Читать книгу Der Tote vom Winterstein - Emma Berfelde - Страница 3
Kapitel 1
ОглавлениеSchwer atmend stützte sich Mathias Bauer auf seine Wanderstöcke und drehte sich um. Zwei Stunden war er bereits unterwegs und seine Knie zitterten von der Anstrengung des Aufstieges. Aber er hätte nie gedacht, dass er es so weit schaffen würde.
Schau nach vorne, nicht zurück!
Mathias runzelte die Stirn. Selbst hier, fernab von Dirks Folterkammer, hörte er die Ratschläge seines Fitnesstrainers.
Er drehte sich wieder um und maß mit skeptischem Blick den steilen Pfad, der vor ihm lag. Bis zum Gipfel des Wintersteins mit dem hölzernen Aussichtsturm waren es noch fast achthundert Meter.
Er ließ seinen Rucksack von den Schultern gleiten und öffnete den Reißverschluss. Er zog eine Flasche Mineralwasser heraus und trank mit großen Schlucken. Kaum hatte er die Flasche abgesetzt, begann sein Magen zu knurren. Sehnsüchtig dachte er an das mit Putenbrust belegte Brot in seinem Rucksack. Die Versuchung war groß. Nein, entschied er. Als Belohnung für die Plackerei plante er eine ausgiebige Rast auf dem Plateau des Aussichtsturms mit Blick über die sanften Hügel der Wetterau.
Er hob den Rucksack wieder auf die Schultern und stapfte schnaufend voran. Löse deine Blockaden! Mist. Dirk und seine Imperative wohnten schon in seinem Kopf. Setz deine Schritte! Denk an dein Ziel!
Mathias verzog das Gesicht. Mindestens dreißig Kilo mussten noch runter über den Winter, dann würde er sein erstes Ziel, „unter hundert“, erreicht haben. Mit einem unbarmherzigen Speiseplan hatte er seine Ernährung umgestellt: Die rote Karte für Pizza und Pommes, grünes Licht für Salat, Gemüse, mageres Fleisch und volles Korn. Dazu das Training in Dirks Fitnessgruppe, ungemein anstrengend, aber auch unerwartet zufriedenstellend. Besonders schön war es, wenn Dirk es ihnen erlaubte, am Ende des Krafttrainings die erschöpften Körper auf der Matte auszustrecken, um beim Yoga ihre „sanfte Mitte“ zu finden. Du fühlst dich ganz leicht. Ja, Dirk.
Nach zweihundert Metern stoppte Mathias für die nächste Pause. Er zog ein Taschentuch aus der Hosentasche, nahm die Brille ab und wischte sich über das Gesicht. Verdammt warm für Anfang Oktober! Die Kleidung klebte an seinem Körper, obwohl er unter der wasserdichten Wachsjacke nur ein dünnes T-Shirt trug. Glücklicherweise sah es so aus, als bliebe er von rücksichtslosen Freizeitsportlern verschont. Nur zwei Wanderer waren ihm entgegengekommen, ein rüstiges Rentnerpaar. Sie waren bestimmt den steileren Weg von Ockstadt gestartet, vielleicht sogar von der Saalburg. Beneidenswerte Kondition. Den kompletten hessischen Limes entlang zu laufen, die ganzen einhundertdreiundfünfzig Kilometer, das war Mathias‘ Traum. Davon war er noch weit entfernt.
Er setzte seine Brille wieder auf und ging langsam die nächsten Schritte. Er keuchte, seine Lungen brannten. Von wegen fit durch Fasten, er fühlte sich eher wie ein Fisch, der im Todeskampf auf dem Trockenen zappelte. Er fragte sich zum wiederholten Mal, warum er das machte. Warum überhaupt abnehmen? In anderen Ländern genossen Dicke hohes Ansehen. In Saudi-Arabien zum Beispiel, da wurde er gerade wegen seiner Körperfülle respektiert. In Afrika erst recht. Hier, in diesem Land mit dem Schlankheitswahn, da war er ein Fettkloß, der immer zu viel für sich beanspruchte. Im Flugzeug musste er die teure Business Class buchen, denn in die engen Sitze der Economy Class passte er gar nicht rein. Dieses Land war auf Mittelmaß konditioniert. Er hatte die ständige Diskriminierung so satt.
