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Kapitel 1 New York, Oktober 1990
ОглавлениеRawanni befand sich allein in dieser riesigen Stadt — ohne Geld, ohne Job und auf der Flucht vor dem Drogenboss Abbe Collins sowie der Polizei. Ihr gesamtes Leben war aus den Fugen geraten. Noch vor wenigen Tagen hatte sie Luke Calahan, ihrer großen Liebe das Ja-Wort gegeben, aber jetzt war er tot, von Abbe Collins ermordet. Der Schmerz brannte tief in ihrem Herzen und lähmte ihren Lebenswillen.
Sie hatte Luke in einer Vision gesehen. Er machte ihr Mut nicht aufzugeben und weiterzukämpfen. Ja, sie wollte weiterleben und Abbe für die Ermordung von Luke zur Rechenschaft ziehen. Auch wenn der Drang groß war ihn selbst zu richten, wollte sie dafür sorgen, dass er durch ein ordentliches Gericht rechtmäßig verurteilt wurde, das war sie ihrem eigenen Rechtsempfinden schuldig. Sie war keine Mörderin.
Aber es klebte bereits Blut an ihren Händen: Sie hatte Abbes Vater Ed McCurly in Notwehr erschossen, ein Umstand, den sie gerne vermieden hätte. In den letzten drei Jahren hatte sie, nachdem sie den Entschluss gefasst hatte Polizistin zu werden, ständig trainiert, um möglichst gut treffen zu können — damit ein Krimineller nur verletzt wurde, falls er sie mit einer Schusswaffe angreifen sollte. Sie wollte niemals in die Situation geraten, als Polizistin einen Menschen nur aus Unfähigkeit getötet zu haben. Doch mit 17 war sie einfach noch nicht gut genug gewesen; mit dieser Tat musste sie jetzt leben.
Nachdem Abbe Collins ihr den Mord an Jerry Dohan angehängt hatte, war ihr Berufswunsch allerdings ausgeträumt. Sie würde niemals Polizistin werden können. Zur Highschool konnte sie ebenfalls nicht mehr zurückkehren und auch nicht zu ihrem Vormund Jeff Andrews sowie seinen drei Mitarbeitern Peggy, Pete und Dan — ihrer Ersatzfamilie. Das war neben dem Tod ihres Mannes ein weiterer schwerer Verlust. Abbes perfider Plan sie an sich zu binden war zwar nicht aufgegangen, da Luke sie in seiner Eigenschaft als FBI-Agent aus der Untersuchungshaft geholt hatte, aber dies hatte seine Wut nur noch mehr geschürt und ihre Hochzeit mit Luke war für Abbe Grund genug gewesen ihn zu töten.
Abbe war jetzt allerdings der Einzige, der ihre Unschuld beweisen konnte, was er niemals freiwillig tun würde. Er hatte sie nach New York verschleppt, um sie zu seiner Frau zu machen. Erst wollte sie bei ihm bleiben, weil sie hoffte, eine Möglichkeit zu finden ihn ins Gefängnis zu bringen, aber als er sie missbrauchte, musste sie sich von ihm befreien und aus seinem Nachtklub fliehen.
Jetzt stand sie hier allein in den Schluchten der riesigen Wolkenkratzer. Das war eine denkbar schlechte Ausgangslage, um ihr Ziel weiter zu verfolgen. Nicht einmal die Polizei konnte sie um Hilfe bitten.
Es war Freitag, der 19. Oktober 1990. Die letzten 40 Stunden fehlten in Rawannis Erinnerung. Nachdem Abbe sie missbraucht hatte, war sie in eine Art Schockstarre gefallen.
Obwohl es Nacht war, machten die bunten Neonreklamen die belebten Straßen taghell. Die Digitaluhr an einem Hochhaus zeigte elf Uhr abends an. Sie befand sich auf dem Broadway, Ecke Spring-Street. Trotz dieser späten Stunde waren noch sehr viele Menschen unterwegs. Geschäfte, Restaurants, Bars — überall herrschte rege Betriebsamkeit. New York schlief auch nachts nicht.
