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Kapitel 4 / 8. Oktober

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„Er hat einen enormen Ehrgeiz entwickelt“, sagte Dirk Eismann zu Jan.

Sie standen in einem kleinen Sportraum. Die Luft war stickig. Obwohl einige der kleinen Fenster gekippt waren, gab es nicht den kleinsten Windzug. Es roch nach Schweiß und den Ausdünstungen des Gummibelags.

Mathias Bauers ehemaliger Fitnesstrainer hatte blondes Haar, hinten war es kurz, vorne länger und mit viel Gel zu einer kleinen Tolle gestylt. Die Arme in die Hüften gestemmt, posierte er breitbeinig wie ein Hauptfeldwebel, der kritisch die sportlichen Fortschritte seiner Rekruten beobachtete. Das ärmellose T-Shirt spannte sich über seinem muskulösen Oberkörper, die Shorts saßen eng und endeten zehn Zentimeter über den Knien. Definitiv nicht der magere und sehnige Yoga-Guru, den Jan erwartet hatte.

Er selbst war immer sehr schlank gewesen, fast hager, mit einer mageren, unbehaarten Brust. Durch das Boxtraining hatte er eine annehmbare Kondition erworben, aber er wusste, dass er nie ein Arnold Schwarzenegger werden würde. Im Gegensatz zu Eismann. Gut, dass Saskia nicht auf muskulöse Männer stand.

Alex nahm an, dass Bauers rigides Abspeckprogramm zu einem vorübergehenden Schwächeanfall geführt haben könnte, der ihn den Hang hatte hinunter stürzen lassen. Dieser Theorie sollte Jan hier bei Dirk Eismann nachgehen.

„Ungesunder Ehrgeiz?“

„Wie man’s nimmt.“

Er führte Jan in einen Aufenthaltsraum, der direkt neben dem Sportraum lag. An den gelb gestrichenen Wänden hingen viele Vorher-Nachher-Bilder. Sicher dienten sie der Motivation, weiterzumachen, oder als ständige Mahnung, nicht wieder in alte Gewohnheiten zurück zu fallen. Jan schlenderte an der Wand entlang, nahm ein Bild nach dem anderen ins Visier. Er suchte nach dem Gesicht von Mathias Bauer, fand es aber nicht. Dafür gefühlte hundert Mal Dirk Eismann. Anfangs hatte er Schwierigkeiten, ihn zu erkennen, doch dann hielt er sich an die hellgrauen, leicht schrägen Augen mit den langen Wimpern und fand ihn auf jedem Bild. Immer wieder ließ Jan seinen Blick zum heutigen Dirk Eismann wandern, er konnte kaum glauben, dass der Mann mit Stiernacken, Dreifachkinn, schwabbeligen Brüsten und Schmerbauch tatsächlich zu Iron Dirk geworden war. Er wirkte heute jünger.

„Ich habe fünf Jahre gebraucht, um mein Gewicht zu halbieren“, sagte Eismann. „Immer auf und ab, bis mein Körper den Rhythmus gefunden hatte. Dann war das Abnehmen nicht mehr so schwierig. Aber den Körper zu modellieren, das hat Kraft gekostet. Mental und physisch. Und am Ende eine Menge Geld.“ Er schob kurz sein T-Shirt hoch und klatschte mit einer Hand auf seinen Waschbrettbauch. „Nicht alles kann man mit Sport korrigieren. Ich habe viele Operationen gebraucht, um die Hautlappen entfernen zu lassen, nachdem das überflüssige Fett weg war.“

Eismann zeigte auf einige Vorher-Bilder. „Geschwülste aus Fett, die in Kaskaden am ganzen Körper wabern. Weibliche Brüste bei Männern.“ Er schnalzte mit der Zunge. „Man müsste auf jede Tafel Schokolade und jede Tüte Chips diese mahnenden Bilder drucken.“ Er ging zum Tisch und goss sich einen blauen Energydrink ein. Er schob Jan den Krug und ein Glas zu, doch der lehnte dankend ab.

