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Kapitel 3 Januar 1991

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Rawanni übernachtete diesmal nicht in Mallys Lager, denn hier würde Al als Erstes nach ihr suchen. Wohl oder übel suchte sie die Unterkünfte des Nachtasyls auf, da es draußen zu kalt war und der Schnee sich noch einen halben Meter hochtürmte, aber für die nächsten Tage hatten sie keinen Neuschnee angekündigt, auch die Temperaturen sollten steigen. Nur wenig Autos fuhren auf den Straßen, hauptsächlich Taxen und die Räumfahrzeuge, die unermüdlich unterwegs waren, um die Straßen wieder einigermaßen befahrbar zu machen. Die Quecksilbersäule war weit unter den Gefrierpunkt gefallen und Rawanni sehnte sich bereits wieder nach Als warmem Bett.

Bei dieser strengen Kälte waren alle Obdachlosenasyle belegt und sie ergatterte an diesem Abend gerade noch das letzte freie Bett. Es war eng und stickig in dem Saal, in dem 30 doppelstöckige Betten standen. Zusätzlich hatte man in jede freie Ecke dünne Matratzen gelegt. In zwei weiteren Sälen sah es nicht anders aus.

Es stank unangenehm. Der Gestank reichte von Schweiß über Alkohol bis hin zu Urin. Manche lagen betrunken auf ihren Pritschen und schliefen ihren Rausch aus, andere schnarchten oder unterhielten sich lautstark mit dem Nachbarn. Sie erinnerte sich an Charlys Worte, dass man hier besonders auf seine Sachen aufpassen musste.

Sie schlief unruhig und wurde oft wach. Jemand grapschte nach ihr und sie musste ihn unsanft von sich stoßen. Von Alkohol umnebelt blieb er auf dem Boden vor ihrer Pritsche liegen. Noch eine Nacht wollte sie hier auf keinen Fall verbringen.

Am Morgen verließ sie das Asyl frühzeitig. Während sie durch die Straßen lief, wärmte sie sich immer wieder in den Kaufhäusern auf. In Little Italy blieb sie vor einem italienischen Restaurant stehen. Es hieß Bei Manolo und sah sehr einladend aus. Sie entschloss sich spontan dort nach Arbeit zu fragen. Das hatte sie, entgegen ihrem Plan, während der Zeit bei Al vernachlässigt.

Es war zwei Uhr nachmittags und der Haupteingang war noch verschlossen, auch beim Hintereingang rührte sich nichts. An einer zweiten Hintertür schimmerte Licht durch ein milchiges Fenster. Diesmal musste sie es besser machen und mehr auf ihr Aussehen setzen. Sie wickelte den Schal von ihrem Kopf und breitete ihr Haar über Schultern und Brust aus. Von ihrem Körper sah man unter dem dicken Mantel zwar nicht viel, denn es war zu kalt um ihn auszuziehen, aber ihr Gesicht würde vielleicht für den ersten Eindruck genügen. Sie klopfte. Nichts. Sie klopfte ein zweites Mal.

Ein kleiner kahlköpfiger Mann öffnete. Über seinem runden Bauch wölbte sich eine weiße Schürze. Seine Augen wirkten lustig. Hinter ihm blickte sie in die Küche, in der bereits Vorbereitungen für die Abendmenüs getroffen wurden. Weiteres Personal hantierte emsig an den Kochtöpfen.

"Ja, bitte?", fragte er. Sein Ton war weder verärgert noch abweisend.

Rawanni setzte ihr schönstes Lächeln auf. "Guten Tag, Sir. Ich bin auf der Suche nach Arbeit. Ich mache alles, was anfällt." Sie sah ihn erwartungsvoll an.

"Hm", machte er nur und ließ seinen Blick abwägend über sie hinweggleiten. "Vielleicht haben wir was", murmelte er. "Komm mit, der Boss ist in seinem Arbeitszimmer."

Er schlurfte voran und führte sie über eine Hintertreppe hinauf ins erste Stockwerk. Dort klopfte er an eine Tür, auf der ein Messingschild mit der Aufschrift BÜRO angebracht war. Nach einem "Herein!" öffnete er.

"Hallo, Luca, was gibt's?", fragte eine sonore Stimme. Sie konnte den Mann noch nicht sehen.

"Äh, Boss … hier ist 'ne junge Dame, die 'nen Job sucht."

"Na, dann bitte sie herein."

Luca trat beiseite und ließ sie eintreten. Dann schloss er die Tür von außen und ging wieder zurück an seine Arbeit.

"Guten Tag", begrüßte Rawanni den Mann hinter dem Schreibtisch etwas unsicher.

Er mochte um die 40 sein, hatte dunkle Augen, über denen sich buschige Brauen wölbten, die genauso schwarz waren wie seine Haare, die er sehr kurz und glatt trug. Das Jackett hing über der Rückenlehne und die Ärmel des Hemdes hatte er aufgekrempelt.

"Schönen guten Tag", erwiderte er ihren Gruß und ein Lächeln breitete sich um seinen Mund aus. Ihm gefiel, was er sah. "Ich heiße Manolo Bolzoni und bin der Eigentümer dieses Lokals. Du suchst Arbeit?"

"Ja, ich heiße Rawanni. Ich habe allerdings nichts gelernt. Vielleicht kann ich Geschirr spülen, Gemüse putzen oder anderes, was in der Küche anfällt."

Manolo Bolzoni lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte sie von oben bis unten. Sie fühlte sich bei seinem Blick sehr unbehaglich. Natürlich sah er ihr die Armut an und woher sie kam.

"Du lebst auf der Straße?", fragte er auch gleich.

"Ja, seit einigen Monaten, aber das will ich ändern."

Er registrierte ihren entschlossenen Blick und Tonfall. "Hast du schon einmal serviert?"

"Nein."

"Zieh bitte mal deinen Mantel aus."

Sie tat es. Glücklicherweise trug sie den Pullover, den Al ihr gekauft hatte, und sah damit recht manierlich aus. Sein Gesichtsausdruck bestätigte dies auch gleich, als seine Augen sie unter die Lupe nahmen. Mehrmals ließ er nur ein "Mhm" vernehmen, was offensichtlich bedeutete, dass er zufrieden war.

"Wie alt bist du?"

"Siebzehn."

"Dann brauche ich die Unterschrift deiner Eltern."

"Meine Eltern leben nicht mehr. Geht es auch ohne?"

Manolo zeigte ein breites Grinsen und stützte seine Arme auf die Armlehnen, während er seine Finger gegeneinanderdrückte. "Hast du eine Sozialversicherungsnummer?"

"Nein."

"Würdest du auch schwarzarbeiten?"

