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Kapitel 3 / 6. Oktober
ОглавлениеAm nächsten Tag steckte Hauptkommissar Alexander Wege im Haagweg in Bad Nauheim den Schlüssel in das Schloss einer Wohnungstür im oberen Stock. Zwei Schlüssel in zwei Schlösser, um genau zu sein. Als Alex den zweiten Schlüssel umdrehte, hörte er ein Klacken. Also war zusätzlich zum Kastenschloss ein Riegel, längs oder quer, angebracht worden. Mathias Bauer hatte sein Eigentum gut gegen Einbrecher gesichert. Aus der Mietwohnung im Dachspfad war der Mann nach Recherchen der Kollegen vor drei Monaten ausgezogen, der Hausmeister hatte ihnen keine Folgeadresse nennen können. Auch keiner aus der Familie. Nur Tochter Laura wusste Bescheid, hatte sie ihn doch als Einzige regelmäßig besucht. Auf dem Einwohnermeldeamt war man verwundert gewesen, dass Bauer sich nicht umgemeldet hatte. Es gab ein Aufatmen, als sich herausstellte, dass zumindest das Grundbuchregister auf dem neuesten Stand war.
Alex betrat zusammen mit Milena und Jan die Wohnung. Er streifte sich Handschuhe über und wies seine Mitarbeiter an, es ihm nachzutun.
Es roch muffig. Kein Wunder, dachte Alex, die Wohnung war seit fast einer Woche verwaist und folglich weder gelüftet noch gereinigt worden. Offensichtlich hatte Bauer keine Putzfrau beschäftigt. Oder Putzhilfe oder wie immer man es heute nannte. Die Küchentür stand einen Spalt offen, Alex sah benutztes Geschirr auf dem Tisch stehen, ansonsten war die Küche sauber.
Er inspizierte das Wohnzimmer, während Jan sich die Küche vornahm und Milena das Schlafzimmer. Es war mit dem Wohnzimmer verbunden und Alex konnte Milena bei ihrer Arbeit beobachten. Sie ging systematisch vor, checkte den Inhalt des Kleiderschrankes und einen kleinen Berg schmutziger Wäsche. Es gab nichts an ihrem Vorgehen auszusetzen. Doch was sollte er in ihre Beurteilung schreiben, die fällig sein würde, wenn der Leiter des K 11 in Frankfurt seinen Antrag auf Versetzung positiv beantwortete? Gewissenhaft, teamfähig und vernünftig? Nein, eher stur, eigensinnig und impulsiv. Und in der Regel auch clever und zuverlässig. Eigenschaften, die Milena in seinen Augen zu einer guten Mitarbeiterin machten, die aber nicht jeder schätzte. Also doch die unehrliche Variante. Er musste ihr zu mehr Vorsicht raten, ein anderer Chef würde sich weniger bieten lassen.
Als Milena sich bückte und unter das Bett sah, spannte sich ihre etwas ausgebeulte Jeans über ihren durch viele Stunden Fitnesstraining wohlgeformten Hintern. Dann stand sie wieder auf und drehte sich abrupt um. Alex wandte hastig seinen Blick ab. Milena würde sich beim kleinsten Anzeichen sexueller Belästigung über ihn beschweren. Und diesen negativen Eintrag würde er aus seiner Akte nicht so schnell wieder herausbekommen.
Alex wandte sich mit diesem Gedanken von Milena ab und konzentrierte sich auf seine eigene Aufgabe. Auf einem kleinen Computertisch stand der Laptop, von dem David Balzer gesprochen hatte. Alex überprüfte das Modell, während der Rechner das Betriebssystem lud. Der Laptop war überraschenderweise nicht mit einem Passwort versehen. Außer dem Button auf dem Desktop, der die Verbindung zur Firma herstellte und den Mathias Bauer mit dem Namen „Saftladen“ versehen hatte, und den Standard-Icons wie „Papierkorb“, gab es keine weiteren Verknüpfungen. Schnell hatte Alex die wenigen privaten Ordner durchsucht, die unter „Eigene Dokumente“ gespeichert waren. Es gab einen Ordner mit Textdateien, offizielle Briefe an verschiedene Adressaten. Er fand auch eine Tabelle relativ neuen Datums. In der ersten Spalte waren die Monate genannt, gefolgt von Spalten mit abgekürzten Titeln, die er nicht verstand und Zahlenreihen. Keine Bilder, keine Videos, keine Musik und verdächtig wenig Dokumente. Vielleicht hatte Mathias Bauer irgendwo eine externe Festplatte versteckt.