Eismann setzte sich und trank das Glas in einem Zug leer. „Manna“, sagte er. Er zog einen zweiten Stuhl heran und stellte seine Füße darauf ab, die in neongelben Turnschuhen steckten. Die Arme lagen auf den Lehnen. „Was war Ihre letzte Frage, Herr Kommissar?“

Betont lässige Haltung, dachte Jan. Ich habe mit dem Tod meines Kunden absolut nichts zu tun, sollte sie wohl ausdrücken. „Ob der Ehrgeiz, den Mathias Bauer Ihrer Meinung nach entwickelt hatte, ungesund war. Diese Frage haben Sie mit ‚Wie man’s nimmt‘ beantwortet.“

Eismann drückte die Handflächen aneinander und stützte sein Kinn auf die Fingerkuppen. Er blickte Jan mit glitzernden Augen an.

„Die meisten sind froh, nur das tun zu müssen, was ich ihnen vorgebe. Mathias wollte sich abheben, immer ein bisschen besser sein. Solche Leute gibt es in jeder Gruppe. Er war auch der Einzige, der meine Anweisungen immer mit einem blöden Witz kommentierte. Wirklich blöde Witze waren das, er glaubte, dass er witzig war, aber er war nur blöde.“

Permanent blöde Witze? Hatte Mathias Bauer mit seinen Sprüchen seinen Trainer zur Weißglut bringen können? War Eismann irgendwann der Kragen geplatzt? War er Bauer gefolgt und hatte ihn den Hang hinuntergestoßen?

„Kein einfacher Mensch und sehr unruhig“, fuhr Eismann fort. „Aber ohne Geduld kann man keine Erfolge erzielen, und ich habe mir in den letzten Jahren einen guten Ruf erarbeitet. Die Rückfallquote meiner Schäfchen ist sehr gering, jedenfalls geringer als bei anderen Gruppen. Sogar die Weight Watchers haben schon bei mir reingeschaut.“

Er lachte laut. Zu laut, fand Jan.

„Mathias Bauer hat sich also nicht einfach Ihrem Kommando gebeugt. Was machen Sie, wenn der Respekt fehlt?“

„Mein Mathelehrer in der Oberstufe, wissen Sie, was der mit jedem Schüler mit schlechten Noten gemacht hat? Ihm vor allen Leuten gesagt, dass er zu doof sei für das Gymnasium. Dass er in die Wirtschaft gehen soll.“ Er beugte sich vor. „Ich habe viel von ihm gelernt. Nicht nur Mathe. Kompromisslose Härte, das ist mein Motto. Wenn er nicht einverstanden ist mit meinem Stil, kann er ja gehen, sagte ich ihm. Ich zwinge niemanden.“

Eismann drückte wieder die Handflächen aneinander und drehte sie. Jan hörte ein unanständiges Geräusch, wie ein lauter Furz. Seine Hände müssen schweißnass sein, dachte er. Fragt sich nur, warum.

„Wie oft findet dieses Training zum Abnehmen statt?“

„Jeden Tag von achtzehn bis zwanzig Uhr.“

„Und Sie können davon leben?“

„Ich mache nicht nur diese ‚Lass deine Pfunde purzeln‘-Kurse. Auch Cardio Fit, Rückengymnastik, sogar das gute alte Konditionstraining ist wieder beliebt. Selbst wenn die eine oder andere Gruppe sich auflöst, weil sie aus lauter Schlappschwänzen besteht, komme ich über die Runden.“

„Sie waren also nicht davon abhängig, Bauer als Kunden zu behalten?“, fragte Jan.

Eismann runzelte die Stirn.

„Gab es Streit?“

Eismann strich sich über das Gesicht, dann hob er beide Hände, als wolle er sich ergeben. „Sie werden es eh erfahren“, sagte er leise. „Ich habe Mathias rausgeschmissen. Ein blöder Witz zu viel. Er kam wieder. Ich forderte ihn auf zu gehen. Er sagte, ich solle den Ball flach halten. Ich drängte ihn aus der Tür. Er sagte, er habe bezahlt und würde einen Anwalt einschalten. Da der Kurs nur noch zwei Wochen dauerte, durfte er bleiben. Er war erstaunlich still. Kein Spruch kam mehr über seine Lippen.“

„Sie haben ihn gewinnen lassen?“

Eismann seufzte. „Wie gesagt: Er hatte bezahlt.“ Er blickte auf den Boden.