"Ja", antwortete sie sofort, denn dies war ihr nur mehr als recht. Auch wenn der Geschäftsinhaber sicherlich dadurch seine Vorteile haben würde und Steuern und Sozialabgaben einsparte, so wurde sie wenigstens nirgendwo registriert.

"Ich würde dich gerne als Bedienung einsetzen, weil du über ein ansprechendes Äußeres verfügst. Unsere Gäste sind sehr anspruchsvoll und essen auch mit den Augen, wenn du verstehst was ich meine."

"Na, ich hoffe, ihre Gäste verspeisen mich dann nicht zum Nachtisch."

Manolo Bolzoni lachte. "Du bist schlagfertig, das gefällt mir. Es fehlt nur noch die richtige Kleidung. Okay, versuchen wir's."

Er stand auf und reichte ihr die Hand. "Ich zahle dir zunächst drei Dollar die Stunde, das kannst du durch Trinkgeld erheblich aufbessern. Die Arbeitszeit ist von fünf Uhr nachmittags bis fünf Uhr früh, sechs Tage die Woche. Zwei Stunden Pause kannst du über den Tag verteilen. Stimm dich mit den anderen ab. Einen Tag erhältst du frei, aber nicht am Wochenende, da ist hier Hochbetrieb. Brauchst du eine Unterkunft?"

"Ja."

"Gut, du kannst hier in einem der Zimmer wohnen. Es ist nicht groß, aber zum Schlafen reicht es allemal. Dann zahle ich dir nur zwei Dollar, Kost und Logis sind frei. Bist du einverstanden?"

Es war mehr als sie erwartet hatte. Sollte sich der Job allerdings als anrüchig herausstellen, wäre sie sofort wieder weg. Seine Andeutungen ließen diesbezüglich alles Mögliche vermuten, doch sie wollte erst einmal abwarten. "Ja, vielen Dank. Ich habe allerdings keine Ahnung wie man serviert."

"Das lernst du schnell", antwortete Bolzoni, denn sie machte auf ihn einen aufgeweckten Eindruck. Und so wie sie aussah … wenn sie bediente, würden die Gäste sicherlich mehr bestellen und auch öfters wiederkommen, zumindest hoffte er das. "Marcy wird dich anlernen, und wenn am Anfang etwas schiefgeht, werden die Gäste sicherlich wohlwollend darüber hinwegsehen. Du machst das mit deinem Charme und Aussehen alles wieder wett. Wann kannst du anfangen?"

"Sofort."

"Gut, dann zeige ich dir jetzt dein Zimmer."

Bolzoni ging noch eine Treppe höher. Das Zimmer war klein, aber sauber. Ein Bett, ein Kleiderschrank und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen genügten ihren Ansprüchen voll und ganz. Vom Fenster aus konnte sie auf den Innenhof hinaussehen — ein wenig schöner Anblick, aber sie würde sowieso die meiste Zeit arbeiten und die restliche Zeit schlafen.

Bolzoni zeigte ihr noch die anderen Räumlichkeiten des Gebäudes, darunter einige Zimmer, in denen sich die Gäste ungestört zurückziehen konnten, zu welchem Zweck auch immer. In jedem Zimmer stand ein breites Bett. Außerdem gab es Räume, in denen sich jeweils ein runder Spieltisch befand. Sie vermutete, dass die Gäste hier dem illegalen Glücksspiel frönen konnten.

Im Hauptsaal des Restaurants gab es 50 Tische, teils von Pflanzen und Trennwänden flankiert. Im Keller befand sich zusätzlich eine Bar, die zum gemütlichen Beisammensitzen am späteren Abend einlud. An den Wochenenden spielte eine Band mit einer attraktiven Sängerin, die Gäste konnten dazu tanzen.

Schließlich führte er sie noch in die Küche, in der betriebsame Hektik herrschte. Luca, der Chefkoch schien sehr darüber erfreut, dass Rawanni eingestellt worden war. Er reichte ihr herzlich die Hand.

Nach Ende des Rundgangs ging Bolzoni mit ihr hinauf ins oberste Stockwerk zur Wäschekammer, in der in einem Schrank eine Reihe schwarzer Kleider hingen. Er erklärte ihr, dass alle weiblichen Kräfte diese Kleidung trugen, und griff zielstrebig eines heraus.

"Hier, das müsste dir eigentlich passen und diese Schuhe auch. Probier es an und dann komm noch mal in mein Büro." Er ging wieder auf den Flur. "Dort sind die Waschräume, falls du vorher duschen willst." Bolzoni ließ sie allein.

Bevor sie sich umzog, nutzte Rawanni die Möglichkeit zum Duschen. Wenig später stand sie vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer und blickte auf die fremde Gestalt in dem eng anliegenden und äußerst kurzen Kleid. Sie erkannte sich kaum wieder, denn sie wirkte gleich ein paar Jahre älter. Der Ausschnitt, der mit einem weißen Rand abgesetzt war, wie auch die Ärmelränder, war viel zu tief und zeigte deutlich ihre Brustansätze. Wenn sie sich beim Servieren über den Tisch beugen musste, würde jeder tiefe Einblicke nehmen können, was natürlich beabsichtigt war. Jetzt verstand sie auch, was Bolzoni gemeint hatte, als er sagte, die Gäste würden auch mit den Augen essen.

Sie zog das Kleid, das eine Handbreit unterm Po endete herunter, aber das hatte nur den Effekt, dass der Ausschnitt tiefer rutschte. Sie fluchte und schlüpfte in die Schuhe mit den hohen Absätzen, die nicht gerade zum Laufen geeignet waren, dafür aber umso mehr ihre langen Beine zur Geltung brachten. Noch ein Fluch kam über ihre Lippen. Verdammt, ihr Anblick würde jeden Mann anheizen, das war ihr klar und sie fühlte sich in dieser Aufmachung nicht wohl, aber sie musste wohl oder übel in den sauren Apfel beißen, wenn sie endlich Geld verdienen wollte. Zum Schluss band sie sich noch die weiße Servierschürze um.

Bolzoni stieß einen Pfiff aus, als sie sich bei ihm vorstellte. "Donnerwetter", sagte er bewundernd und drehte sie einmal im Kreis, um sie von allen Seiten zu begutachten. "Die Gäste werden von dir begeistert sein." Seine Hände fuhren durch ihre Haare. "Trag sie am besten offen. Wenn sie zu sehr im Gesicht hängen, kannst du sie mit Spangen an den Seiten zurückhalten. Sehr gut." Er blieb dicht vor ihr stehen und betrachtete ihr Gesicht. "Make-up brauchst du nicht, höchstens ein bisschen Wimperntusche, du bist schön genug, und zwar außerordentlich schön." Er lächelte und sie zwang sich ebenfalls zu einem Lächeln, was eher verkrampft wirkte, denn sie fühlte sich mehr als unbehaglich und wäre am liebsten geflüchtet.