Alex zog die Schubladen des Schreibtisches auf und entdeckte ganz zuoberst ein abgegriffenes Album für Sammelbildchen, Fußball-WM 2006. Das Sommermärchen. Ansonsten fand er die üblichen Büroutensilien: Locher, Tacker, Stifte. Keine externe Festplatte.
In dem Regal über dem Schreibtisch standen einige Ordner, die mit privaten Unterlagen gefüllt waren. Rechnungen, Bankauszüge, Steuererklärungen, einige waren Ausdrucke der im Computer gespeicherten Dateien. Er unterzog die oben liegenden Schreiben einer oberflächlichen Prüfung. Keine Schulden, keine Rechtsstreitigkeiten, zumindest nicht in jüngster Zeit.
Alex blätterte in dem Bankordner und pfiff so laut, dass Milena aus dem Schlafzimmer kam. Er drehte sich zu ihr um und hielt ihr den aktuellsten Bankauszug hin: 25.345,15 Euro, im Plus. „Laut letztem Steuerbescheid hatte er ein Jahresgehalt von gerade mal sechsundzwanzigtausend Euro“, sagte er. „Brutto, wohlgemerkt.“
„Es kommt noch besser“, sagte Milena und hielt grinsend zwei Sparbücher hoch. „Jeweils Zwanzigtausend, fest angelegt auf fünf Jahre mit jährlich steigenden Zinsen. Wer weiß, was sonst noch auf der Bank schlummert.“
Er habe nichts gefunden, hatte Balzer gesagt. Keine Zahlungen für Sonderdienste. „Woher kommt das ganze Geld?“, murmelte Alex.
„Vielleicht hat er äußerst sparsam gelebt.“ Milena schaute sich im Zimmer um. Alex folgte ihrem Blick und verstand, was sie meinte. Die Einrichtung war Massenware aus einem billigen Möbelmarkt.
„Was ist mit dem Inhalt des Schrankes?“ Alex deutete mit dem Kopf in Richtung Schlafzimmer.
„Es gibt Kleidung in zwei verschiedenen Größen. Er scheint in letzter Zeit einige Kilos abgenommen zu haben.“
„Das kann sein.“ Jan war ins Zimmer gekommen und wedelte mit einem Flyer. „‚Geteiltes Leid ist halbes Leid’, heißt es hier. Ein Programm zum Abnehmen von einem Fitness-Coach namens Dirk Eismann. Lag in der Schublade vom Küchentisch. Bauer hat einen Termin notiert, der etwa ein halbes Jahr in der Vergangenheit liegt. Wir sollten da vorbeischauen.“
„Das machst du“, entschied Alex. „Prüfe nach, ob er sich mit Diät und Sport nicht übernommen hat. War er besonders schlapp, ist er öfter umgekippt? So was in der Richtung. Wenn ja, kann das am Winterstein auch passiert sein.“
Alex schaute auf den Ordner in seiner Hand. „Das Geld ist eine andere Sache. Für Geld mordet man. Wir müssen herausfinden, ob er noch mehr hatte.“ Alex legte den Bankordner ab und nahm einen mit der Aufschrift „Kaufvertrag“. Es ging um die Wohnung, in der sie sich gerade befanden. Der Kaufpreis war nicht gerade niedrig gewesen, Alex hätte diese Summe jedenfalls für diesen einfachen Bau nicht ausgegeben, gute Lage hin oder her. Die Wohnung war in bar bezahlt worden. Bar! Woher hatte Mathias Bauer so viel Geld?
„Da ist noch was.“ Milena ging zurück ins Schlafzimmer, Alex folgte ihr. Vorhin hatte ihm die halb offene Tür den Blick verstellt, nun sah er sie sofort: eine kleine Puppe mit großen, blauen Klappaugen und blonden, zu Zöpfen geflochtenen Haaren. Sie trug ein Dirndlkleid, weiß mit roten Blümchen, Puffärmeln und einer roten Schürze. Die Puppe saß auf einem Kissen auf dem Bett. Gehörte sie der Tochter?