Also ja, dachte Jan. Und das hat dir gar nicht gefallen, nehme ich an. Er zog einen der Flyer heran, die wahllos auf dem Tisch verstreut lagen. Es war der gleiche, den sie bei Bauer in der Wohnung gefunden hatten, nur ohne Kritzeleien. Er wies auf die Kontaktdaten. „Sie sind selbständig?“

Eismann sah ihn wieder an und nickte.

„Eine schwierige Branche?“

„Jede Selbständigkeit birgt ihre Risiken.“

Jan lehnte sich zurück. „Mathias Bauer war mit Ihrem Stil nicht einverstanden, sagten Sie. Sie sind mit ihm aneinander gerasselt. Mal angenommen, er hätte sich rächen wollen. Hätte versucht, Ihren Ruf zu schädigen. Ihre Qualifikation anzuzweifeln.“

Eismann schwieg. Seine Miene war versteinert.

Jan frohlockte. Er hatte einen Nerv getroffen. „Hat er es versucht?“

Eismann nickte. „Im Internet. Da kursierten gewisse Gerüchte über mich.“ Seine Augen glitzerten. „Haltlose Gerüchte.“

„Was für Gerüchte?“

„Mathias hat behauptet, dass ich die Bilder gefälscht habe.“

„Welche Bilder?“

„Diese Vorher-Nachher-Bilder. Es sei Betrug. Ich würde mit einer Lüge ein Vermögen machen.“

„Ist da was dran?“

Eismann nahm seine Füße vom Stuhl und setzte sich auf. Sein Gesicht hatte sich gerötet, mit den Händen umklammerte er die Lehnen. „Natürlich nicht. Ich kann alles vorlegen. Die Operationen, die Krankenakte von meinem Arzt. Alles.“

Es sah aus, als warte er nur auf ein Kommando, um davon zu stürmen und die Unterlagen zu holen. Und das wirst du auch müssen, Iron Dirk. Aber Jan hatte auch Verständnis. Cybermobbing war zum Volkssport geworden. Die meisten Rufmörder waren jedoch zu feige, ihren eignen Namen zu benutzen.

„Er trat wirklich offen auf?“

„Natürlich nicht.“

„Aber Sie wissen, dass es Bauer war?“

„Wer sonst?“

„Wie haben Sie reagiert?“

„Ich habe die Beiträge gelöscht, ansonsten habe ich dazu geschwiegen. Wenn ich keine Selbstachtung mehr habe, kann ich einpacken.“

„Kein Streit darüber mit Mathias Bauer?“

„Kein Streit mit Mathias.“

„Wann haben Sie das Mobbing entdeckt?“

Eismann schwieg.

Kurz vor Bauers Tod, schätzte Jan. Alte Netzeinträge verschwanden nicht spurlos, nur weil man sie löschte. Im Cache einer Suchmaschine würde er sicher noch fündig werden.

„Ich weiß es nicht mehr so genau“, sagte Eismann. „Ist schon eine Weile her.“

Das werden wir herausfinden, dachte Jan. Und wenn der Abstand zwischen dem letzten Mobbingvorfall und dem Todesdatum von Bauer gering ist, werden wir uns wieder darüber unterhalten.

„Wann haben die neuen Kurse denn begonnen?“

„Anfang Oktober. Genauer gesagt, der Kurs, in den Mathias rein wollte, begann am 4. Oktober.“

„Sie haben sich nicht gewundert, dass er nicht erschienen ist?“

„Doch, er hat sich ja angemeldet. Hat für das ganze Halbjahr im Voraus bezahlt. Ich habe mich schon auf eine stressige Stunde vorbereitet. Ihm sagen zu müssen, dass das nichts wird mit uns beiden. Dass er seinen fetten Arsch aus meiner Halle bewegen soll.“ Eismann machte mit der rechten Hand eine winkende Bewegung. „Aber er kam nicht mehr.“

Zu deiner unsäglichen Freude, fügte Jan in Gedanken hinzu.

„Ich dachte, er hätte endlich aufgegeben“, sagte Eismann. „Dabei war er einfach tot.“

„Wussten Sie, dass Mathias Bauer zum Winterstein hochgehen wollte?“

Eismann kniff die Augen zusammen. „Er sprach davon. In der Gruppe.“

Jan schaute ihn nur an. Manchmal war Schweigen der effektivste Weg zur Information.

