Читать книгу Rawanni und die Mafiosi - Emma Baro - Страница 5
Kapitel 2 November 1990
ОглавлениеOft begleitete Rawanni Mally auf ihren Rundgängen, bei denen sie Reste von Restaurants und Lebensmittelgeschäften organisierte. Man kannte Mally und ihre nette fröhliche Art; nirgendwo wurde sie abgewiesen. Dabei trafen sie eines Tages einen jungen Mann in sportlicher Kleidung und Turnschuhen. Sie schätzte ihn um die 30.
"Hey, Mally", begrüßte er sie mit einem herzlichen Lächeln und umarmte sie freundschaftlich. "Wie läuft das Geschäft?"
"Könnte nicht besser sein", antwortete Mally und klopfte ihm bei der Umarmung kameradschaftlich auf den Rücken. "Al, darf ich dir Rawanni vorstellen? Sie wohnt seit Kurzem bei uns. — Rawanni, das ist Detective Al Lawson, der netteste Polizist von New York."
Ein kalter Schauer lief über ihren Körper und verursachte eine Gänsehaut. Ihr Puls beschleunigte sich.
"Du schmeichelst mir, Mally". Sein Lächeln war ungemein attraktiv, aber es schien eher Rawanni zu gelten, als er ihre Hand ergriff. "Schönen guten Tag", sagte er höflich und hielt ihre Hand länger als üblich. Er bemerkte ihr kurzes Zögern.
"Guten Tag", entgegnete Rawanni knapp und zog ihre Hand zurück.
Obwohl ihr Kopf in einen dicken Schal eingehüllt war, zog ihr Gesicht ihn magisch an, besonders diese dunklen großen Augen. Sekundenlang verharrte er wie gebannt, bis Mally sich räusperte.
"Wir müssen wieder, Al. Alle warten auf das Essen."
"Äh … ja, natürlich. Ach warte … " Er fingerte aus seiner Hosentasche eine Zwanzigdollarnote hervor und steckte sie in Mallys Jackentasche. "Alles Gute."
"Danke, Al. Wir seh'n uns."
Sie gingen weiter und Rawanni drehte sich kurz um. Er stand noch immer da und blickte ihnen nach. Verdammt, hoffentlich hat er mich nicht erkannt. Möglicherweise hatten alle Polizeistationen ihr Fahndungsfoto erhalten und er würde es jetzt überprüfen.
"Mmmmh", schwärmte Mally. "Das ist vielleicht ein Mann. Wenn ich ein wenig jünger wäre und nicht Red hätte, könnte ich glatt schwach bei ihm werden."
Rawanni lächelte.
"Und er ist immer sehr großzügig", sagte Mally weiter. "Manchmal können wir ihm mit ein paar Informationen weiterhelfen. Wenn wir uns sehen, steckt er mir immer Geld zu und nicht gerade wenig. Er ist schon ein prima Bulle, ganz anders als die anderen." Sie lächelte Rawanni an. "Ich habe bemerkt, wie er dich angesehen hat."
"Ach Unsinn."
"Nein, nein, ich weiß, was ich gesehen habe. Du gefällst ihm. Er wird dich bald besuchen kommen. Du wirst schon sehen."
Rawanni fühlte sich nicht wohl bei der Vorstellung, dass er sie vielleicht aus anderen Gründen, als Mally glaubte, so intensiv angesehen hatte.
Mally hatte recht. Es dauerte nicht lange bis er beim Lager auftauchte. Aber sie wollte nicht mit ihm reden, denn wenn sein Interesse an ihr dienstlicher Natur war, sollte sie ihm besser aus dem Weg gehen, bevor sie sich durch ein falsches Wort verriet.
Aber er ließ sich so schnell nicht entmutigen und kam fast jeden Abend nach Dienstschluss. Manchmal wechselten sie ein paar belanglose Worte oder begrüßten sich nur, bevor Rawanni das Lager fluchtartig mit einer fadenscheinigen Begründung verließ. Auch eine Einladung zum Essen lehnte sie jedes Mal ab. Aber sie erkannte schnell, dass sein Interesse an ihr wirklich nur rein private Gründe hatte. Daher brauchte sie die Stadt nicht zu verlassen, was sie bereits in Erwägung gezogen hatte.
Aber auch seine vorsichtigen Annäherungsversuche waren ihr unangenehm, denn sie konnte einem anderen Mann höchstens freundschaftliche Gefühle entgegenbringen. Außerdem war die Gefahr zu groß, dass er sie doch eines Tages erkannte. Aber wie sollte sie ihm erklären, dass sie kein Interesse an ihm hatte, ohne ihn zu sehr zu kränken? Zugegeben, er war sehr nett und sie hätte auch seine Einladung angenommen, wenn die Situation eine andere gewesen wäre.
An diesem Tag kam Al wieder zum Lager, aber sie war nicht da, sondern klapperte gerade die Restaurants nach einem Job ab. Stattdessen musste er mit Mally vorliebnehmen. "Hallo, Mally."
"Hallo, Al", begrüßte sie ihn mit einem Schmunzeln. "Du kommst in letzter Zeit aber oft."
"So?" Er stützte seine Arme auf die halb verfallene Mauer und starrte blicklos an Mally vorbei.
"Mhm — und sicherlich nicht wegen meiner schönen Beine. — Sie ist nicht da."
"So!"
Mally stemmte die Fäuste in die Hüften und sah ihn mit hochgezogenen Brauen an, sagte aber nichts.
"Nun ja", gab er schließlich zu, "ich würde sie ja gerne mal zum Essen einladen, aber sie weicht mir immer wieder aus. Was weißt du eigentlich über sie?"