"Mr Bolzoni", sagte sie.

"Nenn mich bitte Manolo."

"Okay, Manolo, eines möchte ich vorher jedoch noch klarstellen." In ihren Augen zeigte sich ein Funkeln und ihre bisher zurückhaltende Stimme wurde schärfer. "Sollten die Gäste zudringlich werden, dann gibt es mächtig Ärger und das gilt auch für Sie." Sie tippte ihm mit dem Finger vor die Brust.

"Wow!" Er trat glatt einen Schritt zurück und hob abwehrend die Hände. "Keine Sorge, meine Schöne, niemand zwingt dich dazu, mit den Gästen ins Bett zu gehen. Du sollst nur nett und höflich zu ihnen sein."

"Gut, dann ist ja alles geklärt." Ihr Ton klang wieder weicher.

Manolo grinste nur und öffnete eine Schublade seines Schreibtisches. "Hier hast du einen Vorschuss." Er reichte ihr hundert Dollar.

"Danke."

"Warte bitte auf deinem Zimmer. Ich schicke dir nachher Marcy hinauf. Sie kann dir alles Weitere erklären."

Er blickte ihr nach. Mann, die hatte ganz schön Pfeffer im Hintern. Sie würde auf alle Fälle eine enorme Bereicherung für sein Geschäft sein.

Eine Stunde vor Öffnung des Restaurants kam eine hübsche junge Frau zu Rawanni ins Zimmer. "Hi, ich bin Marcy."

Rawanni stellte sich ebenfalls vor und reichte ihr die Hand. Marcy trug bereits die gleiche Kleidung wie sie selbst. Ihr langes blondes Haar wellte sich in Locken über ihre Schultern. Sie war 22 und sehr attraktiv. Die passende Kraft für dieses Restaurant, dachte Rawanni.

"Manolo hat mir gesagt, ich soll dich einweisen."

"Ja, allerdings habe ich keine Ahnung, wie man serviert."

"Ach, das lernst du schnell, aber du solltest gut zu Fuß sein. Nach zehn Stunden wirst du sie ganz schön spüren."

Rawanni lachte. "Ja, das glaube ich gern … bei diesen Schuhen." Sie blickte zu ihren Füßen hinunter.

Marcy lachte ebenfalls. "Ja, aber Manolo besteht auf diese Schuhe. Es sieht besser aus und die Gäste … "

"Ja, ja, ich weiß", unterbrach Rawanni sie, "die Gäste essen auch mit den Augen."

"Genau", kicherte Marcy. "Du hast die wichtigste Lektion bereits gelernt."

"Arbeitest du schon lange hier?"

"Etwa zwei Jahre."

"Und gefällt es dir hier?"

"Ja, du kannst hier gutes Geld verdienen. Wenn du den Gästen 'nen paar schöne Augen machst, mit dem Hintern und den Titten wackelst, lassen sie sich beim Trinkgeld nicht lumpen." Marcy lachte bei ihrer Erklärung grell auf. "Aber mehr wird von Manolo nicht verlangt. Wenn eines der Mädchen mit einem Gast aufs Zimmer geht, ist das ihre Entscheidung. Wir haben hier viele Stammgäste, die das wissen. Also wenn dir jemand ein Angebot macht, lehne es ruhig ab."

"Na Gott sei Dank, ich hatte schon befürchtet, ich wäre in einem Bordell gelandet."

"Nun ja, sagen wir mal: Manolos Hauptgeschäft ist das Restaurant, aber er ist für ein paar Nebeneinkünfte immer zu haben. Anfangs habe ich mich auch gefragt, wozu dieses Restaurant Zimmer mit Betten zur Verfügung stellt, denn Hotels gibt es hier schließlich genug, bis ich es dann von den anderen erfahren habe. Es kann zwar jeder selbst entscheiden, mit einem Gast zu schlafen, aber wenn, dann will Manolo natürlich seine Prozente haben. Ich habe das nie gemacht, weil ich einen Freund habe. Und wer sich auf dieses Geschäft einlässt, kann von Manolo auch schon einmal darum gebeten werden, einen Gast glücklich zu machen, aber gewöhnlich bringen die Männer ihre eigenen Gespielinnen mit. Manolo legt großen Wert darauf, dass die Kellnerinnen gut aussehen, denn es wirkt sich schon positiv auf das Geschäft aus. Daher beschäftigt er hauptsächlich weibliche Kräfte. Abends kommen viele männliche Gäste, darunter auch Geschäftsleute aus anderen Städten, die ein wenig Zerstreuung suchen. Manolo bietet einmal in der Woche einen Männerabend in der Bar an, an dem Stripperinnen auftreten. Wenn Paare oder nur Frauen kommen, dann werden sie von unseren beiden Kellnern Jack und Doyle bedient."

"Ich nehme an, Jack und Doyle sehen auch gut aus", meinte Rawanni mit einem Grinsen.

"Ja", kicherte Marcy in sich hinein. "Sie sind sehr schnuckelig und haben einen Traumkörper, den sie regelmäßig im Fitnessstudio trainieren." Sie verdrehte schwärmerisch die Augen. "Aber da ich einen festen Freund habe … " Sie zuckte bedauernd die Schultern und lachte wieder. "Eines musst du allerdings noch wissen", sagte sie dann ernster. "Wenn du mal etwas von den Gesprächen der Gäste aufschnappen solltest, dann behalte es für dich."

"Wie meinst du das?"

"Nun", sagte sie und senkte ihre Stimme, "ich denke, hier verkehren ein paar Gangster, denn ich habe Kanonen unter ihren Jacken gesehen und manche Gespräche lassen es ebenfalls vermuten. Ich glaube sogar, dass in den hinteren Räumen mit Stoff gedealt wird, aber Genaues weiß ich nicht. Deshalb ist es besser, du siehst und hörst nichts."

"Verstehe." Es gefiel Rawanni gar nicht, wenn stimmte was Marcy vermutete. Sie kannte sich nur zu gut, um zu wissen, dass sie nicht einfach die Augen schließen würde, wenn sie etwas über Straftaten aufschnappte.

Marcy zeigte ihr bis zur Öffnung um fünf Uhr in einem Schnellkurs, was beim Servieren zu beachten war. Die Feinheiten erfolgten in den nächsten Tagen.

Es war nicht leicht, mehrere Teller gleichzeitig auf Arm und Hand zu balancieren und es war nicht zu verhindern, dass einiges Geschirr dabei zu Bruch ging. Marcy hatte mehr Spaß daran als sie und lachte unentwegt, während Rawanni sich abmühte.