Milena kräuselte ihre Lippen. „Nicht gerade eine Sexpuppe“, sagte sie.
„Du klingst enttäuscht.“
„Überleg doch mal, Alex: Ein erwachsener Mann lebt seit Jahren allein und schläft neben einer Mädchenpuppe im Dirndl. Eine Sexpuppe wäre mir definitiv lieber gewesen.“
„Vielleicht gehört sie Laura.“ Doch was machte sie dann hier in Bauers Schlafzimmer? Jan hatte berichtet, dass Laura an den Wochenenden immer bei ihren Großeltern übernachtete.
„Das glaube ich nicht. Ich habe die gleiche Puppe, ein Modell vom Anfang der 80er. Meine ist aber in einem besseren Zustand. Schau doch, das Gesicht sieht richtig abgeleckt aus.“
Alex dämmerte, worauf Milena aus war. „Pädophil?“
„Er könnte Mädchen damit angelockt haben. Vielleicht hat er auch seine Tochter missbraucht.“
Alex strich mit einer Hand über die Borsten auf seinem Kopf. „Möglich.“
„Und jemand hat ihn dafür bestraft.“
Alex blickte auf die Puppe und nickte. „Sprich mit Lauras Mutter. Wenn es geht, auch mit Laura selbst. Aber sei behutsam. Wir wollen keine schlafenden Hunde wecken.“
„Nun schaut euch das mal an!“, rief Jan. Er hatte die Tür zum dritten Zimmer aufgestoßen und sein Ausruf ließ Alex herumfahren. Im Geiste sah er Kinderleichen in Tiefkühltruhen oder luftdicht verschlossenen Plastiksäcken. Schnell folgte er Jan und atmete erleichtert auf. Bücherregale, vom Boden bis an die Decke. Fast alle Reihen waren mit Taschenbüchern gefüllt. Alex’ Blick tastete die Bretter ab. Ein paar Autoren kannte er, Stanislaw Lem und George H. Wells, P. G. Lovecraft. Tolkiens „Herr der Ringe“, auch Rowlings „Harry Potter“. Die silberblaue Perry-Rhodan-Reihe. Es gab keine Krimis oder Thriller, keine Gedichtbände und keine klassischen oder zeitgenössischen Romane. Nur Fantasy und Science-Fiction.
Das war keine billige Regalwand, sondern die Spezialanfertigung eines Möbelschreiners. Die Regalwand war doppelt, die vorderen Teile ließen sich auf im Boden und in der Decke installierten Schienen seitlich bewegen. Fünf Regalteile an jeder Wand, davor nochmals vier. Pro Brett gab es etwa zwanzig Bücher. In jedem Regal gab es acht Reihen. Alex rechnete kurz. Allein die eine Wand bestand aus fast tausendfünfhundert Büchern. Selbst wenn Bauer trotz eines Vollzeitjobs die Zeit gehabt hätte, wöchentlich zwei Bücher zu lesen, dann konnte er sich pro Jahr rund hundert Bücher reinziehen. Nahm man einen Zeitraum von vielleicht fünfzehn Jahren an, dann war dies eindeutig zu wenig, um dreitausend Bücher zu lesen. Wahrscheinlich war Bauer eher ein Sammler denn ein Leser. Alex ging zum Regal und zog ein besonders abgegriffenes Exemplar von Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ heraus. Das kannte er noch aus der Schule. Er blätterte zur ersten Innenseite. „Helga Klein“ stand dort in einer fast kindlichen Schrift. Ein gebraucht gekauftes Stück.
Ein Lesesessel mit einem Beistelltisch machte das Ensemble komplett. Eine in doppeltem Sinne phantastische Bibliothek und wohl ein Raum, in dem sich Mathias Bauer gerne aufgehalten hatte. Auch kurz vor seinem Tod, wie eine benutzte Kaffeetasse auf dem Beistelltisch verriet.