„Ich habe ihm davon abgeraten, den Weg alleine zu machen, aber er wollte ja nicht auf mich hören.“ Eismann stand auf.

„Was haben Sie am vergangenen Montag nachmittags gemacht?“

Eismann drehte sich abrupt um. „Wie meinen Sie das jetzt?“

„Sie haben ein starkes Motiv und sind in der Lage, einen Mann von Bauers Statur einen Hang hinunter zu stoßen.“

„Was ich aber nicht getan habe.“

„Sondern?“

Eine leichte Röte überzog Eismanns Gesicht, kleine Schweißperlen liefen ihm über die Stirn. Er wischte sie hastig mit dem Handrücken weg. Gleich lügt er, dachte Jan.

„Ich habe meine Kurse vorbereitet.“

„Kann das jemand bezeugen?“

Eismann zuckte mit den Schultern. „Es gibt sicher den einen oder anderen, der ...“ Er stoppte. „Vielleicht.“

Jan suchte in seiner Jackentasche nach einer Karte. Mist, dachte er. Vergessen. Er nahm einen Flyer und einen Kuli vom Tisch und kritzelte seine Nummer direkt über die Worte „Geteiltes Leid“. Er schob das Papier über den Tisch. „Dann erwarte ich eine entsprechende Rückmeldung.“ Er wandte sich zur Tür.

„Ich würde gerne noch mit den anderen aus Bauers Gruppe reden. Ist heute Training?“

„Jeden Tag. Hatte ich bereits gesagt.“

„Und wann, sagten Sie, ist das Training zu Ende?“

Eismann seufzte. „Exakt zwanzig Uhr.“

***

Milena klingelte an der Haustür. Dem sanften Ton des Gongs folgte heftiges Gezeter. Zuerst waren die Stimmen zu weit weg, um etwas zu verstehen. Dann näherten sich die Kontrahenten dem Hausflur. „Es reicht, Daniel! Die Kiste bleibt aus, bis du deine Hausarbeiten gemacht hast.“ Das klang eher hilflos als streng.

„Olle Ziege!“ Ein Junge im Stimmbruch.

Die Tür wurde aufgerissen und Milena blickte in das blasse Gesicht einer Frau mittleren Alters. Mathias Bauers Schwester Sandra Demandt. Die braunen Locken standen wirr vom Kopf ab, der beigefarbene Cardigan war falsch zugeknöpft und hatte in Bauchhöhe kleine rote Flecken. Spaghetti mit Tomatensoße? Und zum Nachtisch eine Portion Unverschämtheit? Daniel zeigte seiner Mutter hinter ihrem Rücken einen Vogel. Als Milena ihren Ausweis zückte und sich vorstellte, schob der Junge sich schnell an ihr vorbei in den seitlichen Flur.

Sandra Demandt bat Milena herein und wies ihr den Weg ins Wohnzimmer. Die Frau sank in einen Sessel und vergrub das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern zuckten. „Acht Stunden Nachtschicht im Krankenhaus.“ Milena konnte sie kaum verstehen. „Und dann kommst du nach Hause und es herrscht Chaos.“

Milena schaute sich um. Bauers Schwester hatte ein Faible für Kunst und Krempel zugleich. An den Wänden hingen Bilder, Ölschinken wechselten sich mit Aquarellen, Drucken und Fotografien ab, die meisten zeigten Motive aus der Wetterau. Milena erkannte die mit wenigen Strichen gezeichnete Silhouette der Friedberger Burg mit dem Adolfsturm. Daneben ein buntes Ölgemälde mit blühenden Rapsfeldern und Kirschbäumen, nicht besonders stilsicher umrahmt von zahlreichen Rosenfotos. In Regalen standen vor den Büchern Kerzenhalter, kleine Vasen und Porzellanfiguren, auf dem Couchtisch zwei Blumentöpfe mit Azaleen. Das geräumige Sideboard zierten Bilderrahmen mit Familienfotos. Der Staub lag dick auf den Möbeln, auf dem Sofa stapelten sich Zeitschriften und Briefe. Auf dem Boden war Hundespielzeug verstreut, einen Hund konnte Milena jedoch nicht entdecken. Nur wenige Zentimeter vor dem Fernseher lagen Glasscherben. Das klassische Parkett war übersät mit tiefen Kratzern. Doch diese Unordnung meinte Sandra Demandt sicher nicht mit „Chaos“.