Während der ersten Tage stand Marcy ihr hilfreich zur Seite und sie bedienten öfters auch gemeinsam. Bei dieser Gelegenheit stellte Marcy sie den Stammgästen vor. Kleine Patzer verzieh man Rawanni sofort, zumal sie sich mit einem bezaubernden Lächeln entschuldigte. Sie fühlte sich zwar nicht ganz wohl, wenn die Männer sie auf diese gewisse Weise ansahen, und es war auch nicht ihre Art mit den Männern zu kokettieren oder ihre Reize zur Schau zu stellen, aber sie stellte schnell fest, dass das Trinkgeld reichlicher floss und sie konnte ein gutes Polster zurücklegen. Trotzdem blieb sie immer zurückhaltend, im Gegensatz zu der quirligen Marcy, die frech und frivol mit den männlichen Gästen flirtete. Aber auch Rawannis Art kam an, was Manolo ihr bestätigte. Er war sehr zufrieden mit ihr und erhöhte nach einem Monat ihren Stundenlohn gleich um fünfzig Cent.

Auch mit den anderen Arbeitskollegen verstand sie sich gut. Die beiden Schönlinge Jack und Doyle hatten ein paar Annäherungsversuche unternommen, waren aber bei ihr abgeblitzt. In humorvoller Art hatte sie den beiden verständlich gemacht, dass sie bei ihr nicht landen konnten. Sie akzeptierten es mit Bedauern.

Rawanni gab sich immer freundlich und eher kumpelhaft, war hilfsbereit und übernahm auch mal die Frühschicht am Wochenende oder an ihrem freien Tag für eine ihrer Kolleginnen. Da sie sowieso nichts anderes vorhatte, machte es ihr nichts aus.

Aber sie hatte auch ihre alten Freunde nicht vergessen und besuchte sie das erste Mal zwei Wochen nach ihrem Arbeitsbeginn. Sie freuten sich alle mit ihr.

"Rawanni, du siehst gut aus", meinte Mally und umarmte sie.

"Danke, Mally. Ich bin froh endlich eine Arbeit gefunden zu haben. Sie ist zwar anstrengend und mir tun oft die Füße weh, aber sie gefällt mir. Die Gäste bezahlen mir auch reichlich Trinkgeld. Na ja, sie bezahlen weniger wegen meiner Bedienung, sondern eher wegen meines Aussehens." Rawanni blickte verschämt zu Boden.

Mally lächelte verständnisvoll. "Verstehe, aber nimm es nicht so tragisch. Wenn dein gutes Aussehen dir hilft Geld zu verdienen, dann akzeptiere es. Und wie ich dich kenne, wirst du ihnen schon auf die Finger klopfen, wenn die Männer zu aufdringlich werden sollten."

"Ja, allerdings."

"Übrigens … Männer. Es gibt da jemanden, der sehr traurig ist."

"Al?"

"Ja, er hat sich förmlich bei mir ausgeweint, nachdem du einfach verschwunden warst."

"Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil er doch so viel für mich getan hat, aber ich konnte nicht anders, Mally. Ich hatte Angst, dass er sich in mich verliebt, aber ich kann diese Empfindungen nicht erwidern."

"Aber das weiß er doch, Rawanni. Er würde sich auch mit deiner bloßen Anwesenheit begnügen."

"Ich glaube nicht, dass er das lange durchhalten würde. Al ist wirklich ein sehr netter Mann, Mally, aber er könnte für mich nur ein guter Freund sein, mehr nicht."

"Hast du ihm das gesagt?"

"Nein. Ich habe in seinen Augen gelesen, dass er niemals nur ein Freund sein will. So ist es für uns beide besser."

Mally erfasste mitfühlend ihre Hände.

"Darf ich ihm sagen, wo du arbeitest?"

"Nein, besser nicht. Richte ihm meine Grüße aus und sag ihm, es ginge mir gut, aber er soll mich vergessen."

Mally nickte und drückte sie an sich. Sie konnte sie offenbar nicht umstimmen.

Bevor Rawanni wieder ging, gab sie Mally die Hälfte ihres Lohnes. Es war das Mindeste, was sie tun konnte, um ihre Dankbarkeit zu beweisen. Außerdem durfte Mally jederzeit beim Restaurant vorbeikommen, um Essensreste mitzunehmen, das hatte Rawanni zuvor mit Luca besprochen.

Im Mai durfte Rawanni drei besondere Stammgäste bedienen, die sie schon oft gesehen hatte, die aber immer in einem der hinteren Räume saßen und von einer Kollegin bedient wurden. Was an ihnen besonders war, vermochte sie allerdings noch nicht zu erkennen.

Manolo führte sie eines Abends in das Zimmer und stellte ihr die drei Männer persönlich vor. "Meine Herren", sagte er und in seiner Stimme klang Stolz mit, "darf ich Ihnen meine neue Bedienung Rawanni vorstellen?" Die Männer im Alter um die 50 nickten freundlich. "Rawanni, das ist Tonio Gastaldi, er besitzt mehrere Hotels in dieser Stadt."

Gastaldi stand sogar auf und reichte ihr mit einer leichten Verbeugung die Hand. "Guten Tag, meine Schöne, wir haben von Manolo nur Gutes von Ihnen gehört."

"Das hoffe ich doch stark, Mr Gastaldi.", entgegnete Rawanni mit einer Spur von Frechheit in ihrer Stimme. Sie wusste nicht, wie sie sich ihnen gegenüber verhalten sollte. Aber mit einem Lächeln konnte sie nichts verkehrt machen.

"Und das ist Roberto Trifone, von Beruf Anwalt für Strafrecht, er paukt jeden raus."

Auch Trifone stand auf und reichte ihr galant die Hand. "Ich hoffe, dass Sie meine Dienste nie in Anspruch nehmen müssen."

"Oh, dessen bin ich gewiss, Mr Trifone."

Die Männer lachten und sie hatte schon alle Sympathien auf ihrer Seite.

"Und Mr Giovanni Scallini ist unser Lieferant für einen äußerst exzellenten Wein, den er in seinem Heimatland Sizilien anbaut. Er besitzt dort außerdem noch große Oliven- und Zitronenplantagen."

Giovanni Scallini ergriff ihre Hand und ehe sie sich versah, hauchte er ihr einen flüchtigen Kuss auf den Handrücken. "Es freut mich, eine so entzückende junge Dame kennenzulernen."

Der intensive Blick seiner dunklen Augen ruhte länger als nötig auf ihr und verwirrte sie einen Augenblick. Eine passende Entgegnung fiel ihr so schnell nicht ein. Ihr verblüffter Blick entlockte ihm ein mildes Lächeln. Sie ahnte sofort, dass dieser Gast gerne die Räume mit einem Bett aufsuchen würde, und zwar mit ihr. Sie konnte es deutlich in seinen Augen lesen. Die ersten grauen Strähnen durchzogen sein volles dichtes Haar, das ansonsten noch tiefschwarz war und ihm einen eleganten Charme verlieh. Sein Gesicht war attraktiv und sehr markant geschnitten. Sie spürte seine anziehende Ausstrahlung, eine männliche und charismatische Wirkung, die er sicherlich nicht nur auf Frauen ausübte. Doch dieser Mann strahlte auch etwas Bedrohliches aus. Sie wusste nicht warum, aber ihr Gefühl sagte ihr, vorsichtig zu sein.