Sie ging die Spring-Street weiter, entlang an einigen italienischen Restaurants bis zur Bowery. Sie erschrak, als sie auf dem Asphalt und in Hauseingängen zerlumpte Gestalten liegen sah. In Müllcontainern schürten sie ein Feuer und wärmten so ihre ausgezerrten Körper. Ein wärmendes Feuer könnte sie jetzt auch gut gebrauchen, denn sie trug nur sehr dünne Kleidung, aber sie wagte es nicht die Leute anzusprechen. Am Ende brachte das nur Ärger. Einige der Typen warfen ihr bereits neugierige Blicke zu.
Es erstaunte sie, wie viel Armut es in einer Stadt wie New York gab. Hier prallten so viele Nationen aufeinander und damit auch Reich und Arm. Die Spannbreite der verschiedenen Gesellschaftsschichten reichte von der High Society bis zu Menschen, die buchstäblich im und von Dreck lebten. New York war eine Welt für sich und voller Gegensätze.
Ein torkelnder Betrunkener rempelte sie an und bettelte um Geld. Würde sie bald auch hier landen? Nein, das durfte nicht geschehen — niemals! Gleich morgen würde sie sich Arbeit suchen.
Eilig lief sie weiter. In einer der Nebenstraßen lungerten im Schatten der Häuser ebenfalls Obdachlose herum, die sich mit Zeitungen und Kartons zugedeckt hatten. Flaschen in braunen Papiertüten waren ihre Begleiter. Der Inhalt dieser Flaschen war leicht zu erraten. Es war ein trauriger Anblick und erinnerte sie an die Zeit ihrer Kindheit, als sie im Reservat ähnlich betrunkene Gestalten gesehen hatte.
Aus einem Hinterhof drangen Stimmen. Im schwachen Schein einer kleinen Außenbeleuchtung erkannte sie in der hinteren Ecke zwei Jugendliche, die auf einen am Boden liegenden Mann einschlugen und traten. Es war einer dieser Obdachlosen. Er stöhnte, wehren konnte er sich nicht.
"Hey!", rief sie ohne zu zögern. "Lasst den Mann in Ruhe!"
Die beiden blickten hoch und ließen von ihrem Opfer ab.
"Oho, wen haben wir denn da?", säuselte der Dunkelhaarige und hakte seine Daumen in die Hosentaschen, während er lässig auf Rawanni zu schlenderte. Die glatten, kurzen Haare waren nach hinten gekämmt und mit Gel fixiert, eine breite Strähne fiel über das rechte Auge; im rechten Ohrläppchen steckten mehrere Ringe. Er mochte etwa so alt wie sie selbst sein. "Was meinst du, Perky", sprach er seinen gleichaltrigen Kumpel an, ohne den Blick von Rawanni zu nehmen, "wäre diese Kleine nicht etwas für uns?"
"Das würde ich meinen, Greg", grinste Perky und strich sich aufreizend mit den Fingern durch seine halblangen schwarzen Haare. Dabei leckte er sich vielsagend über die Lippen.
Beide bewegten sich betont cool auf Rawanni zu. Der Obdachlose war vergessen.
"Ich will keinen Ärger mit euch", versuchte sie die Lage zu entschärfen, doch sie erkannte sofort, dass die beiden in ihr ein neues Opfer gefunden hatten: Sie schnitten ihr den Rückweg ab.
Rawanni bemerkte den verängstigten Blick des Obdachlosen, der sich tiefer in die Ecke duckte und die Szene beobachtete. Offenbar hatte er Schmerzen.
Greg umkreiste sie und spielte mit ihren Haaren, wickelte eine Strähne um seinen Finger. Rawanni war aufs Äußerste konzentriert. Sie blieb ruhig stehen, aber ihr Körper spannte sich wie ein Bogen kurz vor dem Abschuss, jederzeit bereit den erwarteten Angriff abzuwehren.