"Ah, jetzt spricht wieder der Polizist aus dir. Ich weiß nicht viel, weil sie kaum über private Dinge spricht. Allerdings glaube ich, dass sie etwas Schlimmes erlebt haben muss. Manchmal höre ich sie nachts schluchzen. Bevor sie zu uns kam, hat sie nicht auf der Straße gelebt. Sie besaß nur die Sachen, die sie auf dem Leib trug. Offenbar wurde sie von einem Tag auf den anderen aus ihrem bisherigen Leben herausgerissen."
"Weißt du, wie alt sie ist?"
"17. Sie hat anscheinend keine Angehörigen, sonst hätte sie dort längst angerufen. Vielleicht ist sie irgendwo weggelaufen, möglicherweise wurde sie sogar in einem Bordell festgehalten."
"Wie kommst du darauf?"
"Na ja, als sie zu uns kam, haben wir am nächsten Tag für sie warme Kleidung besorgt. Als sie sich umzog, hatte sie knallrote Reizwäsche an, einen String und BH aus feinster Spitze. Mann, die hat vielleicht einen verteufelt tollen Körper, da wurde selbst ich als Frau neidisch und musste hingucken."
"Du machst mir den Mund wässrig."
"Hey, alter Lüstling." Sie boxte ihm verspielt gegen die Schulter.
Er lächelte verschmitzt. "Ich komme morgen wieder."
"Okay, mach das."
Er hob die Hand zum Gruß und trottete mit gesenktem Kopf davon. Junge, dachte Mally, den hatte es aber erwischt.
Inzwischen war es Dezember und die Arbeitssuche immer noch nicht erfolgreich. Es war kalt und Rawanni fror, denn die Temperaturen waren unter den Nullpunkt gesunken. Einen Versuch wollte sie noch unternehmen, bevor sie zum Lager zurückging. Sie klopfte an der Hintertür eines Restaurants und wartete. Als die Tür sich öffnete, kam sie gar nicht dazu ihr Anliegen vorzutragen, denn der Mann hielt einen Eimer in der Hand und ehe sie sich versah, war sie von oben bis unten nass.
"Verschwinde!", fauchte er. "Eure ständige Bettelei reicht mir jetzt." Die Tür schlug mit lautem Knall zu.
Völlig verdutzt starrte Rawanni auf die Tür. Er hatte geglaubt sie wollte betteln. Mit einem Schwall Schimpfwörter, die niemand hörte, klopfte sie das Wasser aus dem Mantel und wischte es aus ihrem Gesicht. Verdammt, jetzt fror sie noch mehr.
Im Laufschritt lief sie an den Geschäften entlang zum Lager. Sie musste sich schnellstens trockene Sachen anziehen. An einer Hausecke stieß sie mit einem Mann zusammen.
"Entschuldigung", stammelte sie und blickte hoch.
"Rawanni!"
"Al!"
"Du bist ja ganz nass."
"Ja, ich habe gerade eine Dusche genommen."
"Wer war das? Soll ich ihn verhaften?"
"Nein. Er hat geglaubt, dass ich betteln wollte. Dabei wollte ich doch nur nach Arbeit fragen."
"Hast du immer noch kein Glück bei der Arbeitssuche gehabt?"
"Nein, na ja, so wie ich aussehe, würde ich mich auch nicht einstellen wollen." Sie sah an sich herunter und bot in ihrem dicken Wollmantel und dem um den Kopf gewickelten Schal wirklich keinen ansehnlichen Anblick.
"Du siehst reizend aus, nur ein bisschen nass", meinte Al neckend. "Aber du solltest dich schnell umziehen, sonst holst du dir noch eine Erkältung."
"Ich war gerade auf dem Weg zum Lager."
"Meine Wohnung liegt näher und ist schön warm."
"Nein, nein, das geht nicht." Sie ging gleich in Abwehrhaltung.
"Keine Sorge, ich bin ganz brav", versuchte er sie zu beruhigen.
"Trotzdem."
"Komm, überleg nicht lange — deine Zähne klappern bereits. Oder liegt es daran, dass ich Polizist bin?" Diese Frage war ihm spontan in den Sinn gekommen, aber ihr kurzer erschrockener Augenaufschlag war ihm nicht entgangen.
"Also gut", gab sie nach, um ihn nicht noch misstrauischer zu machen.
"Sehr schön." Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er nahm sie an der Hand, trat an den Straßenrand und winkte nach einem Taxi.
Nur wenige Häuserblocks weiter lag Als Mietwohnung in einem dreigeschossigen Mehrfamilienhaus aus rotbraunem Sandstein in East Village. Sein Dreizimmerapartment lag im zweiten Stock.
"Am besten, du nimmst erst einmal ein heißes Bad." Er wartete eine Erwiderung gar nicht erst ab und ging gleich ins Badezimmer, um das Wasser einzulassen. Aus einer Flasche schüttete er einen duftenden Zusatz hinein, der gleich Schaumberge bildete.
Sie sah ihm mit verhaltener Skepsis von der Tür aus zu.
"Na, ist das nicht verlockend?" Sein Lächeln war umwerfend. Als sie immer noch unsicher am Türrahmen stehen blieb, zog er sie ins Zimmer. "Dort liegen ein Badetuch, Waschlappen und Seife. Shampoo findest du da. Danach kannst du meinen Bademantel anziehen", er zeigte hinter die Tür, an dem der Mantel an einem Haken hing, "bis deine Sachen trocken sind. Und wenn du fertig bist, gibt es was zu essen."
Sie starrte ihn nur wortlos an.
Mit einem Augenzwinkern schloss er die Tür.
Al stieß einen freudigen Seufzer aus. Der Zufall war ihm zu Hilfe gekommen und hatte sie sogar in seine Wohnung geführt. Hier konnte sie ihm nicht so schnell wieder weglaufen, denn er wollte endlich ihre Geschichte erfahren. Was verheimlichte sie? Warum weinte sie so oft in der Nacht? Aber er durfte sie nicht zu sehr bedrängen und musste sehr behutsam vorgehen. Seine polizeilichen Verhörmethoden musste er diesmal außer Acht lassen.