Irritiert entzog sie ihm ihre Hand. "Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?"

"Ja, bitte … ", antwortete Scallini und bestellte für sie alle zusammen einen seiner eigenen Weine.

Zusammen mit Manolo verließ sie den Raum. An der Theke nahm er sie beiseite. "Du hast gemerkt", sagte er mit gedämpfter Stimme, "dass das besondere Gäste sind, die sehr zuvorkommend bedient werden wollen. Es ist für dich eine Ehre das zu übernehmen, deshalb verlange ich von dir äußerste Diskretion, solltest du mal etwas von ihren Gesprächen aufschnappen."

Ihr fielen gleich Marcys Worte ein, besser nichts zu hören und zu sehen. "Ja, ich verstehe und schweige. Sie werden ja wohl nicht gerade über einen Mord sprechen." Sie lachte über ihren Scherz, ebenso Manolo, und doch hatte sie sein kurzes, nur einen Sekundenbruchteil lang dauerndes Zögern bemerkt. Sie erinnerte sich an Marcys Vermutung über vermeintliche Gangster. Ach Unsinn, diese netten drei Herren waren doch keine Gangster. Na ja, es konnte nicht schaden Augen und Ohren offen zu halten. Auf jeden Fall mussten diese Herren sehr reich sein, was sie daher als besondere Gäste auszeichnete.

In den nächsten Wochen kamen die drei Herren oft ins Lokal, sogar öfters als früher, wie Manolo mit einem Augenzwinkern erzählte. Es war eindeutig Rawannis Verdienst. Die drei bestanden darauf nur von ihr bedient zu werden.

Manchmal saßen sie zusammen im großen Speisesaal mit anderen Geschäftsleuten oder sie verbrachten den Abend in der Bar. Hin und wieder kamen sie in Begleitung von hübschen jungen Frauen. Trifone und Gastaldi oder auch ihre Gäste verschwanden dann jeweils für kurze Zeit mit den Damen in den oberen Zimmern, in denen sich die Betten befanden. Marcy erzählte ihr, dass diese Damen für einen Escortservice arbeiteten und sich um die besonderen Wünsche der Männer kümmerten. Nur Scallini bediente sich nicht dieser Damen. Seine interessierten Blicke galten allein Rawanni. Sie bemerkte sie jedes Mal, wenn sie an seinem Tisch bediente, aber ignorierte es, und er verhielt sich auch niemals aufdringlich. Es waren nur seine Blicke die anders waren, als die von Gastaldi und Trifone, Blicke, in denen eindeutig sexuelles Interesse zu lesen war.

Was ihre Gespräche betraf, redeten sie nur über gewöhnliche Themen, wie ihre Geschäfte oder von ihren Familien, nichts Ausfälliges also. Und immer wieder steckten sie ihr hohe Trinkgelder zu, was ihr unangenehm war, aber eine Ablehnung duldeten sie nicht. Marcy bestärkte sie nur darin nicht abzulehnen. Wenn die Gäste schon freiwillig dafür bezahlten, weil man ein schönes Gesicht hatte, dann sollte man auch nicht darauf verzichten. Marcy empfand in dieser Hinsicht weniger Skrupel als sie selbst.

Eines Abends brachten die drei einen neuen Gast mit.

"Das ist der Kongressabgeordnete Salvatore Mascetto", flüsterte Manolo ihr zu, bevor sie das Hinterzimmer betrat, um die Bestellung aufzunehmen.

Sie wunderte sich, dass ein hoher Politiker hier verkehrte. Während des Abends brachte sie immer wieder Getränke. Zu vorgerückter Stunde geleitete Manolo eine üppige Blondine ins Zimmer. Als sie ihren Pelzmantel ablegte, kam nur noch sehr wenig Stoff zum Vorschein. Aufreizend setzte sie sich gleich auf den Schoß des Politikers und begann ihn zu küssen. Wenig später verschwand er, nicht mehr ganz nüchtern, mit ihr und zwei Flaschen Champagner in einem Separee im ersten Stock.

Rawanni machte sich so ihre Gedanken darüber. Sollte der Politiker etwa beeinflusst werden? Die Blondine hatten sicherlich die drei bezahlt. Während sie die Gläser und Flaschen abräumte, unterhielten sie sich angeregt, achteten aber nicht weiter auf sie.

Scallini lehnte sich nachdenklich zurück und spielte mit seinem Glas. "Wir sollten das Geschäft mit ihm nicht machen. Er ist arrogant und überheblich, denkt dabei nur an seinen eigenen Vorteil."

"Aber es bringt uns ein hübsches Sümmchen ein", meinte Trifone.

"Unsinn", ereiferte sich Gastaldi, "ich bin Giovannis Meinung. Er wird dabei den größten Reibach machen. Wir sollten erst mit dem Don darüber sprechen."

Rawanni war bereits an der Tür, als sie die letzten Worte noch hörte und es ihr dabei eiskalt den Rücken herunterlief. Das Tablett hätte sie beinahe fallen gelassen. Der Don, ein Titel, der üblicherweise für den Boss einer Mafiafamilie gebräuchlich war. Jeff hatte ihr über die Mafia erzählt und sie wusste, dass die fünf Stadtteile von New York unter fünf Mafiafamilien aufgeteilt worden waren, ausnahmslos unter Familien, die alle ihre Wurzeln in Italien hatten. Scallini hatte ein Weingut in Sizilien und auch Gastaldi und Trifone trugen italienische Namen. Sie wagte diesen Gedanken gar nicht weiterzudenken. Aber genauso gut konnte es die Abkürzung von Donald sein, wie bei Don Faro. Sie musste innerlich lachen, da war wohl ihre Fantasie mit ihr durchgegangen. Trotzdem, welche Geschäfte sollten sie mit einem Kongressabgeordneten machen, die für diesen von Vorteil sein sollten? Um eine Weinlieferung würde es sich sicherlich nicht handeln.

Inzwischen war es Sommer und sie hatte keine weiteren Gespräche, die in diese Richtung wiesen, von den dreien mitbekommen. So glaubte sie schließlich, sich doch nur verhört zu haben. Stattdessen hatte sich Giovanni Scallini dazu entschlossen, es nicht mehr bei Blicken zu belassen und kam eines Mittags sehr früh ins Restaurant — und zwar allein.