"Was ist, willst du uns nicht ein wenig beglücken?", gluckste Perky.
"Nein", erwiderte sie immer noch in ruhigem Tonfall. "Geht nach Hause statt hilflose Bettler zu verprügeln."
"Hey, die Kleine will uns Vorschriften machen." Perky baute sich dicht vor ihr auf und sah in ihren Augen ein unheimliches Feuer lodern.
Sie roch seinen Atem, der ihr biergeschwängert und nach Tabak stinkend entgegenwehte. Sie fixierte ihn eindringlich, wendete den Blick nicht von ihm ab, behielt aber aus dem Augenwinkel heraus auch Greg im Auge.
Perky war leicht verunsichert und trat einen Schritt zurück. Diese Frau hatte keine Angst. Warum? Er wusste es in dem Augenblick, als er ihren Arm packte und sich selbst in der nächsten Sekunde auf dem Boden wiederfand.
Greg griff von hinten an. Er rang nach Luft, als er von harten Fußtritten und Schlägen getroffen gegen den Müllcontainer krachte.
Perky hatte sich inzwischen wieder erhoben und ließ ein Klappmesser aufschnappen, doch schon sah er ihren Fuß auf sich zugeschossen kommen. Das Messer flog in hohem Bogen durch die Luft. Er konnte Rawannis blitzschnellen Bewegungen mit den Augen gar nicht folgen, geschweige denn rechtzeitig reagieren. Immer wieder schlug er hart gegen eine Wand oder Müllcontainer. Zwischendurch attackierte sie Greg, der gegen ihr Können keine Chance hatte.
Perky kniete schließlich japsend vor ihr, die Lippe war aufgeplatzt, seine Rippen schmerzten. Benommen kroch er auf allen vieren über die Steine. Beide rappelten sich wieder auf, während Rawanni sie kühl taxierte. Perky stufte ihre Chancen als schlecht ein und hob die Hände zum Zeichen seiner Aufgabe. Greg tat es ihm gleich und beide trotteten geschlagen davon.
Rawanni hob das Messer auf und steckte es ein, dann wandte sie sich dem Obdachlosen zu und hockte sich vor ihn. Er blickte sie mit vor Schreck geweiteten Augen an.
"Ist alles in Ordnung?", fragte sie und lächelte ihn an, um ihn zu beruhigen.
Er nickte, noch immer ergriffen von dem, was er eben gesehen hatte.
"Wie heißen Sie?", fragte sie mit sanftem Tonfall.
"Äh … Charly."
Seine extreme Alkoholfahne raubte ihr fast den Atem. Die ergrauten Haare lugten stumpf und verfilzt unter einer schwarzen Strickmütze hervor und reichten weit über den Mantelkragen. Der Wollmantel und die Baumwollhose wiesen zahlreiche Flicken auf, die aber alle sorgfältig aufgenäht waren. In seinem ausgemergelten Gesicht zeigten sich tiefe Furchen. Er mochte um die 60 sein, was bei seinem dichten grauen Vollbart schwer zu schätzen war.
"Ich bin Rawanni", stellte sie sich vor und erfasste zum Gruß seine Hand, die in einem Handschuh steckte, dessen Fingerspitzen fehlten.
Er hielt ihre Hand fest und betrachtete sie. "Du hast sehr geschickte Hände", meinte er mit einem Lächeln. "Ich danke dir. Diese Typen hätten mich vielleicht totgeprügelt. Es wäre nicht das erste Mal, dass einer von uns auf diese Weise draufgegangen ist. Dich hat der Himmel geschickt."
"Aber ich bin nicht geflogen", scherzte Rawanni. "Wenigstens ist mir dabei warm geworden."
Charly sah sie ernst an. "Auch wenn du dich gut verteidigen kannst, solltest du in dieser Gegend nicht alleine und schon gar nicht bei Nacht herumlaufen."