„Ihr Sohn scheint von Respekt nicht viel zu halten. Aber das ist wohl keine Seltenheit in dem Alter. Er ist zwölf, sagte Ihr Bruder.“

„Heute nennt man das Vorpubertät. Pubertät reicht wohl nicht mehr.“ Sandra Demandt hob den Kopf und lächelte durch ihre Tränen. „Dauernd unterwegs oder Computerspiele. Und die Hausaufgaben bleiben liegen. Aber was soll’s! Bin ja selbst schuld. Wenn ich mich durchringen könnte ... Mein Mann wär sicher auf meiner Seite.“

Ulrich Bauer hatte seinen Neffen einen Mistkäfer genannt, hatte Jan Milena berichtet. Sie konnte ahnen, welche Missetat dem jüngsten Wortwechsel vorangegangen war. Daniel hatte offensichtlich einen der gläsernen Kerzenhalter auf den Boden geschmissen, vielleicht sogar geworfen in der Absicht, damit seine Mutter zu treffen und zu verletzen.

„Warum sieht Dani nicht, dass er sich nur selbst schadet?“

„In diesem Alter ist Eigenreflexion eine schwierige Sache“, versuchte Milena zu erklären. Sie hatte in Frankfurt viele Male mit aufsässigen Jugendlichen zu tun gehabt. Wenige waren wirklich kriminell, die meisten von ihnen suchten eher ein Ventil für ihre Wut.

„Wir haben schon so oft mit ihm geredet. Zuerst ist er wütend, dann fängt er an zu brüllen und sagt, dass wir ihn nur loswerden wollen. Dass wir ihn nicht lieben. Weil er nicht so gut ist wie Flori.“

„Wissen Sie, was er mit ‚nicht so gut‘ meint?“

Sandra Demandt hob die Hände. „Eigentlich alles. Vor allem nicht so gut in der Schule. Unser ständiger Kampf.“

„Bringt er schlechte Zeugnisse nach Hause?“

Sandra Demandt nickte. „Sehr schlechte. Wir haben ihm angeboten, Nachhilfe zu bezahlen. Aber das lehnt er ab. Nach der Schule lernen findet er ‚zum Kotzen‘.“

„Verständlich.“

„Sie haben es selbst gehört“, sagte Sandra und wies auf die geschlossene Wohnzimmertür. „Olle Ziege! Wie kann ich mir das bieten lassen?“

„Ich weiß nicht“, sagte Milena. Sie war keine Expertin in Erziehungsfragen. „Vielleicht stellen Sie ihm das nächste Mal einfach den Strom ab“, wagte sie vorzuschlagen.

Sandra Demandt lachte gequält. „Sie reden wie Mathias“, sagte sie leise.

„Inwiefern?“

„Strafen statt reden, das war seine Devise. Ich soll mir von dem Mistkäfer nicht alles gefallen lassen. Entweder harte Erziehung oder Medikamente.“

„Medikamente?“

„Beruhigungsmittel.“

„Hat Daniel Ihre Gespräche mitbekommen?“

Erst schien es, als hätte Sandra Demandt den Sinn der Frage nicht verstanden. Dann setzte sie sich gerade, stützte sich mit den Händen an der Kante des Sessels ab und stand mit einem Ruck auf. „Ich mache uns einen Kaffee.“ Sie ging aus dem Raum und rief Milena etwas zu, das diese nicht verstand.

Milena ging auf den Flur, vorbei an Daniels achtlos in die Ecke geworfenen Rucksack. Weiter hinten hörte sie Sandra Demandt mit Geschirr hantieren, da war also die Küche. Gleich rechts von ihr stand eine Tür offen. Milena warf einen kurzen Blick hinein. Das Zimmer war aufgeräumt, an den Wänden hingen Bilder von Eishockeyspielern und einigen Popstars, von denen Milena nur Rihanna erkannte.