"Komm, setz dich zu mir", sagte er im vertraulichen Ton und klopfte neben sich auf die Bank. Er hatte sich an einen Tisch im Hauptsaal gesetzt.

"Das geht nicht, Mr Scallini, ich muss arbeiten."

"Im Augenblick sind doch noch nicht viele Gäste da. Und nenn mich bitte Giovanni."

Nach kurzem Zögern setzte sich sie sich, da sie ihn nicht verärgern wollte.

"Ich möchte dich am ersten Augustwochenende zu meiner Geburtstagsparty einladen."

Sie hatte befürchtet, dass er irgendwann einen Vorstoß dieser Art wagen würde und möglicherweise eine Affäre im Sinn hatte, obwohl er sich über zwei Monate Zeit gelassen hatte sie einzuladen. Vielleicht war es aber nur eine schlichte Einladung zu seiner Geburtstagsparty, mehr nicht. Trotzdem wollte sie diese Einladung nicht annehmen. Aber wie konnte sie ablehnen, ohne ihn zu kränken? Sollte sie ihm erzählen, dass sie am Samstag ebenfalls Geburtstag hatte und feiern wollte? Aber das wäre sicherlich für ihn kein Grund. Am Ende würde er ihr noch Geschenke machen, das sie auf keinen Fall wollte.

"Was würde denn Ihre Frau dazu sagen?", wich sie aus.

"Meine Frau ist vor einigen Jahren gestorben, deswegen hätte ich gerne eine nette Begleitung an meiner Seite." Er umschloss ihre Hand mit seiner. "Es verpflichtet dich zu nichts."

Irgendwie war es rührend, wie er sie fast flehentlich ansah. Er musste ihre Gedanken erahnen.

Als sie noch immer zögerte, schlug er schließlich vor: "Du brauchst dich jetzt nicht zu entscheiden. Sag mir nächste Woche, ob du kommen wirst."

"Gut", antwortete sie und war froh, noch etwas Aufschub für eine passende Antwort zu haben. Sie stand auf.

"Rawanni", rief er sie noch einmal zurück, "keine Sorge, ich bin ein Gentleman."

Sie nickte mit einem verhaltenen Lächeln. Diese Versicherung konnte ihre Entscheidung kaum positiv beeinflussen, denn er hegte sicherlich nicht nur die Absicht, es bei einer einmaligen Einladung zu belassen.

Trifone und Gastaldi kamen gerade herein, begrüßten sie und setzten sich zu Scallini. Zusammen mit ihnen schlenderte ein junger Bursche, nicht älter als sie selbst, durch die Tür und ließ sich lässig auf die Sitzbank fallen.

"Das ist mein Sohn Aldo", stellte Tonio Gastaldi ihn vor. "Er ist zu Besuch. Ansonsten lebt er in Chicago bei seiner Mutter."

"Guten Tag", grüßte Rawanni höflich und nahm ihren Block für die Bestellung zur Hand.

"Hey, da hat Manolo aber eine heiße Braut eingestellt", entgegnete Aldo flapsig statt eines Grußes, rutschte im Sitz tiefer und stellte die Beine aufreizend breit auseinander. "Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich schon eher gekommen." Sein Blick maß sie unverhohlen von Kopf bis Fuß, während er schmatzend auf einem Kaugummi kaute "Da juckt es mir ja mächtig in der Hose." Seine Hand langte ungeniert zwischen die Beine.

"Aldo!", mahnte jetzt sein Vater scharf. "Du wirst dich benehmen, solange du hier bist, ist das klar?"

"Okay, okay." Aldo hob nachgebend die Hände und schob sich wieder höher, aber sein Blick blieb gierig und mit einem schmierigen Grinsen auf Rawanni heften.

Sie beachtete seinen provozierenden Auftritt nicht weiter und fragte nach der Bestellung.

Wenig später brachte sie die Getränke an den Tisch. Als sie das Glas Cola vor Aldo stellte, langte seine Hand unter ihren Rock.

"Würdest du bitte deine Hand da wegnehmen", befahl sie ruhig, aber bestimmend. Sie wollte keine Szene machen und versuchte es zunächst mit Worten.

"Warum?", meinte er frech grinsend. "Die meisten Frauen haben das gerne und stöhnen dabei sogar lustvoll."

"Wenn du sie nicht augenblicklich wegnimmst", sagte sie eine Spur schärfer, "dann wirst du gleich stöhnen, aber nicht vor Lust."

"Uih!" Aldo spielte den Erschrockenen und gehorchte, aber erst, als er den zornigen Blick seines Vaters sah.

Rawanni erkannte, dass Aldo nicht der Typ war, der vor seinem Vater kuschte. Er liebte das Spiel mit dem Feuer. Es pushte ihn förmlich auf, ließ ihn immer wieder die Grenzen überschreiten, ohne Rücksicht auf Konsequenzen. Sie musste sich vor ihm in Acht nehmen.

Als sie das Essen servierte, reizte es ihn schon wieder. Offenbar hatte er während der Wartezeit überlegt, was er als Nächstes machen könnte, aber auch Rawanni hatte sich eine Strategie zurechtgelegt, um beim nächsten Mal seine plumpe Anmache nicht einfach so hinzunehmen, egal ob sein Vater danebensaß.

Den letzten Teller stellte sie vor Aldo auf den Tisch, sie spürte, dass gleich etwas passieren würde. Er hatte sich an den Rand der Bank geschoben. Sie wandte sich zum Gehen. Seine Hand schoss blitzschnell vor und erfasste ihr Handgelenk, um sie auf seinen Schoß zu ziehen, aber sie konterte genauso schnell und drehte sich aus seiner Umklammerung und bog seinen Arm über die Rückenlehne weit nach hinten, während sie ihren Unterarm gegen seine Kehle drückte. Ihr Knie stieß kräftig gegen seine empfindlichste Stelle und blieb dort mit Druck liegen. Er stöhnte vor Schmerzen auf.

"Du verstehst wohl nur eine Sprache", zischte sie ihn an und sah im selben Moment drei muskelbepackte Hünen auf sich zustürmen. Ihre Hände griffen unter die Jacken, aber sie zogen nicht die Kanonen, denn Gastaldi gab ihnen einen schnellen Wink und die Männer hielten in ihrer Bewegung inne.

Rawanni warf einen raschen Blick auf die drei, lockerte ihren Griff aber nicht. "Hör mir gut zu, Aldo." Rawannis flüsternde Stimme klang messerscharf. "Mit dieser Tour bist du bei mir an der falschen Adresse. Hast du das kapiert?"

Aldo nickte, soweit es ihm unter ihrem festen Griff möglich war, sein Gesicht war knallrot angelaufen. Er rang nach Luft, als sie ihn wieder losließ, krümmte sich vor Schmerzen und legte seine Hände auf sein bestes Stück.

