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Ein Traum

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Der Duft von frischem Brot dringt in seine Träume. Immer die gleichen wiederkehrenden Bilder. Fliegen kann er, weit über die Berge hinweg, über das graue Gestein, die Felswände, die weissen Firne. Fliegen wie Ikarus, von dem Lehrer Tschudi in der Schule erzählt hat. Der Sonne entgegen.

Er hebt den Kopf. Licht dringt durch den Vorhang in die Kammer, es ist wohl spät. Er fühlt sich müde, lässt den Kopf sinken und dreht sich gegen die Wand. Das Bett ist zerwühlt, er hat geschwitzt. Wieder diese Trockenheit im Mund, als habe er Staub geschluckt. Fieber? Kein Fieber. Er schliesst die Augen, hört im Halbschlaf das Bimmeln von Glöcklein. Hell und aufgeregt, die Ziegen, die der Geissbub ins Niederental treibt.

Wie gern wäre er als Kind mitgegangen, früh am Morgen, wenn die Bergspitzen im ersten Licht leuchteten, als seien sie aus lauterem Gold. Die Ziegen aus den Ställen hinter den Häusern der Arbeiter drängten zur Herde, der Geissbub lockte sie mit seinen Rufen. Eine seltsame Sehnsucht erfasste ihn. Welch freies Leben müsste es sein dort oben auf den Weiden der Mettmenalp. Man müsste den Geissvogt fragen, aber der Vater wollte davon nichts wissen. Geissbub, das war etwas für Dummköpfe. Wir sind bessere Leute als die Fabrikarbeiter mit ihren Ziegen und Scharen von schwindsüchtigen Kindern. Dabei war der Bäcker Heinrich Zopfi kein Glückspilz, stand unter Vormundschaft. Ein Fallit, konnte nichts bestimmen ohne seinen Beistand. Die Mutter, eine starke Frau aus dem Kleintal, arbeitete sich krumm.

Zwischen Traum und Tag ist er wieder der kleine Sämeli, der auf dem Strohsack unter der Decke lag, die von Schaben zerfressen war, nach Schweiss roch und am Hals kratzte. Er hörte den Vater unten in der Backstube den Teig schlagen. Die Mutter rückte die Stühle in der Gaststube zurecht. Bis spät in der Nacht hatten Männer im «Rössli» Karten gespielt, geraucht, getrunken, gestritten. Sämeli hatte seltsame Wörter vernommen. «Revoluti­on», «Napoleon», «Metternich». Vom Kaiser von Russland war die Rede und von Franzmännern, die raubten und töteten und den Frauen nachstellten. Tausend Waisenkinder hat man aus dem Tal in andere Kantone verschickt, zu reichen Familien in den Städten im Unterland oder zu Bauern in den Ebenen. Pflegekinder, Verdingkinder, ausgebeutet, geschunden, verschwunden. Sämeli fürchtete sich, so allein in der Nacht. Die Schwestern lagen im Bett der Eltern in der Kammer nebenan, flüsterten und kicherten, ihre Strohsäcke knisterten. Gegen Morgen stieg der Duft des Brotes bis in seine Kammer unterm Dach her­auf. Ein Geruch, der ihn zeitlebens immer wieder Kind werden lässt. Der kleine Sämeli mit seiner grossen Sehnsucht.

Nun ist er wach, stemmt sich unter Schmerzen hoch. Die Gelenke sind eingerostet, Gicht plagt ihn. Eine Maschine ohne Öl. Er sucht auf dem Nachttisch nach der Taschenuhr, findet sie nicht. Mit nackten Füssen schlüpft er in den einen Pantoffel, findet den zweiten unter dem Fenster, streift sich den Morgenmantel über. Der Krug auf der Kommode ist mit Wasser gefüllt. Er fährt sich mit einem nassen Lappen übers Gesicht, kämmt den Bart und die spärlichen Kopfhaare. Dann setzt er sich an den Tisch in der Stube. Das Frühstück ist aufgedeckt, Silberbesteck, die Serviette im Ring. Frisches Brot, Butter, Konfitüre, Kaffee, ein Ei im Becher. In einem Tellerchen fein geriebenen Schabzieger. Barbara, der gute Geist, macht sich in der Küche zu schaffen. Seit seine geliebte Anna Maria im März des vergangenen Jahres verstorben ist, dient ihm die Tochter des Geissvogts Zopfi im Haushalt. Ein fleissiges, stilles Kind. Ihr linkes Bein ist von Geburt an verkürzt, darum taugt sie nicht für die Fabrik.

Zopfy streicht sich ein Butterbrot, tunkt es in den Schabzieger. Der würzige Geschmack regt den Appetit und die Verdauung an. Er kaut bedächtig, das fördert die Gesundheit. Nach München, wo als er als Student ein Zimmer mit Frühstück bezog, hatte er ein Stück Schabzieger aus der Heimat mitgebracht, in Fettpapier gewickelt. Die Hausmutter schaute ihm am ersten Morgen zu, wie er sein «Ziegerbrütli» mit Genuss verspeiste. Sie schnupperte, rümpfte ihre Nase. Eine Spezialität aus der Heimat, erklärte er, wollte sie überreden, einen Bissen zu versuchen. Doch sie liess sich nicht herbei. «Mein Herr! Ein solcher Stinkkäs kommt mir nicht mehr auf den Tisch!»

Heute fehlt ihm der Appetit. Der Zieger brennt auf der Zunge. Er klingelt Barbara, schaut zu, wie die Jungfer mit anmutigen Bewegungen das fast unberührte Frühstück wieder abträgt. Stumm und mit gesenktem Blick. Um die Haare hat sie ein Tuch gebunden, kleine Brüste zeichnen sich ab unter ihrem Kleid.

«Du isst dann auch genug, gell», sagt Zopfy, «bist ja so mager.»

«Danke, Herr Doktor», flüstert sie und verschwindet in der Küche.

Garibaldis Fuss

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