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Wohin denn gehen wir?
ОглавлениеBRENTA-DOLOMITEN | CROZZON DI BRENTA
Via delle Guide
VI– | 800 Meter
Diese Frage stellt sich regelmäßig anlässlich der Planung einer Klettertour. Viele Wege bieten sich an, verlockende Ziele stehen zur Auswahl. Wofür soll ich mich mit meiner Kletterpartnerin, meinem Kletterpartner entscheiden? Von der richtigen Wahl hängt viel ab. Die Route darf nicht zu leicht, aber auch nicht zu schwer sein. Enthält sie zu wenig an Herausforderung, können wir uns für sie nicht richtig begeistern, ist sie aber zu anspruchsvoll, löst sie möglicherweise Versagensängste in uns aus. Hier gilt es klug zu wählen. Das ist nicht immer ganz leicht. Folge ich allein meinem Ehrgeiz, gerate ich in die Gefahr mich zu überfordern. Höre ich aber nur auf meine Angst, kann ich am besten gleich zu Hause bleiben. Wie Herkules am Scheideweg, stehe auch ich vor verschiedenen Alternativen und muss mich entscheiden. Diese Gesetzmäßigkeit begegnet mir nicht nur beim Klettern – auch im beruflichen Leben und im zwischenmenschlichen Bereich gilt es klug zu wählen und die Mitte zwischen Unter- und Überforderung zu finden. So gesehen sind meine alpinen Unternehmen in vielem eine Einübung in das, was der gewöhnliche Alltag mir abverlangt.
Wenn man im Gebirge unterwegs ist, besteht eine erste Aufgabe einmal darin, den richtigen Weg zu finden und dann auch darauf zu bleiben. Das ist aber nicht immer einfach, vor allem wenn ungünstige Witterungsverhältnisse wie Nebel, Regen oder Schneefall die Orientierung noch zusätzlich erschweren. Auch bei einer Klettertour ist eine zuverlässige Wegfindung entscheidend für die Sicherheit der Seilschaft. Unterstützen den Bergsteiger in der Regel befestigte Steige und farbige Markierungen, so ist von all dem bei einer alpinen Klettertour nichts mehr zu finden. Wo man durch eine Wand kommt, ist nirgendwo angezeichnet. Zwar trifft man immer wieder auf gewisse Anhaltspunkte wie beispielsweise Haken oder Bandschlingen. Ein solches Relikt einer vorhergehenden Begehung ist aber auch noch kein sicheres Indiz dafür, dass an dieser Stelle bereits jemand nach oben geklettert ist. Der Kletterer kann sich hier genauso gut nach unten abgeseilt haben – in der Erkenntnis, dass es nach oben nicht mehr weitergeht. Eine Hilfe ist natürlich die Routenbeschreibung, die in einer Skizze, Topo genannt, wertvolle Hinweise gibt. Trotzdem aber ist die Orientierung in der Wand oft nicht leicht. Es bedarf schon eines gewissen Spürsinns, um zu erahnen, wo die Erstbegeher gegangen sind. Leitend dabei ist der Gedanke, dass die Kletterer, die die Route eröffnet haben, den leichtesten Weg durch die Schwierigkeiten genommen haben. Daher gilt es die Schwachstellen der Wand zu finden, denn dort verläuft mit großer Wahrscheinlichkeit die Route. Von der Führe abzukommen, kann sehr gefährlich werden und in einer Tragödie enden. Die Alpingeschichte weiß davon ein trauriges Lied zu singen.
Das erschütterndste Beispiel vom Verlieren des Weges, das ich je gelesen habe, ereignete sich jedoch nicht im Gebirge, sondern in bewohntem Gebiet. In einem aufregenden Gedicht mit dem Titel Kinderkreuzzug5 beschreibt Bertolt Brecht, wie sich deutsche, polnische und jüdische Kinder, die 1939 ihre Eltern verloren hatten, zwischen den Fronten verirrten. Die Gruppe der Kinder, die von Ort zu Ort zogen, wurde immer größer und umfasste schließlich 55 Jungen und Mädchen. Ein elfjähriges Mädchen schleppte wie eine Mutter ein Kind von vier Jahren mit; ein jüdischer Junge, der unterwegs gestorben war, wurde von zwei deutschen und zwei polnischen Jungen begraben; eine junge Liebe hatte wegen zu großer Kälte keinen Bestand. Die Wegweiser am Straßenrand, vom Schnee verweht, wiesen in falsche Richtungen. Die Kinder hatten einen kleinen Hund bei sich, sie brachten es nicht übers Herz, ihn zu schlachten, um etwas zum Essen zu bekommen. Lange Zeit später fanden Bewohner dieser Gegend einen verhungerten Hund, der eine Tafel aus Pappe an seinem Hals trug, worauf mit Kinderhand geschrieben war: Bitte um Hilfe! Wir wissen den Weg nicht mehr.