Aber hatte er sich die richtige Frage gestellt? Nicht warum, sondern für wen machte er das? Natürlich für Irene. Seine schöne Nixe vom Schwarzen Meer. Eigentlich hieß sie Svetlana, aber sie hatte nichts dagegen, Irene genannt zu werden. Alles so, wie du es willst, Bärchen, sagte sie immer. Sie war so anders als das egoistische Biest, mit dem er leider immer noch verheiratet war. Niemand wusste von Svetlana und das sollte vorerst auch so bleiben. Das Biest wird schäumen vor Wut! Mathias lächelte. Nun fühlte er sich wirklich leicht.
Nach weiteren hundert Metern wurde ihm schwindelig. Er setzte sich auf einen Findling und überlegte, ob er die Stulle nicht doch schon jetzt essen sollte. Niemand würde ihn dabei erwischen. Dirk war nicht da mit seinem Gesülze. Ich weiß, wie schwer es ist, aber ohne Disziplin geht es nun einmal nicht. Von wegen Disziplin! Dirk hatte seine eigene Fettsucht bestimmt mit Hilfsmitteln bekämpft, die garantiert in keinem Diätratgeber zu finden waren.
Mathias‘ Magen knurrte erneut. Ohne Stärkung würde er es nicht bis auf den Gipfel schaffen. Er kramte im Rucksack nach der Plastikbox. Er öffnete sie, nahm das Brot andächtig heraus und biss hinein. Er schloss die Augen und schob den ersten Bissen im Mund hin und her. Lecker. Vollkornbrot mit Sonnenblumenkernen. Er schmeckte Tomate und das knackige Blatt eines Eisbergsalats. Der leicht salzige Geschmack der Putenbrust kam erst danach. Und … Frischkäse! Er öffnete die Augen. Keine Butter. Wann er wohl wieder Butter essen durfte? Oder Waffeln mit Sahne? Bratkartoffeln mit Speck? Ein Croque mit Tunfisch und ganz viel Mayo?
Die Stulle schmeckte jetzt fade. Er legte sie zurück in die Box und schob sie von sich weg. Sein Magen knurrte immer noch.
Er war müde. Nur ein Viertelstündchen hier sitzen, das wäre schön. Er schloss die Augen. Lauschte dem Lied der rauschenden Blätter. Fühlte den wieder gleichmäßigen Schlag seines Herzens. Wer rastet, der rostet! Fuck you, Dirk! Plötzlich hörte Mathias ein scharfes Kreischen einer Bremse und schlitternde Reifen. Verfluchtes Mountainbike! Mathias riss die Augen auf, musste in die Sonne blinzeln. Er erkannte die Silhouette einer schlanken Gestalt in hautenger Funktionskleidung und einem Helm auf dem Kopf. Dann traf ein Schlag seine Nase, riss ihm die Brille herunter. Er tastete nach seinen Wanderstöcken und stemmte sich mühsam hoch. Jemand schubste ihn.
„He, was soll das?“
Keine Antwort, nur ein heftiges Atmen. Mathias taumelte ein paar Schritte zurück, bis er sein Gleichgewicht wiedergefunden hatte. Seine Augen tränten und er schmeckte Blut. Wehr dich! Benutz die Stöcke! Hau einfach drauf! Er schlug wild um sich, doch die Gestalt wich ihm aus. Wie ein tanzender Kobold, dachte Mathias und schnappte nach Luft. Er spürte, wie sich zwei Hände auf seine Brust legten und ihm erneut einen Stoß gaben. Er kippte nach hinten ins Leere. Mit den Armen rudernd, versuchte er, sich an einem Ast festzuhalten. Seine dicken Finger umklammerten den Zweig. Der brach ab und Mathias verlor den Halt. Sah kurz den Himmel über sich, dann wieder schrammte sein Gesicht über bröckelige Erde und spitze Tannennadeln. Sein rechtes Knie stieß an etwas Hartes, es tat höllisch weh. Als er über einen Buckel rollte, schien er für kurze Zeit zu schweben. Der harte Aufprall nahm ihm die Luft. Es knackte. Alles wurde dunkel.