit den Schultern und gähnte. »Ich will Schokowade.«
Er unterdrückte ein Lachen und sagte: »Wie wäre es, wenn ich die hier toaste und dir dazu Butter und Sirup gebe?«
Sie rümpfte die Nase und wand sich in seinen Armen. »Neeein. Will sie so!« Sie grapschte nach der offenen Packung und bevor Derek es verhindern konnte, schnappte sie sich eine der gefrorenen Scheiben und kaute sofort darauf herum. Schockiert ließ er sie zu Boden gleiten und starrte sie an, dann nahm er sein Handy und schickte Sam eine Nachricht.
Derek: Dieses sogenannte Kind, das du aufziehst, isst gerade eine gefrorene Waffel.
Sam: LOL Ja, das macht sie so. Ist schon in Ordnung. Brich deswegen keine Diskussion mit ihr vom Zaun, Mann, glaub mir.
Derek: Eklig, aber was soll’s.
Nur weil er wusste, dass Sam Maisy nie etwas tun lassen würde, was gefährlich für sie wäre, ließ er sie weiter ihr gefrorenes Frühstück essen. Doch er ignorierte, wie sie mit ihren kleinen Gremlin-Zähnen die Waffel zerriss, und konzentrierte sich stattdessen auf seinen Kaffee.
Als sie satt war, rannte sie aus dem Zimmer, um mit ihren Puppen zu spielen, und Derek machte sich eine Schale Müsli zurecht, um Energie zu tanken. Er blieb im Türrahmen zwischen der Küche und dem Wohnzimmer stehen und schaute aus dem Fenster. Der Morgen war grau, die Straße immer noch nass vom Regen, aber es schien aufzuklaren. Was bedeutete, dass der Tag schwül und nicht sehr angenehm werden würde, da der Frühling schneller zum Sommer wurde, als ihm lieb war, aber es bedeutete ebenfalls, dass sein Semester beinahe zu Ende war, und darüber war er wiederum nicht traurig.
Es fühlte sich komisch an, in seinem Alter mit lauter Achtzehn- und Neunzehnjährigen in einem Klassenzimmer zu sitzen, auch wenn ihm eigentlich klar war, dass daran nichts verkehrt war. Sein Bruder und er hatten einen schwierigen Start gehabt und er hatte eben länger als Sage gebraucht, bis er große Menschenmengen ertragen konnte und es schaffte, die Schule, seine Kunst und seine Kunden unter einen Hut zu bringen.
Dennoch war es schwer und er genoss die Freiheit, die er im Sommer hatte, in vollen Zügen, aber er hatte das Gefühl, dass er allmählich Fortschritte machte. Selbst Situationen wie am Vorabend, durch die er sich vor einem Jahr noch um zehn Schritte zurückgeworfen gefühlt hätte, belasteten ihn nicht mehr auf die gleiche Weise. Das hatte bestimmt mit Leila zu tun, seiner Therapeutin, die ihm Bewältigungsmechanismen beigebracht hatte, die auch tatsächlich funktionierten. Aber es war auch ein Zeichen seiner eigenen Stärke und seines Wunsches, sein Leben in den Griff zu bekommen.
Er würde immer unter einem Trauma leiden, aber er würde nicht zulassen, dass es sein Leben bestimmte.
»DeDe?«, fragte Maisy und riss Derek aus seinen Gedanken, indem sie an seinem T-Shirt zupfte.
Er lächelte sie an. »Ja, Kleines?«
»Können wir draußen pielen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Warum nicht? Wollen wir zu dem Teich die Straße runtergehen und die Enten füttern?«
Sie sprang vor Begeisterung auf und ab, dann stolperte sie über ihre eigenen Füße, als sie hastig versuchte, ihre Schuhe anzuziehen. »Ja! Ja, ich will… da will ich hin!«