Rawanni wandte sich an Tonio Gastaldi, ihre Augen funkelten noch immer wild. "Sie sollten dafür sorgen, dass Ihr Sohn mir nicht mehr unter die Augen kommt." Sie wartete keine Antwort ab und rauschte ab in die Küche, während Gastaldi, Trifone und Scallini ihr verblüfft nachsahen, nicht ohne eine gewisse Anerkennung. Sie hatten sich nicht eingemischt.

Manolo, der die Szene mitbekommen hatte, kam gleich hinter ihr her geschossen. "Was ist bloß in dich gefahren? Du kannst mit diesen Leuten nicht so umspringen."

"Ach, und warum nicht? Soll ich mich einfach begrapschen lassen?"

"Weil … weil … " Manolo fing an zu stottern.

"Weil sie mir ein Loch in den Kopf pusten könnten?", setzte sie seinen Satz fort und merkte, dass sie damit ins Schwarze getroffen hatte. Dieser Gedanke war ihr gekommen, als die drei Muskelmänner auf einmal aufgesprungen waren und nach ihren Waffen gegriffen hatten. Diese Männer waren ihr bereits öfters aufgefallen. Sie waren immer anwesend, wenn Scallini, Gastaldi und Trifone das Restaurant betraten und gingen wieder zusammen mit ihnen, saßen aber jedes Mal abseits an einem Tisch und redeten nie mit den dreien, blieben wie unsichtbare Schatten. Es waren offenbar ihre Leibwächter.

"Nun ja, sie sind sehr mächtig und schrecken auch vor Waffengebrauch nicht zurück. Gerade dieser Aldo ist ein Hitzkopf, jung und ungestüm. Er hat schon jemanden umgelegt. Ist es denn so schlimm, wenn er dich anfasst?"

Rawannis Augen funkelten ihn böse an. "Und ob. Niemand darf das ohne meine Zustimmung tun. Marcy stört das vielleicht nicht, mich schon, Manolo. Es ist besser ich gehe, wenn du so etwas von mir verlangst."

"Nein, nein", beschwichtigte er schnell, "du bist meine beste Kraft."

"Ich bin nicht besser als die anderen."

"Aber du siehst besser aus", sagte er einschmeichelnd, "und seit du hier bist, läuft das Geschäft noch besser. Die Gäste lieben dich." Er lächelte sie erwartungsvoll an.

Sie lächelte ebenfalls. "Danke für dein Kompliment, Manolo. Also gut, ich bleibe und hoffe, es gibt mit diesem Aldo keinen weiteren Ärger."

"Ich rede mit seinem Vater."

Rawanni blieb trotzdem besorgt. Sie hatte Aldo vor aller Augen bloßgestellt und blamiert. Sein Ego war verletzt worden. Ein Typ wie Aldo würde das nicht so einfach hinnehmen. Außerdem hatten dieser Zwischenfall und auch Manolos Reaktion ihre Vermutung bestärkt, dass diese Männer nicht ganz so ehrenwert waren, wie sie sich gaben. Nun ja, Leibwächter hatten reiche Geschäftsleute öfters, aber diese waren zu schnell bereit gewesen die Waffe einzusetzen. Sie zu packen und von Aldo wegzuziehen hätte doch genügt. Und Aldo hatte also bereits jemanden getötet. Warum war er dann noch auf freiem Fuß und wieso wusste Manolo davon? Das alles war doch sehr merkwürdig und in ihrem Magen machte sich ein nervöses Kribbeln breit. Marcys Worte drangen wieder verstärkt in ihr Gedächtnis.

Sie ging zurück an den Tisch der drei, um das Geschirr abzuräumen. Aldo war nicht mehr da, sein Teller stand noch unberührt auf dem Tisch. Auch einer der Leibwächter fehlte.

"Ich möchte mich für mein Verhalten entschuldigen", sagte sie, um die Wogen zu glätten.

"Du brauchst dich nicht zu entschuldigen", entgegnete Gastaldi, ohne ihr irgendwelche Vorhaltungen zu machen und verblüffte sie damit nun doch. "Mein Sohn ist ein Idiot. Es geschieht ihm recht, er hatte eine Abreibung verdient. Ständig ist er hinter irgendeinem Rock her. Mach dir also keine Gedanken darüber." Er lächelte wohlwollend.

Scallini war aufgestanden und legte ihr den Arm um die Schulter. "Alle Achtung, du hast Schneid bewiesen. Ich kenne niemanden, der Aldo auf diese Weise zurechtgestutzt hätte. Du hast unser aller Hochachtung verdient."

Rawanni war sprachlos. Diese Männer zollten ihr tatsächlich Respekt — nur weil sie Gewalt angewendet hatte? War Gewalt für sie etwa das Tor zu Verständnis und Anerkennung? War es ein Beweis dafür, dass sie es tatsächlich mit Gangstern zu tun hatte?

Nach Schließung des Restaurants räumte Rawanni noch auf. Sie war die Einzige, die hier schlief und daher meistens auch immer die Letzte, die alle Türen verschloss. Die anderen Kollegen waren bereits nach Hause gegangen, nur Manolo saß noch im Büro und erledigte den lästigen Papierkram.

Sie ging durch die Küche zum Hinterausgang, um die Mülleimer in die Container zu entleeren, was sonst gewöhnlich die Reinigungskräfte, die am Vormittag kamen, erledigten, aber es machte ihr nichts aus, diese Aufgabe zu übernehmen. Nur Arbeit lenkte sie von ihren Gedanken an Luke ab, die immer wieder hochkamen, wenn sie allein auf ihrem Zimmer war. Schmerz und Trauer überfielen sie dann so heftig wie am ersten Tag nach seinem Tod.

Sie wollte gerade die Hintertür abschließen, als diese plötzlich aufgestoßen wurde. Sie strauchelte und wäre beinahe gestürzt, konnte sich aber gerade noch fangen. Aldo stand vor ihr, er roch nach Alkohol.

"Was willst du?", fragte sie ruhig. In seinen Augen las sie Lust auf Gewalt.

"Du bist jetzt dran, mein Täubchen." Seine Stimme klang ungewöhnlich fest und klar, obwohl er einiges getrunken haben musste. Seine Absicht schien ihn wieder nüchtern werden zu lassen. Geschickt wirbelte er ein Springmesser in der Hand und ließ die Klinge herausschnellen. "Du wirst mich nicht noch einmal auf diese Weise behandeln, Süße."

Rawanni wich zurück. Wie sollte sie ihn ohne Gewaltanwendung aufhalten? "Ich entschuldige mich, Aldo. Es war nicht in Ordnung, was ich getan habe."

"Ach, jetzt kuschst du. Hast wohl Angst, was?" Aldo grinste überlegen und kam näher.