Rawanni starrte noch eine Weile unschlüssig auf den Schaum, der sich zu immer größeren Bergen türmte. Ein heißes Bad war natürlich nicht zu verachten — sie fror inzwischen erbärmlich. Schließlich legte sie ihre nasse Kleidung ab und auch ihre Skepsis. Mit einem genussvollen Stöhnen streckte sie sich in der Wanne aus und schloss die Augen …
Von weit entfernt hörte sie ihren Namen und schreckte auf. Al saß auf dem Wannenrand. Automatisch verschränkte sie die Arme über ihre Brüste.
"Keine Sorge", sagte er lächelnd, "ich sehe nichts. Du wirst noch von Schaum bedeckt. Entschuldige, aber ich bin hereingekommen, weil du auf mein Rufen nicht reagiert hast. Du bist schon ziemlich lange im Wasser. Ich wollte dir nur sagen, dass das Essen fertig ist."
"Ja, ich komme", murmelte sie benommen.
Er ließ sie wieder allein.
Sie beeilte sich mit dem Waschen und schlüpfte anschließend in seinen Bademantel, der viel zu groß war, aber gut roch. Die Ärmel krempelte sie um.
Er saß bereits am Esstisch und füllte gerade dampfende Lasagne auf die Teller. Eine große Schale mit Salat stand auf dem Tisch sowie eine Karaffe mit frisch gepresstem Orangensaft.
"Na, wie fühlst du dich?"
"Ich muss sagen: sehr gut."
Sie schenkte ihm ein dankbares Lächeln und er schmolz dahin. Sein Herzschlag nahm unwillkürlich einen stärkeren Rhythmus an.
"Du bist anscheinend nicht nur Polizist, sondern auch Koch", sagte sie nach den ersten Bissen, "und gar kein schlechter."
Er lächelte. "Dabei kann ich nur Kleinigkeiten, denn ich esse meistens bei uns in der Kantine und außerdem habe ich wenig Lust für mich allein zu kochen. Deshalb freut es mich umso mehr einen Gast zu haben."
"Dann hast du keine Freundin?"
"Nein, ich bin schon lange Single. Meine Mutter drängt mich dauern, weil ich schon dreißig bin und ich womöglich die Zeit für die Gründung einer Familie verpassen könnte. Sie möchte natürlich Enkelkinder haben, möglichst mehr als eins. Ich habe keine Geschwister und daher liegt es an mir unsere Familie fortzuführen. Nun ja, für mich ist das nicht so einfach. Du musst wissen: Ich stand vor drei Jahren kurz vor der Hochzeit, doch wenige Tage zuvor verunglückte meine Verlobte tödlich. Bis heute fällt es mir schwer eine neue Beziehung einzugehen."
"Das tut mir leid." Sie konnte ihm nicht sagen wie sehr sie diese Gefühle aus eigener Erfahrung nachempfinden konnte. Sie begegnete seinem Blick, der sekundenlang intensiv auf ihre Augen geheftet blieb.
Er vergaß das Kauen und ein warmes Kribbeln durchflutete seinen Körper. Dieses Gefühl hatte er schon lange nicht mehr erlebt. "Äh, möchtest du noch was?" Er musste sich von seinen Gedanken losreißen, die ihn plötzlich befielen: Gedanken, was sein könnte, wenn …
Sie nickte und schob kauend den Teller näher. Es freute ihn, dass es ihr schmeckte. Schweigend beobachtete er sie und überlegte, über welches Thema er mit ihr reden konnte. Bisher hatte sie alle Fragen nach ihrem Leben abgeblockt und dabei hatte er so viele Fragen, wollte alles von ihr wissen.
"Was hat dich eigentlich nach New York verschlagen?", fragte er schließlich, obwohl diese Frage auch ihr Leben betraf.
"Das Schicksal." Sie zuckte mit den Achseln.
Da war es wieder, sie wich aus.
"Du redest nicht gerne über dich, nicht wahr?"
"Nein."
"Worüber können wir dann sprechen?"
"Dein Essen schmeckt hervorragend."
Er lachte. "Ich verstehe. Dann iss bitte auch noch den Rest auf."
"Ich glaube, mein Magen ist in den letzten Wochen kleiner geworden, ich schaffe nicht mehr, obwohl es so gut schmeckt. Danke Al."
"In zwei Wochen ist Weihnachten", sagte er nach einer Weile und wagte einen neuen verwegenen Vorstoß, bei dem er sich eine Abfuhr und ihren Zorn einhandeln konnte. "Willst du nicht hierbleiben und mir Gesellschaft leisten? Dann wäre ich nicht allein." Er setzte seine artigste Miene auf, als sie ihn mit großen Augen ansah, aber er redete sofort weiter. "Sonst fahre ich Weihnachten immer zu meiner Mutter nach Boston, aber sie macht dieses Jahr mit ihrem neuen Freund eine Kreuzfahrt in die Karibik. Ich habe ein Gästezimmer, das sonst meine Mutter benutzt, wenn sie nach New York zum Shoppen kommt." Er hatte Angst mit dem Reden aufzuhören und holte kaum Luft. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloss ihn aber gleich wieder, als die Worte weiter aus ihm heraussprudelten. "Außerdem haben sie im Wetterbericht für die nächsten Tage starken Schneefall angekündigt, dann wird es draußen sehr ungemütlich und hier ist es schön warm."
Sie fing an zu lächeln. Er stockte.
"Du gibst dir wirklich sehr viel Mühe, mich zu überreden."