Im Italienischen sagt man zu einer Kletterroute auch Via (Weg). Mir gefällt dieser Sprachgebrauch, besteht doch ein alpines Unternehmen letztlich im Gehen eines Weges, wie steil dieser auch immer sein mag. Wo man sich aber für einen bestimmten Weg entscheidet und ihn bewusst geht, schwingt im Hintergrund mehr mit als das, was man vordergründig vollzieht. Ob man sich dessen bewusst ist oder nicht: Es öffnet sich der Horizont auf die tieferen Schichten des Daseins. Denn jeder kleine Weg ist ein Symbol für den großen Weg, den wir zu gehen haben, den Lebensweg. Unsere Seele, die in archetypischen Bildern denkt und fühlt, nimmt die Botschaft solcher Symbole intuitiv wahr und verarbeitet sie zu unserem Wohl. Aus diesem Grund ist das Gehen eines Weges immer heilsam für unsere Seele, was viele bestätigen, die sich beispielsweise einmal auf den Weg des Pilgerns gemacht haben.
Der Mensch ist ja wesentlich auf dem Weg. Das sieht bereits die antike Philosophie so, die ihn als homo viator bezeichnet, als einen, der Zeit seines Lebens unterwegs ist. Er hat hier keine letzte Bleibe. Der Tod stellt jede Heimat in Frage und zeigt, dass der Mensch in der Welt im Grunde ein Fremdling ist und nach einer ewigen Heimat sucht, wo er sich endgültig niederlassen kann. Novalis, der große Dichter der Romantik, fragt in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen: Wohin denn gehen wir? Und er antwortet: Immer nach Hause. Der Mensch ist nicht bei sich zu Hause, sondern er ist auf dem Weg nach Hause. Und er wird nur ankommen, wenn er sich auf den Weg zu Gott macht, bis er bei ihm für ewig daheim ist. Im Wandern übt er sich in die Bestimmung seiner Existenz ein.
Der Crozzon ist der mächtigste Bergriese der Brenta und ein Symbol für die Größe der Schöpfung.
Das Wandern ist auch ein Hineingehen in mein Wesen, in meine Wahrheit, in meinen Kern. Ein innerer Auszug aus allem, was mich gefangen hält, aus Gewohnheiten, die mich fesseln, aus Bindungen an Menschen, die mich unfrei machen, ein Hineingehen in eine innere Freiheit. Und ich spüre, dass ich auf dem Weg immer weiter muss, nicht stehenbleiben kann, ohne mit mir selbst uneins zu werden. Wenn der Mensch sich treu bleiben will, so muss er gehen, muss sich wandeln, um im Tod als der letzten Wandlung vom Leben ganz durchdrungen und verwandelt zu werden. Dann hat er seine Bestimmung erfüllt, dann ist er endlich angekommen.6
Auf diesen seinem Weg verheißt der Glaube dem Menschen eine göttliche Begleitung. Diese spürt er oft aber gerade in schwierigen Zeiten nicht. Margaret Fishback Powers, die bekannte kanadische Kinder- und Jugendbuchautorin, hat für diese eigenartige Erfahrung eine berührende Deutung gefunden: Am Ende seines Lebens blickte ein Mann zurück. Er sah zwei Fußspuren im Sand; seine und die von Gott, seinem göttlichen Partner. An vielen Stellen seines Lebens war nur eine einzige Fußspur zu sehen. Es war dies an den traurigsten und schwersten Augenblicken des Lebens. Dies beunruhigte ihn sehr. Er fragte Gott: Freund, du versprachst mir einst, du würdest den ganzen Weg bei mir sein, wenn ich nur fest entschlossen wäre, dir zu folgen. Wo warst du, als ich traurig war und es mir schlecht ging? Gott antwortete: Mein Freund, als du traurig warst und es dir schlecht ging, da hatte ich dich auf meinen Händen getragen.7
In meinem Leben bin ich schon viele Wege gegangen, leichte und schwere, lange und kurze. Einen Weg aber werde ich nie vergessen. Er sollte der längste meines Lebens werden. Zu dem einschneidenden Ereignis ist es auf folgende Weise gekommen: Mit meinem Kletterfreund Daniel Wernitznig aus Spittal an der Drau träumte ich schon seit langem davon, einmal in der Brenta zu klettern. Wie oft schon setzten wir zum Sprung in den südlichsten Teil der Dolomiten an. Doch dann hielt das Wetter wieder einmal nicht oder die Urlaubstage reichten nicht. Für die Brenta aber braucht man Zeit und gute Witterung. Die Gipfel sind hoch und die Touren lang. Ein Wettereinbruch am Crozzon di Brenta beispielsweise kann zur tödlichen Falle werden. Denn fällt dann auch noch der typische Brenta-Nebel ein und verliert man beim elendslangen Abstieg über die Cima Tosa die Orientierung, findet man auch nicht mehr zur Biwakschachtel zurück, die auf dem Gipfel des Crozzon aufgestellt wurde, um die in Not geratenen Seilschaften zu retten.