"Nein, ich habe keine Angst", erklärte sie mit fester Stimme, "ich will dich nur davor bewahren, etwas Unbedachtes zu tun. Du könntest dich damit selbst ins Unglück stürzen."

Aldo lachte lauthals und schwankte beim Näherkommen gegen einen Schrank. "Haha, du willst mich vor Unglück bewahren? Dass ich nicht lache. Du solltest besser mit deinem Leben abschließen."

"Du willst mich töten?" Sie wich weiter zurück.

"Ich werde dich aufschlitzen und in deinem Blut baden, aber zuvor werde ich dich durchficken." Seine Augen funkelten irre. Er lachte heiser und stürzte sich auf sie.

Sie griff nach einer Bratpfanne, die über dem Küchenblock mitten im Raum baumelte, und wie mit einem Tennisschläger schlug sie ihm das Messer aus der Hand. Als er danach greifen wollte, traf der zweite Schlag sein Ohr.

Er taumelte benommen gegen den Tresen und sah sie wutschnaubend an.

Rawanni wollte ihn nicht verletzen. "Hör auf!", versuchte sie ihn aufzuhalten. "Du wirst den Zorn deines Vaters auf dich ziehen."

Aber diese Aussicht beeindruckte ihn nicht im Mindesten. "Mein Alter? Der ist mir doch scheißegal und ihn interessiert es auch nicht, was ich mache." Aldo schnappte sich eines der Küchenmesser aus dem Messerblock. "Du entkommst mir nicht."

"Du wirst den Kürzeren ziehen, Aldo. Leg das Messer auf den Tisch und geh einfach."

"Du glaubst im Ernst, du bist mir gewachsen?" Er lachte wieder grell auf, warf das Messer lässig von einer Hand in die andere und schritt in leicht vorgebeugter Haltung weiter auf sie zu, während sie zurückwich.

Sie erkannte, dass Aldo Lust aufs Töten hatte. Er war ein Psychopath. Worte würden ihn nicht abhalten. Es war doch immer dasselbe. Wie oft hatte sie sich in einer ähnlichen Situation befunden und jedes Mal konnte sie ihren Gegner nicht durch Worte dazu bewegen aufzugeben. Musste es denn jedes Mal mit Gewalt enden?

Mit einem Satz sprang er auf sie zu. Behände wich sie zur Seite aus und verpasste ihm mit der Bratpfanne einen Schlag auf den Hinterkopf. Diesmal ließ sie ihm keine Zeit zum verschnaufen. Sie warf die Pfanne beiseite und trat mit dem Fuß gegen seinen Brustkorb. Als er sich umdrehte, wirbelte sie herum und nahm mit dem Bein noch einmal Schwung. Er taumelte keuchend, das Messer fiel auf den Boden. In einem wahren Trommelfeuer schlug sie auf ihn ein. Blut rann ihm aus der Nase. Sie nahm keine Rücksicht, denn jetzt stand ihr Leben auf dem Spiel. Sie hörte erst auf, als er bewusstlos an der Wand herunterrutschte.

Manolo stand plötzlich in der Tür. "Mein Gott", rief er entsetzt und sein Blick fiel auf Rawanni, dann auf Aldo und wieder zurück zu ihr. "Ich habe das Poltern gehört, was ist denn passiert?" Er entdeckte das Messer auf dem Boden und hob es auf. "Hat er dich damit angegriffen?"

"Ja. Er wollte mich töten."

Manolo kniete neben Aldo und drehte seinen Kopf. "Na, diesmal hat er sich wohl den falschen Gegner ausgesucht." Er wandte sich zu ihr. "Bist du in Ordnung?"

"Ja, er hat mich nicht erwischt."

"Dann werde ich mal seinen Vater anrufen. Der wird nicht gerade erfreut sein."

Manolo eilte in sein Büro und kam gleich nach dem Gespräch wieder zurück in die Küche. Gastaldi war unterwegs.

Aldo wachte wieder auf. Er stöhnte und hielt sich den Kopf. Als er Rawanni sah, wollte er gleich wieder aufspringen, doch Manolo hielt ihn mit festem Griff am Boden.

"Ganz ruhig, Aldo."

"Verdammtes Weibsstück", fluchte er zwischen den Zähnen hindurch.

Wenig später stürmte Tonio Gastaldi durch die Hintertür in die Küche, gefolgt von zwei Bodyguards. "Was hast du jetzt schon wieder angestellt?", donnerte er gleich los und zerrte seinen Sohn an der Jacke hoch.

"Lass mich zufrieden!", raunte Aldo ungehalten und hatte nicht die Absicht, seinem Vater irgendetwas zu erklären.

Da er nichts sagte, wandte sich Gastaldi an Rawanni. "Sagst du mir, was passiert ist?"

"Fragen Sie Ihren Sohn", wich sie aus. Sie wollte das Verhältnis zwischen Vater und Sohn nicht weiter verschlechtern, obwohl Aldo eine Gefahr darstellte. Aber wenn Tonio Gastaldi sich tatsächlich in Verbrecherkreisen bewegte, war es ratsam sich herauszuhalten.

Manolo reichte Gastaldi das Messer. "Er hat sie damit angegriffen."

Die Ohrfeige kam so schnell, dass Aldo die Hand seines Vaters nicht hatte kommen sehen und von der Wucht gegen die Wand geschleudert wurde. "Du wirst morgen zu deiner Mutter zurückfliegen", brüllte Gastaldi seinen Sohn an und gab seinen beiden Männern einen Wink, die ihn daraufhin an den Armen packten und nach draußen schleiften.

Aldo schwieg und warf Rawanni nur einen wilden Blick zu: Warte, ich erwische dich noch.

Tonio Gastaldi wandte sich an Rawanni. "Es tut mir leid. Mein Sohn ist sehr impulsiv. Seine Mutter hat ihn verzogen, ihm fehlt die harte Hand seines Vaters."

"Schon gut", entgegnete sie nur, aber es lag ihr eine andere Entgegnung auf den Lippen. Aldo hätte von seinem Elternhaus mehr Liebe gebraucht, auch von seinem Vater, und keine harte Hand. Aber vielleicht war Aldo auch krank und bedurfte ärztlicher Hilfe.

Gastaldi verließ die Küche, wütend und aufgebracht über Aldo. Er hätte sie verletzen oder sogar töten können. Und was wäre dann passiert? Möglicherweise wäre die Polizei aufgetaucht. Er hatte ihn schon einmal vor einer Anklage bewahrt, als er einen Jugendlichen erstochen hatte. Dieser missratene Sohn bereitete ihm nichts als Ärger.

Es war bereits acht Uhr morgens, als Rawanni endlich todmüde ins Bett fiel, aber ihre Gedanken ließen sie noch nicht einschlafen. Wo war sie nur wieder hineingeraten?

Rawanni und die Mafiosi

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