Er stützte die Arme auf den Tisch und legte den Kopf in die Hände. "Ja, und ich gehe noch weiter. Ich würde dir nämlich ein paar neue Sachen spendieren, damit sie dich beim nächsten Mal nicht wieder wegen deines Äußeren abweisen."
Sie lehnte sich zurück. "Danke, dein Angebot ist wirklich sehr verlockend, aber es geht nicht."
"Warum nicht?"
"Weil ich dich nicht ausnutzen möchte, Al. Und sicherlich machst du dir gewisse Hoffnungen, aber … "
"Bitte, Rawanni", unterbrach er sie, "ich verlange nichts von dir, was du nicht selbst möchtest. Wenn du willst, bin ich nur ein netter Gesellschafter. Und außerdem macht es mir große Freude dir etwas Gutes zu tun."
Rawanni senkte den Blick und überlegte. Es wäre sicherlich gut, wenn Mally ein Maul weniger zu stopfen hätte, zumal sie bisher keinen einzigen Cent zu ihrem Aufenthalt hatte beitragen können.
Er sah sie mit einem treuen Hundeblick an und reizte sie damit unwillkürlich zum Lachen. "Also gut", willigte sie schließlich ein. "Ich bleibe — aber nur bis nach Weihnachten. Und stell mir bitte keine Fragen mehr über mein Leben."
Al zeigte seine makellosen Zähne. "Okay, ich verspreche es. Er hob drei Finger zum Schwur. "Morgen beantrage ich gleich Urlaub, denn mein Captain hat mir den Dienst zwischen Weihnachten und Neujahr aufgebrummt, weil ich alleinstehend bin."
"Das solltest du aber nicht wegen mir tun."
"Doch, doch, ich möchte ein paar Tage mit dir verbringen und wenn sie mich brauchen, werden sie mich sowieso anrufen. Ein Polizist ist immer im Dienst."
Sie wusste genau, dass es nicht richtig war bei ihm zu bleiben … obwohl seine Gesellschaft sehr angenehm war. Er benahm sich nicht aufdringlich, nur wie ein guter Freund, und doch spürte sie, dass er mehr wollte; aber sie gab ihm keinen Anlass sich weiter vorzuwagen. Er schien es offenbar zu akzeptieren. Sie war noch nicht bereit für eine neue Beziehung, wenn sie es überhaupt jemals sein würde. Und dann war da noch seine Polizeitätigkeit — eine äußerst brenzlige Situation. Er könnte sie verhaften, ja, er müsste es sogar, wenn er erfuhr, dass sie gesucht wurde. Sie fühlte sich wie auf einem Pulverfass, das jeden Augenblick hochgehen konnte.
Später zeigte er ihr das Gästezimmer, in dem sich auch ein Schreibtisch befand, auf dem sein Computer stand. Das Bett hatte er zwischenzeitlich frisch bezogen. Sie standen an der Tür, als er ihre Hand nahm, seine Lippen darauf legte und sie sanft küsste.
"Gute Nacht, Rawanni, schlaf gut."
"Gute Nacht, Al. Und danke für alles."
Er nickte und seine Augen hatten einen traurigen, fast verzehrenden Ausdruck angenommen.
Sie schloss die Tür und lehnte sich mit einem tiefen Seufzer dagegen. Es gab keine andere Wahl; sie musste Al morgen wieder verlassen. Eine unerfüllte Liebe konnte ebenso schmerzhaft sein wie der Verlust des Partners, und das wollte sie ihm nicht antun.
Am nächsten Morgen war es draußen weiß. Al klopfte leise an ihre Tür. Sie knurrte etwas Unverständliches, woraufhin er die Tür öffnete und hereinkam. Er hockte sich neben das Bett und betrachtete ihr Gesicht, ihre geschlossenen Augen, ihre wunderschönen schwarzen Haare, die wirr über ihrem Rücken gebreitet lagen. Sie trug ein ärmelloses Hemd und er konnte es nicht verhindern, dass seine Finger über ihren bloßen Arm streichelten.
"Hast du gut geschlafen?", fragte er leise.
Sie murmelte ein verschlafenes Ja, während sie sich rekelnd auf den Rücken drehte. "Ich habe schon lange nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen", murmelte sie und blinzelte mit einem Auge.
"Ich muss leider gleich zur Arbeit. Das Frühstück steht auf dem Tisch, du kannst aber noch ein wenig weiterschlafen. Es hat nämlich geschneit. Also bleib besser im Bett."
"Mhm."
"Ich komme mittags vorbei und wir können zusammen essen gehen."
"Mhm."
"Ich werde Mally Bescheid sagen, dass du hier bist."
Ungern verließ er schließlich die Wohnung.
Bevor Al zum Department fuhr, machte er einen Umweg beim Lager vorbei. "Hi, Mally", grüßte er gut gelaunt.
"Hi, Al. Rawanni ist nicht da. Ich mache mir etwas Sorgen, sie hat heute Nacht nicht hier geschlafen." Sie blickte ihn verschmitzt an. "Aber nach deinem Strahlen zu urteilen, weißt du, wo sie ist."
"Ja, sie ist bei mir. Sie hat gestern einen Eimer Wasser abbekommen, als sie bei Perrys Restaurant nach Arbeit fragen wollte. Der Typ hat geglaubt, dass sie betteln wollte. Passt also auf, da braucht ihr nicht nach Resten fragen."
"Oh je, ich hätte sie vorwarnen sollen. Den Laden meiden wir bereits. Und sie ist dann einfach zu dir mitgekommen?"
"Ja. Ich musste sie natürlich ein wenig überreden, aber sie fror heftig und meine Wohnung lag näher."
"Du weißt: Ich sähe es gern, wenn ihr beiden zusammenkommen würdet. Du bist ein guter Mann, Al, und würdest sie sicherlich glücklich machen. Außerdem brauchst du endlich wieder eine Frau."