"Nein, aber ich kenne mich hier nicht aus. Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich einen warmen Schlafplatz finde?"
Charly blickte sie erstaunt an. "Du meinst einen kostenlosen?"
"Ja, ich habe kein Geld."
"Du siehst nicht gerade aus, als ob du auf der Straße lebst."
"Bisher musste ich das auch nicht."
"Du kannst bei den Nachtasylen unterkommen, aber davon würde ich dir abraten, denn dort klauen sie wie die Raben. Sogar während du schläfst rauben sie dir die Schuhe von den Füßen. Besonders sauber ist es dort auch nicht, weil viele ihre Läuse gleich mitbringen. Ich bin dort früher nur im äußersten Notfall hingegangen. Aber einigermaßen gutes Essen erhältst du da und auch Kleidung. Wie ich sehe ist deine nicht besonders warm."
"Nein. Ich musste schnell aufbrechen."
"Ich bringe dich erstmal zu meinen Freunden. Dort wird sich auch noch ein Plätzchen für dich finden."
"Ich möchte aber keine Umstände bereiten."
"Nein, das tust du nicht. Es ist das Mindeste, was ich meiner Lebensretterin als Dank anbieten kann. Komm, hilf meinen alten Knochen mal hoch."
Rawanni schob ihren Arm unter seinen und stützte ihn. Er stöhnte vor Schmerz auf.
Sie begleitete ihren neuen Freund zur Lower East Side, einer teils ärmlichen Gegend mit alten Mietskasernen. Manche Häuser boten als ausgebrannte Ruinen einen trostlosen Anblick, andere waren abgerissen worden und hatten hässliche Lücken hinterlassen, auf denen zwischen dem Schutt jede Menge Unkraut wucherte. Einige Anwohner hatten in Eigeninitiative liebevoll kleine Mini-Parks auf den leeren Flächen angelegt, doch zu dieser Jahreszeit blühten nur noch wenige Pflanzen.
Auf einem dieser leeren Grundstücke hausten Charlys Freunde in selbst gezimmerten Unterkünften. Vor einem Feuer saßen einige Leute und wärmten sich.
"Hallo, Charly", rief eine Frau mittleren Alters. "Wen bringst du denn da mit?"
"Das ist Rawanni, meine Lebensretterin", erklärte er nicht ohne Stolz und zog damit augenblicklich alle Aufmerksamkeit auf sich.
"Deine Lebensretterin?" Die Frau blickte ungläubig zwischen Charly und Rawanni hin und her.
"Zwei Jugendliche haben mich verprügelt und Rawanni kam mir zu Hilfe."
Die Frau wischte sich die Hand an ihrem Mantel ab, bevor sie sie Rawanni mit einem Lächeln reichte. "Ich bin Mally, sozusagen die Herbergsmutter. Ich sorge dafür, dass hier alles in geordneten Bahnen verläuft, wenn du verstehst, was ich meine." Sie lachte.
"Ja", stimmte ein Mann mit roter Mähne lächelnd bei, erhob sich vom Feuer und reichte ihr die Hand. "Wenn Mally nicht die Zügel führen würde, kämen wir alle unter die Räder. Ich bin übrigens Red — wegen meinem Rotschopf." Seine gelockten Haare, die bis auf die Schultern reichten, waren in der Tat kräftig rot und schienen sich kaum bändigen zu lassen. Auch seine Bartstoppeln schimmerten rötlich.
"Hallo, Red."
Ein zweiter Mann war aufgestanden und stellte sich ebenfalls vor: "Ich bin Arnie, der Autospezialist."
Rawanni ergriff auch seine dargebotene Hand. "Es freut mich, euch alle kennenzulernen."
"Rawanni sucht eine Schlafgelegenheit", erklärte Charly. "Sie sollte nichts kosten."
Mally sah sie erstaunt an. "Du siehst nicht so aus, als ob du dir kein Zimmer leisten könntest. Was ist denn passiert?"