Im Sommer 2012 ist es endlich so weit. Einigermaßen stabiles Wetter ist vorausgesagt. So starten wir zum großen Unternehmen. Mehrere Touren stehen am Programm. Aber alles hängt an der Frage, wie lange das Wetter hält. Wir steuern Madonna di Campiglio an, den italienischen Nobelskiort und zentralen Ausgangspunkt für den Einstieg in die Brentagruppe. Beim Rifugio Vallesinella parken wir unser Auto und machen uns zu Fuß zur Brentei-Hütte. Da kann ich heute gleich mehrere Rosenkränze beten, schießt es mir durch den Kopf, als ich das Schild lese: Rifugio Brentei: 2 ore (2 Stunden). Die Zustiege zu den Hütten oder zu den Touren nütze ich gerne für meine tägliche Meditation. So stapfen wir in Gedanken versunken dem hoch gelegenen Schutzhaus zu. Dort werden wir schon erwartet. Ich habe mit dem Hüttenwirt Claudio Detassis bereits vor Tagen telefoniert und für Angelo e Daniele (Engelbert und Daniel) una camera doppia (ein Doppelzimmer) reserviert.
Der nächste Tag sollte eine erste Begegnung mit dem neuen Ambiente bringen. Ganz ernst ist uns aber nicht, als wir in die Via Aste am Crozzon di Brenta einsteigen, dafür sind wir viel zu spät dran. Im mittleren Teil geraten wir dann zudem noch in eine andere Route, die Via Los Angeles, mit der sich Renzo Vettori hier verewigt hat. Wir kennen den Namen dieses überragenden italienischen Felsakrobaten bereits von seiner Route Mescalito, die wir im Frühjahr im bekannten Klettergebiet von Arco am Gardasee geklettert sind. Auch diesmal sollte uns die Begegnung mit einer seiner Touren Glück bringen. Die Los Angeles hält uns so lange auf, dass wir uns heute einmal unisono für den Abbruch der Tour entscheiden. Dies ist auch noch relativ leicht möglich, weil wir rechts aus der Wand flüchten können und bald in weniger geneigtes Gelände gelangen. Über Schneefelder, die jetzt am Nachmittag gut aufgefirnt sind, fahren wir ab und erreichen im Nu unseren Stützpunkt, das Rifugio Brentei.
Durch den erzwungenen Abbruch der Tour etwas gereizt, jedoch dadurch auch besser akklimatisiert, sind wir jetzt in der richtigen psychischen Spannung, die man für Höchstleistungen braucht. Und eine solche sollte uns abverlangt werden. Der Crozzon di Brenta ist eine überaus imposante Erscheinung, entsprechend lang sind die Touren, die auf seinen Gipfel führen. Als überdimensionaler Wächter über das Brentatal stellt er ein wahres Symbol der Größe der Schöpfung dar. Er ist, was sein Name Crozzon bedeutet, ein steiler Felsen, der mächtigste Bergriese der gesamten Gruppe. Wie die in Stein geballte Kraft wächst der Koloss hinter dem Rifugio Brentei empor. Seine Nordostwand wird von zwei auffallenden schwarzen Wasserstreifen durchzogen. Den rechten Streifen entlang führt in idealer Linienführung eine der schönsten Routen der gesamten Dolomiten: die Via delle Guide, die erlesenste Perle des großen Brenta-Meisters Bruno Detassis. Eine Kletterei über 800 Höhenmeter an steilem, wasserzerfressenem, kompaktem Plattenkalk. Und eben diese hatten wir uns ausgesucht.