"Ja, Elisa ist jetzt seit drei Jahren tot. Rawanni ist die erste Frau, die meine Gefühle geweckt hat, aber leider ist das nur einseitig. Sie scheint wie in einem Schneckenhaus zu sitzen, aus dem sie nicht heraus kann."
"Du solltest ihre Sachen mitnehmen", schlug sie vor.
"Glaubst du, sie bleibt bei mir?"
"Du etwa nicht?"
"Ich weiß es nicht. Sie ist verängstigt wie ein scheues Reh, lässt niemanden an sich ran und spricht nicht über sich. Ich darf keine Fragen über ihr Leben stellen. Wo ist sie aufgewachsen? Wer sind ihre Eltern? Nichts erzählt sie mir. Was verbirgt sie? Vor was hat sie Angst? Du hast recht, es muss ihr Schlimmes passiert sein."
"Dann finde es heraus, Al, du bist schließlich Polizist."
"Damit könnte ich aber das bisschen Vertrauen, das sie mir entgegenbringt, vollständig zerstören."
"Möglich", meinte Mally, "aber du wirst dich ständig fragen und quälen, welches Geheimnis sie verbirgt. Eines aber fühle ich mit Sicherheit: Sie ist keine Verbrecherin."
Al lächelte und gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Danke, Mally."
Nachdem Al die Tasche mit Rawannis Sachen in den Kofferraum gelegt hatte, drängte es ihn hineinzuschauen. Er fand die rote Reizwäsche, von der Mally gesprochen hatte, und ließ den Spitzenstoff durch seine Finger gleiten. Er beschloss hinter ihr Geheimnis zu kommen.
Rawanni stand am Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die gleichmäßig vom Himmel fielen. Als Wohnung war bei diesem Wetter natürlich weit bequemer und wärmer als die kalte Behausung des Lagers. Sie haderte mit sich. Was sollte sie tun? Schließlich entschloss sie sich, noch einige Tage zu bleiben, wenigstens so lange, bis das Wetter wieder besser werden würde.
Al kam gegen Mittag strahlend und gut gelaunt nach Hause. Er hatte sich für den Nachmittag freigenommen.
Nach dem Essen in einem italienischen Restaurant ging er mit ihr einkaufen. Er musste sie bei jedem Kleidungsstück überreden es zu nehmen. Es war ihr unangenehm, wenn er die Sachen bezahlte.
Danach machten sie einen Spaziergang durch die verschneiten Straßen. Mit staunenden Augen betrachtete sie die weihnachtlich geschmückten Geschäfte. Der 30 Meter hohe Weihnachtsbaum am Rockefeller Center war besonders beeindruckend und lockte jährlich viele Touristen aus aller Welt an.
Es war ein schöner Nachmittag mit Al. Für ein paar Stunden hatte sie ihre Probleme vergessen können. Sie würde gerne bei ihm bleiben, seine Gesellschaft tat ihr gut, aber es war nicht möglich.
Am nächsten Morgen brachte Al ein Glas mit ihren Fingerabdrücken zum Labor und bereits einen Tag später lag das Ergebnis vor. Wie erstarrt blickte er auf den Bildschirm seines Computers. Sie wurde mit Haftbefehl wegen Mordes gesucht. Es war eindeutig ihr Bild und ihr Name. Die Beweise waren erdrückend. Nein, das konnte nicht sein — es durfte nicht sein. Sie wurde außerdem verdächtigt, in die Ermordung des Millionärs Ed McCurly und des FBI-Agenten Luke Calahan verwickelt zu sein. Er las den Text zweimal und ein drittes Mal, weil er es nicht glauben wollte. Rawanni konnte doch keine Mörderin sein! Er musste unbedingt mehr darüber erfahren, die Fahndungsdaten erzählten nicht die Geschichte, die dahintersteckte.
Aber er musste mit seinen Nachforschungen sehr vorsichtig sein, denn wenn er an den Falschen geriet oder die falschen Fragen stellte, konnte das für Rawanni schwerwiegende Folgen haben. Er bemerkte bei seinen Überlegungen, wie er ihre Partei ergriff, obwohl er nicht die Tatsachen kannte. Es war einfach aus dem Gefühl heraus — sie war unschuldig. Aber was war, wenn sie doch eine Mörderin war? Er musste dann seinem Polizeieid folgen und sie verhaften. Aber das würde er nicht über sich bringen. Er stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und rieb sich die Augen.
Dann wusste er auf einmal, was er zuerst tun musste. Es war einen Versuch wert. In ihrer Akte stand der Name Luke Calahan. Dieser FBI-Agent hatte mit Sicherheit einen Partner, der ihm vielleicht mehr erzählen konnte. Denn an die obersten Stellen wollte er sich auf keinen Fall wenden, um nicht Gefahr zu laufen, dass Rawanni aufgrund seiner Fragen entdeckt wurde. Sollte dieser Partner wütend reagieren und Rawanni verwünschen, müsste er die Befragung einstellen. Als Nächstes könnte er unter ihrer alten Wohnanschrift in Denver mit ihrem Vormund Jeff Andrews sprechen, aber eins nach dem anderen.
Er wählte die Nummer des FBI-Hauptquartiers in Washington, D. C. Seine Hände schwitzten, während er wartete. Der Dame in der Telefonzentrale sagte er, er rufe wegen der Ermordung des FBI-Agenten Calahan an und würde gerne dessen ehemaligen Partner sprechen. Sie stellte durch.
"Colby", meldete sich eine angenehme Stimme am anderen Ende.
"Guten Tag, ich bin Detective Al Lawson vom New Yorker Police Department. Spreche ich mit dem früheren Partner von Luke Calahan?"