„Hier ist noch etwas“, sagte Milena. Sie stand im Türrahmen und wedelte mit einer kleinen Schachtel. „Kondome. Waren im Bad. Leider keine gebrauchten im Mülleimer.“
„Vielleicht im Schlafzimmer?“
Milena schüttelte den Kopf.
„Zwei Möglichkeiten“, sagte Alex. „Frauenheld oder Kinderschänder.“
Jan stellte sich neben Milena. „Also, Frauenheld schließe ich aus.“
„Warum?“, fragte sie. „Weil er dick war? Er hat schließlich eine Ehefrau.“
„Und wieder verloren“, sagte Alex.
„Es gibt hier nichts, was auf eine Frau hinweist“, sagte Jan. „Noch nicht mal ein Bild.“
Milena verschränkte die Arme vor ihrer Brust. „Nicht jeder braucht das Bildnis seiner Liebsten, um sich an sie zu erinnern, Jan.“
Alex schmunzelte. Er wusste, worauf Milena anspielte. Auf Jans Schreibtisch standen zwei Bilder seiner Freundin Saskia, im Portemonnaie steckte ein weiteres. Den Desktop seines PCs schmückte ein Schnappschuss des glücklichen Paares an irgendeinem Strand.
Jans Gesicht überzog eine feine Röte. Doch so unfair Milena sich auch benahm, Jan würde sich nicht provozieren lassen. Alex schätzte diese Eigenschaft an ihm.
„Frauenheld ist mir jedenfalls lieber als Kinderschänder“, sagte Milena.
Jan zeigte Richtung Schlafzimmer. „Keine Nachtwäsche.“ Er drehte sich um und zeigte Richtung Bad. „Keine Kosmetik, keine zweite Zahnbürste. Glaub mir, er war Single.“
„Ok, sie hat nicht hier gewohnt. Aber das heißt nicht, dass er keine Freundin hatte. Er ist ein moderner Mensch. Sicher hat er ihre Nummer im Handy gespeichert. Wir haben keins bei ihm gefunden. Kein Mensch lebt heute ohne Handy, schon gar nicht ein Informatiker. Es war in dem Rucksack, den wir nicht gefunden haben.“
„Weil es keinen Rucksack gibt.“ Alex schaute Milena mit festem Blick an. Sie starrte zurück. Er kannte ihre Einstellung zu diesem Punkt. Für ihn war der fehlende Rucksack reine Spekulation. Sie dachte gerne in Eventualitäten. Das war nicht falsch, aber meistens vergeblich.
Milena schloss für einen Moment die Augen. Damit blieb er Sieger des Blickduells. Für dieses Mal. Sie wusste, dass er am längeren Hebel saß und gab nach. Vergessen würde sie nichts.
Milena schob sich kommentarlos aus der Bibliothek, Jan folgte ihr, leise auf sie einredend. Alex schaute sich noch einmal um. Dann schloss er sich ihnen an.
***
Milena joggte am Abend die kleine Runde. Zuerst lief sie von der Kaiserstraße, wo sie wohnte, über die Seewiese zum Steinernen Kreuz. In der Vergangenheit war es die Grenzmarkierung zwischen den damals noch selbständigen Städten Ockstadt und Friedberg gewesen. Heute lag es mitten im westlichen Neubaugebiet, das sich langsam, aber sicher in die Felder Richtung Taunus fraß.
Noch kann ich die Natur hier genießen, dachte sie. Doch eines Tages wird an dieser Stelle vielleicht eine Großstadt sein, noch eigenständige Orte wie Bad Nauheim oder Rosbach werden von ihr verschluckt, Friedberg nur ein Stadtteil von ... Taunusheim? Wetterberg?
Sie hielt an, trat auf der Stelle. Der Taunus hatte sein Herbstkleid angezogen. Der Anblick war für sie der zweitschönste im Jahr. Noch schöner war es im Frühling, wenn der Ockstädter Kirschenberg in weißer Blütenpracht leuchtete. Sie lief weiter auf dem Feldweg Richtung Ockstadt. Noch zehn Minuten, dann würde sie die Unterführung bei der B3 hinter sich gelassen haben.
