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Der General

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Ich stelle mir vor: ein Tag in Schwanden im Herbst 1890, Zopfys letztem Jahr. Zum Beispiel Samstag, der 27. September, es ist Kirchweih, die traditionelle «Schwander Chilbi».

Sein Mund ist trocken, als er erwacht. Die Zunge fühlt sich rau und dick an. Mit der rechten Hand tastet er über die Decke, aber da ist nichts. Das Bett neben ihm ist leer. Er wischt sich Tränen aus den Augen, starrt in die Dunkelheit. Seine Lippen bewegen sich. «Anna Maria.» Fahl schimmert das Viereck des Fensters an der Südseite der Kammer. Anna Maria ist tot, dämmert ihm allmählich. Tot, im Himmel oder wo immer. All seine Arznei und Erfahrung hatte ihr nicht helfen können. Wozu denn alles, das Studium, die Praxis, die lebenslange Erfahrung, wenn man seinen Nächsten, seinen Liebsten in ihrem Leiden nicht beistehen kann? Ihren Schmerz nicht einmal lindern, ihre Not nicht besänftigen. Wozu, wozu?

Mit dem Handrücken fährt er sich über die Wangen, die feuchten Stoppeln. Er dreht sich zur Seite, schiebt die Decke weg, tritt mit blossen Füssen auf den kalten Boden. Tastet mit den Zehen nach den Pantoffeln, findet nur den einen. Einer ist besser als keiner. Mit ausgebreiteten Armen wankt er durch die Kammer zur Tür. Sich an den Möbeln abstützend, ertastet er wie ein Blinder den Weg zur Küche. Im Herd glimmt Asche, es riecht nach Bratfett und Kohl. Er streicht ein Zündholz an, die Flamme zittert, verlöscht. Noch eines, dann brennt der Docht des Kerzenleuchters auf dem Tisch. Mit einer Kelle schöpft er Wasser aus dem Kessel neben dem Herd, trinkt und schöpft nach. Das trockene Gefühl im Mund bleibt, die Zunge geschwollen. Über die Laube schlurft er zum Abtritt, hebt den Deckel. Der Geruch, der ihm entgegenschlägt, raubt ihm den Atem. Faule Eier, Ammoniak. Man müsste das Jauchegas in Behältern fassen und verwerten, geht ihm durch den Kopf. Durch eine Öffnung in der Wand des Aborts sieht er über dem Dorf die schwarzen Konturen der Berge, ihre Spitzen und Grate zeichnen sich wie ein Scherenschnitt in den fahlen Himmel. In den Fabriken auf der andern Seite des Flüssleins Sernf brennt schon Licht in einer Reihe von Fenstern. Elektrisches Licht!

Eine neue Zeit ist angebrochen, das Zeitalter der Elektrizität, der sogenannte Fortschritt. Was wird er brin­gen? Die Häuser geheizt und hell erleuchtet mit elektrischem Strom, der das Kochen zum Kinderspiel machen soll. Eine Welt, die sich heute niemand vorstellen kann, so wie man sich in seiner Kindheit weder Glühbirnen noch von Wasserrädern getriebene Spinnmaschinen und Webstühle vorstellen konnte. Geschweige denn die Ei­sen­bahn, die das Tal an die Welt bindet. Selbst von Lokomotiven liest man, die mit elektrischem Strom statt mit Dampf getrieben werden. Schneller und heller alles, die Nacht wird zum Tag, die Welt zum Dorf.

Mit dem Kerzenleuchter in der Hand wankt er mit kleinen Schritten in die Stube. Er stellt den Leuchter auf das Bufett unter das Bild des Generals. Im flackernden Kerzenlicht scheint er lebendig zu werden. Die Brust wölbt sich unter dem roten Hemd, eine Hand stützt er in die Seite, die andere hält den Degen. Rötlich der Bart, schüttere Haare über der hohen Stirn. Die stahlblauen Augen scheinen den Betrachter zu hypnotisieren. So hat er ihn damals angeschaut, durchbohrt mit seinem Blick. Und dann dieser feine, ironische Anflug eines Lächelns. Er nickt ihm zu, die Lippen bewegen sich.

«Zopfy, Sie waren der Beste!»

Der alte Mann strafft sich, murmelt: «Danke, mein General.»

Er bläst die Kerze aus. Tastet sich mit der Hand das Bufett entlang zur Kammertür, streift den einen Pantoffel ab, kriecht unter die Decken und rollt sich ein.

Garibaldis Fuss

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