"Ja, ich bin Ray Colby und habe bis zu seiner Ermordung mit ihm zusammengearbeitet."
"Kennen Sie eine junge Frau mit Namen Rawanni?"
Sekundenlanges Schweigen. Al hörte deutlich schweres Atmen, dann ein Räuspern. War es ein gutes oder schlechtes Zeichen? Seine Nervosität stieg.
"Ja, ich kenne sie", kam die zögernde Antwort.
"Können Sie mir Näheres über sie erzählen?" Wieder ein Zögern.
"Äh, nein. Ich weiß nur, dass sie wegen Mordes gesucht wird."
"Ja, das steht in ihrer Akte, aber ich möchte mehr über die Hintergründe erfahren. Hat sie mit der Ermordung Ihres Partners zutun?"
"Das kann ich definitiv verneinen. Sie hat ein Alibi."
"Gott sei Dank", entfuhr es Al leise, aber Ray hatte es gehört und wurde neugierig.
"Darf ich fragen, was Sie an Rawanni interessiert? Sie sind doch aus New York, wenn ich richtig verstanden habe."
"Ja, das stimmt." Wie sollte er die Antwort bloß formulieren? "Nun … sagen wir mal, es ist eher ein inoffizielles Interesse."
Ray horchte auf. "Dann kennen Sie Rawanni persönlich?"
"Ja." Al wischte seine schweißnasse Hand an der Hose ab. Er hörte seinen eigenen Pulsschlag im Ohr. Colby schwieg wieder, er schien zu überlegen. Was nun?
"Kann ich Sie treffen?", schlug Colby auf einmal vor. "Ich möchte nicht am Telefon darüber sprechen."
"Ja, gerne. Wo?" Al machte innerlich einen Freudensprung.
"Ich komme morgen nach New York. Bleiben Sie im Department, ich werde gegen Mittag bei Ihnen sein."
"Sehr gut. Ich hätte noch eine Bitte: Erwähnen Sie nicht, dass Sie vom FBI sind."
"Okay." Das hatte Ray sowieso nicht vor.
***
Ray brauchte mit seinem Wagen für die 230 Meilen bis New York fast vier Stunden; er wollte nicht den Flieger nehmen. Es war besser, wenn niemand seinen Zielort kannte.
Nervös stand er vor Al Lawson und reichte ihm die Hand.
"Danke", sagte Al, "dass Sie sich die Zeit genommen haben. Kommen Sie, ich lade Sie zum Essen ein, dabei können wir ungestörter reden." Er musterte sein Gegenüber genauso wie es Ray tat.
Al warf sich das Jackett über und ging mit Ray in ein Schnellrestaurant in der Nähe.
"Wie gut kennen Sie Rawanni?" Al tastete sich vorsichtig vor und bemerkte, wie Ray Colby versuchte ihn ebenfalls einzuschätzen. Wie viel konnte er ihm sagen?
Diese Frage stellten sich beide.
"Sehr gut", sagte Ray schließlich, denn Al machte auf ihn einen ehrlichen und auch sympathischen Eindruck. Trotzdem war er noch misstrauisch. "Aber bevor ich Ihnen mehr erzähle, möchte ich wissen, wie Sie zu Rawanni stehen."
Al lächelte verhalten. "Ja, ich verstehe." Er holte tief Luft. "Ich denke, ich kann Ihnen vertrauen, denn ich möchte Rawanni nicht schaden."
Ray entspannte sich. "Ja, ich auch nicht."
"Gut, sehr gut." Al atmete erleichtert aus. "Ich ermittle nicht gegen Rawanni, es ist eine private Sache." Er sah Colby mit offenem Blick an. "Ich glaube, ich habe mich in sie verliebt."
Rays Gesicht erhellte sich schlagartig und er lächelte ebenfalls erleichtert. "Wenn das so ist, dann werde ich Ihnen ihre Geschichte erzählen. Es ist eine traurige Geschichte."
Und Ray erzählte, während Al gebannt an seinen Lippen hing. Der grausame Tod ihres Mannes ergriff Al zutiefst.
"Ich bin nur froh", endete Ray, "dass es Rawanni gut geht. Wir hatten uns große Sorgen gemacht, als ihr Wagen noch vor dem Krankenhaus stand und es von ihr keine Spur gab. Ich hatte ihr geraten Denver zu verlassen und ins Reservat zurückzukehren, aber sie wollte sich vorher noch von Andrews verabschieden, doch dort ist sie nie angekommen. Aber wenn sie hier in New York ist, kann das nur bedeuten, dass Abbe Collins sie hierher gebracht hat."
"Dann müsste Collins noch in der Stadt sein?"
"Wahrscheinlich ja. Er verschwand aus Denver, nachdem wir ihm auf die Spur gekommen waren. Er hofft sicherlich hier genügend Abnehmer für seine Drogen zu finden."
Al seufzte nachdenklich. "Rawanni sitzt verdammt tief in der Klemme."
"Das kann man wohl sagen. Sie wissen, wo sie sich aufhält?"
"Ja, in den letzten Wochen hat sie auf der Straße gelebt und dort neue Freunde kennengelernt. Seit einigen Tagen ist sie bei mir. Sie wirkt so scheu und verletzlich, redet nicht über sich … Sie hat sich vollkommen hinter einer Mauer abgeschottet, jetzt verstehe ich auch warum."
"Rawanni ist eine sehr starke Frau", sagte Ray. "Sie muss wahrscheinlich erst mit dem Verlust ihres Mannes fertig werden."
"Ich werde versuchen ihr dabei zu helfen, wenn sie mich lässt."