Sandra Demandt kam aus der Küche. Sie trug ein Tablett mit einem Teller Kuchen und einer Thermoskanne. „Könnten Sie Schippe und Besen mitnehmen?“ bat sie Milena. „Sie sind auf dem Esstisch.“

Sandra Demandt stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab und holte zwei Tassen mit blauem Zwiebelmuster aus dem Schrank. Dann nahm sie Milena Schippe und Besen aus der Hand. Sie bückte sich und begann, die verstreuten Scherben des zerbrochenen Kerzenständers zusammenzukehren. Für einige Augenblicke war nur ein Scharren und Klirren zu hören. Als sie fertig war, ließ Sandra Demandt die Schippe beladen auf dem Boden stehen und warf den Besen daneben. Sie rieb ihre Hände an der Hose ab und ging zu Milena, die es sich in einem der Sessel bequem gemacht hatte.

„Er hätte es niemals getan, glauben Sie mir.“ Sie setzte sich auf die Couch.

„Was meinen Sie?“, fragte Milena, obwohl sie genau wusste, dass Sandra Demandt auf ihre Frage reagierte.

„Dani hätte seinem Onkel niemals etwas angetan. Er ist ein Angeber und unglaublich unverschämt, aber kein Mörder.“ Sie goss Kaffee in beide Tassen und schob Milena Zucker und Milch hinüber.

Woher nimmt sie diese Zuversicht? Es gab jüngere Kinder, die bereits einen Menschen auf dem Gewissen hatten. Rentner, die gebrechlich aussahen und sich doch wegen Totschlags vor Gericht verantworten mussten. Unverdächtige Menschen, bis deren zutage tretende Brutalität die Nachbarn fassungslos in die Kameras stöhnen ließen. Milena schloss niemanden aus, jeder Mensch konnte zum Mörder werden.

„Ich würde gerne mit ihm sprechen.“ Milena goss Milch in ihren Kaffee und nahm einen Schluck.

„Dani hat nichts verbrochen.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

Sandra Demandt nahm sich ein Stück Kuchen, biss ab und legte es auf den Teller zurück. Während sie kaute, ruhte ihr Blick auf einem Druck, der eine alte Ansicht der Friedberger Burg zeigte.

Sie weiß es nicht, dachte Milena. Sie hofft. „Wie lange hat Daniel montags Schule?“

„Bis vier Uhr“, sagte Sandra Demandt mechanisch und lächelte dann. „Mathias ist am frühen Nachmittag gestürzt, nicht wahr? Dani hatte da Schule.“

Wenn er nicht geschwänzt hat, dachte Milena. Sie würde das überprüfen.

„Auf welche Schule geht er?“

„Die Burg. Nehmen Sie doch ein Stück Kuchen.“

Milena lehnte dankend ab. „Was haben Sie am Montag Nachmittag gemacht.“

Sandra Demandt kaute langsam. Sie spülte ihren Bissen mit einem Schluck Kaffee herunter. „Ich hatte Dienst, wie immer.“

„Ihr Bruder Ulrich sagte meinem Kollegen, dass Sie von allen Familienmitgliedern das beste Verhältnis zu Mathias gehabt haben.“

Sandra Demandt nickte. „Wir haben oft telefoniert. Hierher kam er selten. Mathias war kein umgänglicher Mensch. Und mit den beiden Jungen, da ging gar nichts. Und dann Sebastian, mein Mann.“ Sie drehte abrupt den Kopf weg. „Sie hatten sich nichts zu sagen. Es gab keinen Streit. Einfach nur Schweigen.“

„Wann haben Sie Ihren Bruder zuletzt gesehen?“

Sandra Demandt stand auf und ging zu einem kleinen Sekretär. Mit einem Taschenkalender in der Hand kam sie zurück. Sie blätterte zum 23. September und zeigte Milena den Eintrag: „U und M, 16 Uhr“. „Mein Geburtstag“, sagte sie. „Mathias war hier, zusammen mit Ulrich. Nur wir drei.“ Sie senkte den Kopf. „Das letzte Mal. Jetzt ist Mathias tot.“