Sie blickte nach links auf die grünen Blätter der Zuckerrüben. Nach der letzten Ernte werden die Felder mehrere Wochen lang in Winterruhe versinken dürfen, um im Frühjahr wieder aufgerüttelt zu werden. Der jährlich wiederkehrende Rhythmus, dachte sie. Beruhigend und zuverlässig. Wie lange wird er noch da sein? Nicht auszudenken, wenn hier alles in eine Stein- und Teerwüste verwandelt ist. Wenn es schon nicht zu verhindern ist, dann kommt es hoffentlich nicht zu schnell.
Sie war jetzt dreißig. Und noch Single. Sie hatte deshalb im August vor dem Rathaus fegen müssen. Ein alter Brauch, wurde ihr gesagt. Ein letzter Versuch, unter die Haube zu kommen. Jan hatte das organisiert. Ein pockennarbiger, etwas untersetzter Mann hatte sie nach unendlichen fünfunddreißig Minuten mit einem langen Kuss erlöst. Jans Bruder Andreas. Sein Kuss war erstaunlich sinnlich gewesen.
Unwillkürlich musste sie an Elmar denken, ihren letzten Freund. Es war nicht gut gegangen. Wieder mal. Wie so oft hatte sich die anfängliche Lust in träge Routine verwandelt. Wenn es je Liebe gewesen war, so war sie nach kurzer Zeit verschwunden. Ab und zu traf sie sich noch mit ihm zum Kinobesuch oder auf einen Kaffee. Mehr lief nicht. Er hatte eine neue Freundin, und sie war immer noch alleine. Seit über einem Jahr. Sie wollte keine neue Beziehung, nur um nicht allein zu sein.
Sie hatte inzwischen die Gewächshäuser der Gärtnerei an den Weilerwiesen erreicht. Sie drehte sich um und lief ein paar Schritte rückwärts. Ihr Blick streifte den langen Hügel, auf dem Friedberg erbaut war. Es gab drei markante Gebäude, links die Burg mit dem Adolfsturm, in der Mitte die mächtige Stadtkirche und rechts den Wartturm, ein alter Wasserspeicher aus dem vorletzten Jahrhundert. Von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne beleuchtet, drehten sich gemächlich die Rotoren von drei Windrädern. Seit nunmehr vier Jahren war diese Stadt ihre Heimat.
Milena kam aus einem Dorf in der hessischen Rhön, einer sehr katholischen Gegend. Ihre Eltern waren noch heute in der Kirchengemeinde aktiv, die zahlreichen Skandale innerhalb der katholischen Kirche hatten ihren Glauben nicht erschüttern können. Milenas Kindheit war geprägt gewesen von Ministrantendienst und Pfadfinderlagern. Ihre Teenagerzeit verbrachte sie zwischen Dorfdisco, Schützenverein und den mehr oder weniger aufregenden Veranstaltungen der Landjugend. Nach dem Abitur kam der große Wandel. Frankfurt lockte mit der Verheißung eines turbulenten Lebens in einer weltoffenen Großstadt. Sie erinnerte sich noch gut an die Freude, die sie empfunden hatte, als sie ihre Ausbildung an der dortigen Polizeiakademie begann. Als Milena mit ihrem Zeugnis in der Tasche die Stadt wieder verließ, war der Glanz verblasst, die Künstlichkeit und die Unrast der Metropole am Main hatte sie oft melancholisch werden lassen. Sie lebte in einem winzigen, aber teuren Appartement. Sie fühlte sich darin gefangen, ging so oft wie möglich raus in die Natur. Was die Städter eben Natur nannten. In Frankfurts grünen Lungen drängten sich die Ausflügler, sie nahmen ihr die Luft zum Atmen. Erholen konnte sie sich dort nicht. Der Radweg an der Nidda war von Freizeitsportlern überflutet. Im Sommer träumte sie sich weg vom Lärm der Großstadt hin zu den lauschigen Plätzen ihres Heimatdorfes. Im Winter lief sie missmutig durch den Matsch und sehnte sich nach den schneebedeckten Hügeln der Rhön. Was mache ich eigentlich hier? Diese Frage war ihr steter Begleiter geworden. Dann kam das Angebot aus Friedberg, es erschien ihr wie ein Rettungsring im tosenden Meer.