"Ja, Al, Sie sind vielleicht der richtige Mann an ihrer Seite, denn sie braucht jetzt dringend jemanden, der sie aus diesem Tief herausholt. Es wird ein schwieriger Weg werden. Aber machen Sie sich keine großen Hoffnungen, dass sie sich Ihnen körperlich zuwenden wird, denn die Liebe zwischen ihr und Luke war sehr stark und intensiv. Als sie sich kennenlernten, hat bei beiden der sprichwörtliche Blitz eingeschlagen, aber ihre Ehe hat von Anfang an unter keinem günstigen Stern gestanden. Sie waren gerade zwei Monate zusammen, als sie so abrupt auseinandergerissen wurden." Ray senkte nachdenklich den Blick. "Eine Sache bereitet mir noch große Sorgen."
"Welche?"
"Rawanni war fest entschlossen Lukes Mörder zu fassen."
"Sie glauben, sie könnte Collins vielleicht töten?"
"Nein, sie würde niemals zu einer Mörderin werden, aber sie könnte sich in große Gefahr begeben. Collins würde nicht davor zurückschrecken sie zu erledigen. Es wundert mich, dass sie noch nichts unternommen hat, aber sie kann sich aus verständlichen Gründen nicht an die Polizei wenden. Möglicherweise ist auch der Schmerz noch zu groß … ihr fehlt vielleicht einfach die Energie."
"Dann weiß sie sicher, wo Collins ist", überlegte Al.
"Ja, das wäre durchaus möglich. Al … ich würde sie gerne sehen. Vielleicht sagt sie es mir."
"Das wäre keine gute Idee, Ray, denn sie soll noch nicht wissen, dass ich ihr Geheimnis kenne. Wenn sie erfährt, dass ich sie überprüft habe, wird möglicherweise ihr bisschen Vertrauen zu mir zerstört. Ich möchte sie dazu bringen mir alles von sich aus zu erzählen. Nur so wird es für uns beide vielleicht eine Zukunft geben."
"Ja, Sie haben recht. Gewinnen Sie ihr Vertrauen, dann wird sie Ihnen sagen, wo er ist. Rufen Sie mich an, falls Sie es erfahren sollten. Wenn wir ihn endlich verhaften könnten, gäbe es vielleicht eine Chance, Rawannis Unschuld zu beweisen. Hier ist meine Nummer." Ray gab ihm seine Visitenkarte. "Außerdem würde ich gerne wissen, wie es ihr geht."
"Ja, wir bleiben in Kontakt. Danke, Ray, dass Sie so offen zu mir waren."
"Ich danke Ihnen, Al. Ich weiß jetzt, dass Rawanni bei Ihnen in guten Händen ist."
Die beiden Männer verabschiedeten sich und Ray fuhr erleichtert zurück nach Washington.
Al ging ins Department. Da nichts Dringendes vorlag, machte er pünktlich Feierabend, um schnell wieder bei Rawanni zu sein, denn er freute sich jedes Mal unbändig, wenn er sie sah.
Das Wetter blieb ungemütlich. Immer wieder schneite es, daher verbrachte Rawanni die nächsten Tage weiterhin in Als Wohnung und abends in seiner netten Gesellschaft.
Al fiel es schwer nicht über ihre Probleme reden zu können, aber er hielt es im Hinblick auf eine mögliche gemeinsame Zukunft für besser, wenn sie den Anfang machte. Manchmal glaubte er, sie taute etwas auf, dann aber wirkte sie wieder verschlossen und in sich gekehrt. Ihr Geheimnis gab sie nicht preis.
In der Nacht vor Weihnachten wurde Al durch einen Schrei aus dem Schlaf gerissen. Er rannte hinüber ins Gästezimmer — Rawanni wälzte sich unruhig im Bett hin und her. Dann ein erneuter Schrei: Sie saß kerzengerade mit vor Schreck geweiteten Augen im Bett.
Er schaltete die Nachttischlampe an und nahm sie behutsam in die Arme. "Ganz ruhig", sagte er und streichelte über ihren nassen Rücken. Sie zitterte und atmete heftig. "Es war nur ein böser Traum."
Sie fing an zu schluchzen, während der Kopf an seiner Schulter ruhte. Nur langsam beruhigte sie sich.
"Geht es wieder?"
Sie nickte und legte sich zurück aufs Kissen. Er blieb noch sitzen und strich über ihre Haare.
"Ich weiß nicht, wie lange ich es noch ertragen kann", murmelte sie mit schwacher Stimme und erneute Tränen liefen über ihre Wangen.
Er ging auf die Bemerkung nicht ein, es war nicht der richtige Zeitpunkt zum Reden. "Soll ich hier bleiben?", fragte er. "Nur zum Anlehnen", fügte er schnell hinzu. Sie nickte. "Du solltest dir vorher aber ein frisches Hemd anziehen, dieses ist vollkommen nass. Ich werde inzwischen die Bettwäsche wechseln."
Sie ging ins Bad und wusch sich kurz, während Al sich um das Bett kümmerte. Er war einfach rührend. Wieder im Bett, rückte sie ein Stück zur Seite, sodass er sich neben sie legen konnte. In diesem Augenblick brauchte sie einen Menschen in ihrer Nähe, sie wollte nicht allein sein. Es war ihr egal, dass sie Al noch nicht lange kannte und er sich etwas anderes erhoffte. Doch er zeigte viel Verständnis, deshalb legte sie den Kopf an seine muskulöse, nackte Brust, während sein Arm sie fürsorglich umschloss. Bald war sie eingeschlafen.
Ihr Schmerz unterdrückte sein sexuelles Verlangen. Er litt mit ihr. Gerne hätte er ihr geholfen, aber den Schmerz über den Verlust ihres Mannes konnte er ihr auch nicht nehmen. Vielleicht genügte es im Augenblick, dass er da war und sie sich an ihn lehnen konnte. Es bedurfte keiner Worte. Schließlich schlief auch er ein.