"Mein Leben wird sich künftig ändern. Ich habe niemanden an den ich mich wenden kann, außerdem bin ich fremd in dieser Stadt. Gleich morgen will ich mir eine Arbeit suchen."
"Es wird schwer sein hier einen Job zu finden, denn es gibt viele Arbeitssuchende. Aber bis dahin kannst du natürlich gerne hierbleiben, wenn dir eine einfache Schlafstatt genügt." Mally legte mütterlich den Arm um ihre Schulter: "Und morgen besorgen wir dir noch etwas Warmes zum Anziehen, denn deine Sachen sind doch reichlich dünn."
"Ich danke euch, ihr seid wirklich meine Rettung."
Mally schob Rawanni in eine der kleinen Bretterbuden, in denen bereits drei Kinder und eine weitere Frau schliefen. Sie wies auf ein Bettgestell mit einer dünnen Matratze. "Hier kannst du schlafen. Es ist wenigsten einigermaßen warm und trocken."
Rawanni blickte auf den kleinen Ofen in der Ecke, der genügend Wärme verbreitete. Sie war froh und dankbar, nicht ungeschützt auf der Straße schlafen zu müssen, und nahm dafür auch diese schlichte Unterkunft in Kauf. Es machte ihr nichts aus, denn als Kind war sie schließlich auch mit wenig Komfort ausgekommen.
Am nächsten Morgen lernte Rawanni den Rest der Großfamilie kennen, deren Mitglieder sich aus den verschiedensten Gründen zusammengefunden hatten. Die Leute waren ihr auf Anhieb sympathisch.
Mally sorgte mit ihrer fürsorglichen Art und ihrem Organisationstalent dafür, dass das Zusammenleben dieser kleinen Gruppe, die aus zehn Erwachsenen und drei Kindern bestand, fast reibungslos funktionierte. Jeden Tag beschafften Mally und die anderen Frauen Essensreste, sodass immer eine warme Mahlzeit zubereitet werden konnte. Die Männer erbettelten Geld von den Passanten, um weitere notwendige Dinge kaufen zu können.
Mally besaß mit 45 Jahren immer noch ein sehr attraktives Gesicht, jedoch war ihre Figur nach ihrer ersten Geburt in die Breite gegangen, aber gerade das verlieh ihr etwas Mütterliches. Sie hatte ihren Mann und ihre zwei Kinder bei einem Verkehrsunfall verloren, hatte monatelang im Krankenhaus gelegen, während die Ärzte um ihr Leben kämpften. Als sie körperlich genesen war, bekam sie ihr Leben nicht wieder in den Griff, denn sie hatte den Verlust ihrer Familie nicht verkraften können. Eine Arbeit fand sie auch nicht mehr und ihr fehlte die Kraft etwas zu ändern, so ließ sie sich hängen und landete schließlich auf der Straße. Erst Red hatte sie wieder aufgerichtet und ihr gezeigt, dass das Leben sogar als Obdachlose lebenswert sein konnte. Mit ihm hatte sie eine neue Liebe gefunden. Bei allen war sie sehr beliebt und jeder konnte sie um Rat fragen. Sie spendete allen Trost, die ihn brauchten.
Red war 46 und lebte seit zehn Jahren auf der Straße, nachdem seine Frau ihn verlassen hatte. Er fing damals an zu trinken und verlor dann Job und Wohnung. Inzwischen hatte er sich mit seinem neuen Leben arrangiert und wollte gar nicht mehr zurück in sein altes.
Arnie war 35 und ein hartgesottenes Raubein mit weichem Herz — wie Mally ihn beschrieb. Er hatte als Kfz-Mechaniker gearbeitet und auch an Autorennen teilgenommen, bei denen er sogar einige Preise gewonnen hatte. Nach einem selbst verschuldeten Unfall, bei dem ein Kind zu Tode gekommen war, wurde er zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt, danach saß er auf der Straße.