„Was für ein Verhältnis haben Sie eigentlich zu Ihrer Schwägerin, Anja Herlof?“

Sandra Demandt hob den Kopf, in ihren langen Wimpern hingen Tränen. Sie musste lautlos geweint haben. Wenn die Frage sie überraschte, ließ sie es sich nicht anmerken. „Kein gutes“, gab sie zu. „Wir waren in der gleichen Klasse. In der Adolf-Reichwein. Sie ist ein Ekel, war es schon damals. Und frühreif. Sie war die Erste, die sich schminkte, die Erste, die einen Freund hatte, mit dem sie angab und rumknutschte. Und die Erste, die Sex hatte. Mit dreizehn. Hat sie zumindest behauptet.“ Sie wischte sich über die nassen Augen. „Mathias hat nicht gut gewählt. Das wurde ihm auch bald klar.“

„Hat er jemals angedeutet, dass er sich scheiden lassen wollte?“

„Nein. Ich habe ihm das geraten, mehr als einmal.“

„Aber er wollte nicht?“

„Leider nicht. Er sagte, er würde dem Luder den Gefallen nicht tun.“

***

Jan starrte der jungen Frau auf den Busen. Er saß zwischen Lucas, der bereits von hundertdreiundsechzig auf hundertachtundreißig Kilo abgespeckt hatte, und Erika, die seit mehreren Monaten bei hundertzwanzig Kilo rumdümpelte, an einem Ecktisch im Brauhaus auf der Kaiserstraße. Ann-Kathrin, die Jüngste und „nur“ hundertvierzehneinhalb Kilo schwer, saß ihm gegenüber. Ihr Busen war es, der ihn so beeindruckte.

Jan hatte im Fitnessstudio auf die drei gewartet. Keiner von ihnen wollte länger als nötig in der „Folterkammer“ bleiben. Schnell hatten sie sich mit Jan auf ein Bier geeinigt. „Dürft ihr das auch?“, hatte Jan sie gefragt. Sie hatten nur gelacht.

Sie waren eine fröhliche Gruppe, diese Dicken. So ganz anders als er selbst. Er erinnerte sich an eine Schulstunde, an vier Zeichnungen von Menschen unterschiedlicher Statur. Dick, mager und kräftig waren die Körper der ersten drei Typen, ein vierter wurde „abweichend“ genannt. Er hatte sich nur die Bezeichnung für eine Figur gemerkt: den Astheniker. Mager, engbrüstig, blass. Dort ordnete er sich selbst ein, denn „abweichend“ wollte er nicht sein. Hier saß er, ein Hänfling, verdorrt inmitten fleischlicher Völlerei. Ein Bier musste her, sie hatten recht.

„Hast du eine Freundin?“, fragte Ann-Kathrin.

Jan hob den Kopf und begegnete ihrem wissenden Blick. Er wurde rot. Er nahm ein Schluck Bier und nickte.

„Schade“, sagte sie.

„Hatte Mathias Bauer eine Freundin?“, griff Jan das Stichwort auf.

„Schwer zu sagen.“ Erika leckte am Schaum. Sie hatte ein türkisfarbenes, kurzärmeliges T-Shirt an. Ein Träger ihres schwarzen BHs war runtergerutscht und lag auf ihrem fleischigen Oberarm. „Wenn man die käuflichen Damen als Freundin bezeichnet, dann hatte er eine. Vielleicht auch mehrere. Aber ich glaube, er ging nur zu einer.“

„Huren?“, fragte Jan.

Erika nickte. „Was sonst?“

„Ich meinte eine ähm ... normale Freundin. Eine Frau, mit der er zusammen ziehen wollte.“

„Er hat mir von einer schicken Blondine erzählt“, sagte Lucas mit monotoner Stimme. Seit sie in der Kneipe saßen, hatte er sich noch nicht zu Wort gemeldet. „Er hat für sie eine Wohnung gekauft. Hat er gesagt.“

Erika lachte laut und gehässig. „Mir hat er erzählt, dass er beim König von Saudi-Arabien eingeladen war.“

„Und mir, dass er ein Topspion ist“, fiel Ann-Kathrin ein. „Oder hat er Agent gesagt?“

„Aber wir wissen Bescheid“, sagte Erika. „Er lebt allein und hat einen langweiligen Job.“

„Und geht in den Puff“, fügte Ann-Kathrin hinzu.