Am Morgen erwachte er vor ihr, bewegte sich aber nicht, um sie nicht zu wecken. Draußen war es trübe und grau. Er hörte den Wind pfeifen, ein angekündigter Blizzard tobte durch die Straßen und würde sicherlich wieder den Verkehr lahmlegen.
Er betrachtete ihre Gesichtszüge; diese scharf geschnittene Nase, die markanten Wangenknochen und diesen sinnlichen Mund, den er so gerne … Er seufzte lautlos.
Sie bewegte sich. Ihre Augen waren noch geschlossen, während ihr Arm sich mit traumwandlerischer Sicherheit um seine Brust schlang und ihre Hand an seiner Taille entlang streichelte. Auf ihrem Gesicht lag ein zufriedenes Lächeln und mit einem wohligen Schnurren kuschelte sie sich noch näher an ihn. Plötzlich stockte sie, das Lächeln verschwand und sie riss erschrocken die Augen auf.
"Äh, entschuldige", stammelte sie verlegen und ging hastig auf Abstand. "Ich dachte … " Sie brach ab und fuhr sich verwirrt durch die Haare.
"Hey, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich habe es dir schließlich angeboten und zum Anlehnen bin ich sehr gut geeignet." Er lächelte so unschuldig, dass sie ebenfalls lächeln musste.
Ihm war klar, dass sie im ersten Moment geglaubt hatte, er wäre Luke gewesen. Aber ein paar Sekunden hatte er sie völlig entspannt erlebt und wünschte sich sehnlichst, ihre streichelnde Hand hätte ihm gegolten und weitergemacht.
"Ich sollte besser gehen", sagte sie voller Unruhe.
"Nein, das erlaube ich nicht. Sieh mal nach draußen, es schneit und stürmt. Du möchtest doch sicherlich nicht jetzt auf der Straße leben. Außerdem ist heute Weihnachten."
"Weihnachten?" Sie atmete hörbar aus und sank zurück aufs Kissen.
"Und ich brauche in den nächsten Tagen nicht zur Arbeit. Falls wir nicht inzwischen vollständig eingeschneit werden, könnten wir heute Mittag essen gehen."
Sie drehte ihren Kopf zu ihm, ihre Miene war ernst. "Warum tust du das alles für mich?"
Er stützte sich auf seine Unterarme und blickte sie mit einem spitzbübischen Lächeln an. "Ich habe eben eine Schwäche für Streunerinnen. Also, mach dir bitte keine Gedanken. Komm, lass uns frühstücken. Du kannst zuerst ins Bad."
"Nein, geh du zuerst."
Während Al im Badezimmer war, sah Rawanni nachdenklich aus dem Wohnzimmerfenster. Dicke Schneeflocken jagten fast waagerecht zwischen den Häusern hindurch und türmten sich auf den Straßen schnell höher. Die Wolkenkratzer, die nicht weit entfernt lagen, verschwanden vollends im Schneegestöber.
Plötzlich stand Al hinter ihr. Sie hatte ihn nicht kommen hören, weil im Radio gerade die neuesten Unwetterwarnungen und Verkehrsberichte durchgegeben wurden.
"Ich glaube, wir werden heute ans Haus gefesselt bleiben." Er blickte über ihre Schulter nach draußen, während er die Hände auf ihre Oberarme legte, ohne sie zu streicheln, was er gerne getan hätte. Der Anblick in ihrem Slip und dem knappen Unterhemd war kaum zu ertragen. Die schlanke Taille, die überging in die sanften Rundungen der Hüfte, ihre langen wohlgeformten Beine … selbst ihre nackten Füße wirkten ausgesprochen sexy. — Und jetzt drehte sie sich auch noch um. Sekundenlang sahen sie sich an, eine knisternde Spannung lag in der Luft. Sein Mund wurde immer trockener, er schluckte verkrampft. Weil er nicht wusste, wo er mit seinen Händen hin sollte, schob er sie in die Gesäßtaschen seiner Jeans.
Sie schlug die Augen nieder. "Ich gehe jetzt ins Bad."
"Ich mache inzwischen Frühstück." Die Worte gingen ihm schwerfällig über die Zunge. Er sah ihr nach und seufzte.
Sie ließ sich das warme Wasser über den Körper laufen, während ihr viele Gedanken durch den Kopf schwirrten. Al war ihr sehr sympathisch und sie spürte, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, aber auf eine Art und Weise, die sie nicht zulassen wollte und konnte. Seine Nähe, die ihr sehr gut tat, wurde ihr langsam doch zu nah. Sie konnte ihm niemals Liebe entgegenbringen und je länger sie blieb, umso schmerzlicher würde es für ihn werden. Sie musste ihn so schnell wie möglich verlassen.
***
Es wurde ein recht gemütliches Weihnachtsfest. Al hatte zwar keinen Baum besorgt, aber ein paar Tannenzweige aufgehangen. Das Fernsehprogramm über die Feiertage war ganz erträglich und so hatten sie einfach eine Woche lang gefaulenzt. Dabei hatte Rawanni so sehr darauf geachtet, dass es keinen Körperkontakt gab, dass er von sich aus zurückhaltender wurde. Er spürte, dass er zu forsch vorgegangen war.
Im neuen Jahr nahm Al dann seine Arbeit wieder auf. Als er am Abend nach Hause kam, war Rawanni nicht mehr da. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel: Lieber Al, es tut mir leid, aber es ist besser so. Vielen Dank für alles. Niedergeschlagen stützte er den Kopf auf. Sie war weg.
Als er später ins Gästezimmer ging, fand er die Sachen, die er ihr gekauft hatte, fein säuberlich zusammengelegt auf dem Bett, nur einen Pullover und die Unterwäsche hatte sie behalten.
Er würde sie wiederfinden, das stand für ihn fest.