Milena drehte sich wieder um und lief Richtung Ockstadt. Die Sonne war bereits hinter dem Taunus untergegangen, die Dämmerung würde ihr aber für den Heimweg noch genügend Licht spenden. Sie fühlte sich wohl hier. Sie brauchte keine ständige Ablenkung, kein vielfältiges Kulturangebot. Bin eben doch ein Landei, dachte sie. Bin ich auch ein zufriedenes Landei? Ledig. Single. Kinderlos. Das alles hört sich nach Defiziten an. Habe ich auch was Positives erreicht? Was macht meine berufliche Karriere? Ich bin Kriminalkommissarin. Ich könnte weiter kommen. Kriminalhauptkommissarin König, klingt doch gut. Alex klettert die Stufen der Karriereleiter höher und ich rücke nach. Das Spiel geht weiter bis zur Pensionierung.
Sie gelangte an den Abzweig zur Hollarkapelle. Ein Auto stand etwas abseits am Feldweg. Vermutlich gehörte es Joggern oder Spaziergängern. Sie schaute sich um, konnte jedoch keinen Menschen entdecken.
Normalerweise lief sie ihre Runden zusammen mit ihrer Freundin Ilona und deren Freund Frank. Heute jedoch nicht. Nach der Lagebesprechung hatte Milena noch ihre Aufzeichnungen in den Computer eingegeben, war deshalb länger als üblich am Arbeitsplatz gewesen und hatte erst spät loslaufen können.
Es waren ungewöhnliche Tage gewesen. Ungeklärte Todesfälle hatten sie zwar des Öfteren zu untersuchen. Der Fall Bauer war jedoch sonderbar. Der Mann hatte tagelang im Wald gelegen, doch niemand hatte ihn vermisst. Die Witwe war froh, die restliche Familie einigermaßen gefasst. Auch Bauers Chefs waren über das Ableben ihres Mitarbeiters nicht sonderlich entsetzt. Alex glaubte an einen Unfall. Sie war anderer Meinung, aber er leitete die Ermittlungen, und er tat dies souverän. Er hatte keine Angst, Verantwortung zu übernehmen, auch wenn er mal daneben lag. Und daneben lag er selten, er hatte sich als leitender Ermittler einen guten Ruf erarbeitet. Er war bei der Polizei in Kassel gewesen, bevor ihn die Liebe oder sonst was nach Friedberg geführt hatte. Er war eigentlich kein Kleinstadtbürger, oft merkte Milena bei ihm eine Unzufriedenheit, die er aber niemanden spüren lassen wollte.
Ich achte einfach zu viel auf ihn, dachte sie. Wird Zeit, dass ich mich auf mein eigenes Leben konzentriere.
***
Jan stöhnte wohlig. Er hörte ein leises Kichern. Er stöhnte noch einmal. Er lag bäuchlings auf dem Bett, die Stirn auf einem harten Kissen, die Arme nach vorne gestreckt. Aus einem Lautsprecher klang Musik von Katie Melua. Sanft und doch kraftvoll, wie die Hände von Saskia, die rittlings auf ihm saß und seinen Rücken und Nacken mit einem nach Orangenblüten duftenden Öl massierte. „Das tut gut“, murmelte er in das Kissen. „Bisschen weiter unten.“
Erneut hörte er ein Kichern. „Die Richtung stimmt schon mal“, sagte Saskia. „Du müsstest dich nur noch umdrehen.“
„Am Bauch hab ich nichts.“ Er war kurz vorm Einschlafen.
Saskia seufzte. „Ach Schatz, das soll erotisch sein. E-ro-tisch, verstehst du?“
„Das wird heute nichts, Sissi.“ Jan schlug die Augen auf. Würde sie auf seinen Rücken klopfen und von ihm runterrutschen? Dann wäre sie verstimmt. Was selten vorkam und was er gerade heute nicht gebrauchen konnte. Der Tag war hart gewesen, Alex hatte Milena und ihn mit Arbeit zugedeckt. Berechtigterweise, es gab nicht oft einen Todesfall zu klären. Es bedeutete allerdings auch, dass sie vielleicht den großen Auftritt vergessen konnten, den sie für das nächste Wochenende geplant hatten.