Jan wusste nichts über Reisen nach Saudi-Arabien oder einen geheimnisvollen Auftrag. Aber eine Wohnung hatte Mathias Bauer gekauft. Für eine Frau, wie Lucas meinte? Eher nicht, Bauer hatte dort allein gelebt. Lucas musste sich täuschen. Oder er war getäuscht worden.

„Allerdings flog er öfters ins Ausland“, sagte Ann-Kathrin.

Erika schüttelte kräftig den Kopf.

„Doch“, bekräftigte Ann-Kathrin. „Er hat mir die Tickets gezeigt. Viermal allein in diesem Jahr.“

„Als Sextourist nach Thailand?“ Erikas Lachen klang wie das Meckern einer Ziege.

„Nein. Ich glaube eher in den Nahen Osten.“

„Und sicher First Class mit doppeltem Übergewicht.“

Die drei schauten sich an und prusteten.

„Waren die Reisen geschäftlich oder privat?“, fragte Jan, ohne auf den eigenwilligen Humor einzugehen.

Ann-Kathrin zuckte ihre Schultern. „Ich glaube, privat. Aber vielleicht auch nicht.“

Jan machte sich eine Notiz. Sie hatten in der Wohnung von Mathias Bauer keine Flugtickets gefunden. Ohne Angabe von Reisetagen würde es eine Heidenarbeit sein, die Passagierlisten zu überprüfen. „Weißt du vielleicht, wann das war?“

Ann-Kathrin zuckte mit den Schultern. „Irgendwann im Frühjahr und im Sommer, glaube ich.“

Die Tür ging auf und Jans Freund Nils kam herein, in Begleitung von zwei Frauen, die Jan nicht kannte. Er winkte Jan kurz zu. Arbeit?, formten seine Lippen und Jan nickte hastig. Ann-Kathrin fing den Blick von Nils auf und schaute ihm nach. Dann drehte sie sich wieder zu Jan um. Ihre Augen verengten sich.

„Er hat mir im Sandkasten immer die Schaufel geklaut“, sagte Jan und zeigte auf Nils. „Wahrscheinlich bin ich wegen ihm Polizist geworden.“

Ann-Kathrin schaute stumm in ihr Bier.

Schade, dachte Jan, es war gerade so gut gelaufen. Er wandte sich an Erika, die von dem Geschehen nichts mitbekommen hatte und wieder einmal ihren BH-Träger nach oben schob.

„Hatte Mathias gesundheitliche Probleme beim Training? Ist er zusammengebrochen? Hat er geschwankt? War er mehr als nur erschöpft?“ Ich mach das falsch, dachte er. Zu viele Vorgaben lenken die Befragten davon ab, sich an eigene Beobachtungen zu erinnern. Alex würde dieses Gespräch wesentlich professioneller angehen.

Erika beugte sich zu ihm vor und wisperte: „Nicht beim Sport. Aber er war im Krankenhaus. Allerdings ist das schon ungefähr zehn Kilos her. Er sagte, er habe eine Impfung nicht vertragen.“

Jan nahm den letzten Schluck Bier. „Was heißt denn zehn Kilos her?“

Erika überlegte. „Vielleicht drei Monate.“

„Drei Kilo pro Monat, ist das viel oder wenig?“

„Dicke nehmen am Anfang schnell ab. Dann wird es die reinste Tortur. Manchmal geht für mehrere Wochen gar nichts mehr.“ Erikas Miene verfinsterte sich und ihre Gefährten stimmten ihr mit Leidensmienen zu. „Wenn ich bedenke, dass ich so viel abnehmen muss, wie du wiegst, um mein BMI bei Normalgewicht einzupendeln“, sagte sie mit einem bekümmerten Blick auf Jans schlanke Statur. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass sie ihn als Fremdkörper wahrnahmen. Als jemanden, der ihre Leiden niemals verstehen konnte.

Jan blickte kurz auf seine Armbanduhr. „Ich muss los“, sagte er hastig. „War nett mit euch. Wenn noch etwas ist, dann weiß ich ja: Training von achtzehn bis zwanzig Uhr.“ Er stand auf, klopfte kurz auf den Tisch und drehte sich um.

„Auch Sonntags“, rief Erika ihm hinterher.

Der Tote vom Winterstein

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