Charly, der Älteste unter ihnen, war einst sehr wohlhabend gewesen, aber seine Spielsucht hatte ihn in den Bankrott getrieben. Seine Ehe zerbrach daran. Er hatte sich mit Alkohol getröstet und der Weg auf die Straße war dann nicht mehr weit gewesen.
Auch die anderen wiesen ähnliche Schicksale auf, warum sie hier gelandet waren.
Charly erzählte allen von Rawannis mutigem Eingreifen und obwohl sie vehement protestierte, schmückte er die Geschichte erheblich aus, während alle an seinen Lippen hingen. Er konnte schon immer gute Geschichten erzählen und niemand wusste, ob sie wahr oder erfunden waren, aber das spielte auch keine Rolle.
Vormittags ging Mally mit Rawanni zu einer Kleiderkammer, wo sie eine dicke Jacke, zwei Pullover, zwei Hosen, Unterwäsche und warme Stiefel bekam.
Danach zeigte sie ihr die beeindruckende Stadt. In den Schaufenstern waren die teuersten Artikel ausgestellt; Prunk-Paläste mit kostbar verzierten Fassaden und Türen aus Messing, bewacht von Portiers in Uniformen, protzten neben einförmigen rotbraunen Brownstone-Häusern. Restaurants, Theatersäle, Boutiquen — überall ein Meer von Konsumgütern in den Auslagen. Und dann das gewaltige Finanzzentrum an der Wall Street … hier regierte das Geld. Rawanni wurde schwindelig von diesen vielen Eindrücken und ihr wurde noch stärker bewusst, wie dicht Arm und Reich in diesem Moloch beieinanderlagen.
Besonders gefiel ihr der Central Park, diese grüne Insel inmitten von Wolkenkratzern, in dem man sich wie in einer anderen Welt fühlen konnte. Auf den großzügigen Rasenflächen konnte man bei schönem Wetter herrlich ausspannen. Außerdem war der Park hervorragend dazu geeignet sportlichen Aktivitäten nachzugehen, was von vielen New Yorker offenbar intensiv genutzt wurde, denn überall waren Jogger, Radfahrer und Inline-Skater unterwegs — natürlich auch jede Menge Spaziergänger.
Die Suche nach einem Job gestaltete sich schwieriger als erwartet. Die Arbeitslosenquote war hoch und jede freie Stelle schnell wieder besetzt. Immer neue Einwanderer drängten nach und suchten nach Arbeit. Besonders waren die Stellen begehrt, für die keine Ausbildung erforderlich war.
Von Zeit zu Zeit ging Rawanni auch bei Abbes Nachtklub vorbei, achtete aber darauf nicht gesehen zu werden. Sie war sich immer noch nicht im Klaren darüber, wie sie ihn packen sollte. Zur Polizei konnte sie nicht gehen und freiwillig würde er wohl kein Geständnis ablegen. Es schien ein hoffnungsloses Unterfangen zu sein. Musste sie ihn tatsächlich ungestraft davonkommen lassen und sich in ihr Schicksal fügen?
Einmal sah sie, wie er seinen Klub verließ; er humpelte auf einen Stock gestützt zum Wagen. Sie musste ihn erheblich am Knie verletzt haben. Der Mann, der ihm die Wagentür aufhielt, war sein Bodyguard Wes. Der hatte seine Verletzungen also gut überstanden. Aber wenn er hier war, dann wusste Abbe inzwischen auch, dass sie seinen Vater getötet hatte. Wie würde er reagieren, wenn er sie zu fassen bekam? Das war ein Grund mehr, ihm nie wieder zu begegnen.
Der Hass auf ihn würde vielleicht niemals aufhören. Manche Nächte hatte sie sich in den Schlaf geweint. Mally und die anderen halfen ihr über die schlimmste Zeit hinweg, aber sie konnte ihnen nichts über die Gründe ihrer Trauer erzählen, damit musste sie allein fertig werden.