Saskia klopfte nicht auf seinen Rücken, glitt aber von ihm runter und legte sich neben ihn.
„Stress?“, fragte sie mit sanftem Ton.
Er lächelte sie an. Er liebte sie. Seine verständnisvolle Frau. Er nannte sie in Gedanken immer so, auch wenn sie nicht verheiratet waren. Noch nicht.
„Geht noch“, erwiderte er und gähnte mit vorgehaltener Hand. „Aber ich weiß nicht, ob wir nächsten Sonntag ...“
Sie drehte sich auf den Rücken. „Letztes Mal war es die Einbruchserie.“ Ihr Ton war nüchtern, aber auch ein wenig bitter. „Wir hatten es tatsächlich geschafft, deine Eltern, meine Eltern, deine Schwester, deinen Bruder und meinen Bruder auf einen gemeinsamen Termin festzunageln. Dann hat Major Ways gerufen, Soldat Sielau stand stramm und die Verlobung fiel ins Wasser.“
Jan grinste erleichtert. Hätte Saskia „dein blöder Chef“ gesagt, wäre das ein Alarmzeichen gewesen. „Major Ways“ war ihr Geheimcode, ein Augenzwinkern, ein Dampf-Ablassen, wenn sein Dienst ihren Plänen dazwischen kam.
„Du hast einen Bullen gewählt“, erinnerte er sie.
„Und keinen Ochsen, ich weiß.“ Sie schwang sich vom Bett, ging zum Schrank, nahm einen Bademantel vom Haken und zog ihn sich langsam über den nackten Körper. Sie stellte sich verführerisch in Pose. „Oder vielleicht doch?“
Jan setzte sich auf und stopfte sich das Kissen in den Rücken. „Diesmal sagen wir es ihnen auf jeden Fall. Wenn nötig, über Skype.“
Saskia setzte sich an ihren Frisiertisch. Sie besaß so ein altmodisches Ding mit einem großen, an manchen Stellen bereits blinden Spiegel. Sie zupfte an einer Haarsträhne, dann griff sie nach einer Cremedose. Sie schraubte den Deckel ab und hielt inne. Sie schaute ihn an, Schalk in den Augen. „Das wär's doch. Skype.“
Ist sie doch verärgert?, fragte sich Jan. Manchmal fiel es ihm schwer, ihre Stimmungen auszuloten, auch wenn sie bereits seit mehr als zehn Jahren ein Paar waren.
„Ich sag ja nur, vielleicht“, sagte er eilig. „Alex glaubt nicht an einen Mord, also kann es sein ...“
„Im Ernst“, unterbrach ihn Saskia. „Mama weiß, wie das geht, seitdem Hubsi in den Staaten war.“ Hubsi war ihr Bruder Hubert. „Dein Vater kann auch damit umgehen. Unsere Geschwister sowieso. Wär doch originell. Wir fahren irgendwo hin, morsen alle an und wenn wir sie zusammen haben, halten wir die Ringe ins Bild.“
„Das ist weder romantisch noch feierlich.“ Jan beobachtete, wie sie sich wieder zum Spiegel drehte, einen Klacks Creme auf ihren Finger nahm und sie auf die weiche Haut unter ihren Augen strich. „Lass uns einfach abwarten.“
Ihre Verlobung sollte kein beiläufiges Ereignis werden. So vieles in ihrem Leben war vernünftig abgewägt worden. Ihre Berufswahl, beide Beamte, er bei der Polizei, sie beim Finanzamt. Noch wohnten sie zur Miete, aber sie schauten sich bereits nach einem Eigenheim um. Mit großem Garten, genug Platz für zwei, drei spielende Kinder. Hier in Friedberg, die Familien quasi um die Ecke.
Jan klopfte auf das Kissen neben sich. Saskia zögerte erst, dann stand sie langsam auf und setzte sich zu ihm aufs Bett. Er zog sie in seine Arme und gab ihr einen Kuss. „Kein Skype“, sagte er. „Am nächsten Sonntag fahren wir mit unseren Familien im Oldtimerbus zum Kloster Arnsburg und stoßen dort mit ihnen auf unsere Verlobung an.“
„Und dein Chef?“
„Wird einen Tag ohne mich auskommen können.“ Es klang zuversichtlicher, als er sich fühlte.
***
Sein Fuß wippte im Takt der Musik, doch Alex war nicht bei der Sache. Seine Gedanken verirrten sich in zwei Richtungen: zum Fall Bauer und zu seinem Antrag auf Versetzung nach Frankfurt.
Beim Toten vom Winterstein deutete momentan alles auf einen Unfall hin. Die Obduktion war zwar noch im Gange, er rechnete aber nicht damit, dass die Erkenntnisse stark von Dr. Bremers erster Einschätzung abweichen würden. Einen konkreten Hinweis für ein Tötungsdelikt gab es nicht, geschweige denn einen Verdächtigen.
Alex‘ Antrag auf Versetzung hatte die nächste Hürde genommen. Noch am Freitag hatte er ein aufschlussreiches Gespräch mit seinem potentiellen zukünftigen Chef geführt. Sollte das Präsidium zustimmen, stand seinem neuen Job nichts mehr im Wege. Außer ...
Alex drehte seinen Kopf und betrachtete das Profil seiner Freundin Dorothea. Sie saß mit erhobenen Kinn und ausgestreckten Beinen auf dem unbequemen Stuhl. Er wusste nicht wie sie es schaffte, gleichzeitig entspannt und aufmerksam zu erscheinen.
Sie hatte ihn heute Abend zu der Veranstaltung in der Aula der Augustinerschule geschleppt. Theas Nichte spielte Klarinette im Schulorchester. Nicht, dass Alex sich langweilte. Er mochte sogar die lateinamerikanische Musik, auch wenn sie hier eher sorgfältig einstudiert wirkte und weniger aus dem Bauch heraus kam. Vor vielen Jahren war er in Frankfurt bei einem Konzert des „Buena Vista Social Club“ gewesen und seitdem von den karibischen Rhythmen begeistert. Er hatte Kuba besucht, war auf Jamaica gewesen, in New Orleans und Venezuela. Das war, bevor er Thea kennengelernt hatte. Nicht, dass er seitdem keinen Urlaub mehr gemacht hätte, aber ihre gemeinsamen Reisen hatten sie nach Paris, Schweden, Thailand und aufs Baltikum geführt. Interessant, keine Frage, aber so kulturbeflissen. Als er in Schweden Angeln gehen wollte, hatte Thea ihn angeblickt, als habe er einen Flug zum Mond vorgeschlagen. Dieses Jahr hatten sie sich zum ersten Mal nicht auf ein Ziel einigen können. Er hatte mit einem alten Kumpel aus Kasseler Tagen einen Trip nach Kanada gebucht. Zwei Männer in einer einsamen Hütte an einem einsamen See, ein Traum von einem Urlaub. Thea wusste davon noch nichts.
Er drehte seinen Kopf wieder Richtung Orchester. Thea wusste auch noch nichts von seiner Absicht, in Frankfurt zu arbeiten. Er fürchtete sich vor den Konsequenzen. Er war ein effizienter Chef, aber ein lausiger Partner. Thea würde diskutieren, ihn umstimmen wollen. Worüber sollten sie diskutieren? Sie würde nicht mit ihm in die Großstadt ziehen. Sie war Lehrerin an einer Grundschule in Bad Nauheim und es war ihr schon lästig genug, jeden Tag mit dem Auto die drei Kilometer von Friedberg in die Nachbarstadt zu fahren. Er hingegen wollte wieder raus aus der Provinz und rein ins Großstadtgetümmel. Er wusste, was das bedeutete: eine Wochenendbeziehung mit allen Höhen und Tiefen oder ein Schlussstrich unter eine fünfjährige, meist harmonische, aber nie perfekte und manchmal auch eintönige Partnerschaft.
Thea beugte sich zu ihm herüber. „Sie spielt nicht schlecht“, flüsterte sie. Ihre Schwester wollte von ihr eine ausführliche Beurteilung des musikalischen Talents der Tochter. Und die würde sie auch bekommen, gnadenlos ehrlich. „Aber der Feinschliff fehlt.“