Der Gipfel des Crozzon ist durch einen langen Grat mit der Cima Tosa verbunden. Von dort zieht ein Eisfeld bis zum Wandfuß in ununterbrochenem Fluss wie eine weiße Zunge herab, tausend Meter lang. Ich habe ein so imposantes und völlig geschlossenes Eisfeld noch nie gesehen. Ob ich mich wohl getrauen würde, es mit Firngleitern zu befahren? Im aufgefirnten Zustand schon, sagt der Kalkulator meines alpinen PCs im Gehirn. Aber vorerst haben wir andere Sorgen. Wir sind im Morgengrauen aufgebrochen und stehen jetzt an einem steilen, pickelharten Schneefeld, das uns den Zugang zum Einstieg der Via delle Guide versperrt. Mit unseren Turnschuhen können wir keine Stufen schlagen. Doch wir haben einen leichten Pickel dabei. Mit ihm stellen wir uns dem ungleichen Kampf und tragen nach einigen Mühen einen knappen Sieg davon.
Jetzt befinden wir uns am Einstieg. Durch die Havarie mit dem Schneefeld etwas aus dem Konzept geraten, steige ich in die falsche Tour ein. Als wir es bemerken, stellt sich die Frage: Abseilen bis zum Einstieg und richtig beginnen oder weiter machen und versuchen, mittels Quergänge nach rechts auf die Originalroute zurückzufinden? Daniel darf entscheiden, er hat die nächste Seillänge zu führen. Sein Blick fällt auf den rostigen Haken, auf den er beim Abseilen sein kostbares Leben hängen müsste, und die Sache ist für ihn klar: Wir machen weiter. Drei Seillängen lang irren wir nun in jungfräulichem Gelände umher, bis wir endlich auf Zeichen einer Route stoßen. Wir kommen zum Schluss, dass es sich dabei um unsere Route, die Via delle Guide des großen Bruno Detassis, handeln muss. Detassis bewirtschaftete damals die Brentei-Hütte und war Bergführer, was auf Italienisch guida heißt. Die Via delle Guide, zu Ehren der Bergführer von ihm so benannt, dokumentiert, über welch hohes Kletterniveau die Anführer dieser Zunft damals schon verfügten, eröffnete Detassis die Tour doch an einem einzigen Tag.
Die „Via delle Guide“, auf der mich Daniel begleitet, sollte der längste Weg meines Lebens werden.
Mit dem Bewusstsein endlich auf der richtigen Route zu sein, können wir die Kletterei genießen. Sie geht uns auch gut von der Hand und wir erreichen um fünf Uhr nachmittags den Gipfel. Es ist Anfang Juli und wir haben noch vier Stunden Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit. Das bedeutet zwar, dass wir angesichts des sechsstündigen Abstiegs in die Nacht kommen. Aber sollten wir deshalb die Biwakschachtel beziehen, wo es außer einigen Müsliriegel, die wir noch haben und ein paar Schluck Wasser nichts gibt, was das Herz des Menschen erfreut, während man unten auf der Brentei-Hütte die besten Pastas aller Zeiten serviert und ein bel vino rosso auf uns wartet? Die Entscheidung für den Abstieg fällt uns angesichts der trostlosen Alternative leicht.
Doch wir haben die Rechnung ohne den Wirt gemacht, dem typischen Brenta-Nebel. Noch sind wir kaum eine halbe Stunde unterwegs, da fällt schon von allen Seiten eine dicke Milchsuppe ein und nimmt uns jede Sicht. Das wirkt sich auf der einen Seite zwar beruhigend auf unsere Psyche aus, weil wir so nicht mehr sehen, über welchen Abgründen wir uns bewegen. Andererseits aber müssen wir befürchten die Orientierung zu verlieren. Entlang dieses Abstieges, der durch wegloses Gelände führt, haben Kletterer vor uns immer wieder aus losen Steinen kleine Türmchen gebaut. Wir sind ihnen für diese Orientierungshilfe unendlich dankbar. Andernfalls wären wir jetzt verloren. Wir sind ja zum ersten Mal hier oben, alles ist für uns neu und fremd. Dazu ist jetzt der Nebel so dicht geworden, dass wir nicht mehr von einem Steinmännchen zum anderen sehen. Immer wieder irren wir orientierungslos umher, bis wir auf eines der rettenden Zeichen stoßen. Die Kletterei ist zwar nicht schwierig, zweiter bis dritter Grad, erfordert aber höchste Konzentration. Wir tragen einen schweren Rucksack und steigen völlig ungesichert ab. Ein Fehltritt oder ein ausbrechender Griff hätte tödliche Folgen. Oft müssen wir steile Schneefelder queren. Wie froh sind wir da um unseren kleinen Pickel.
Einmal meine ich schon, wir hätten uns definitiv verirrt. Trotz intensiver Suche finde ich keine Steinmandel mehr. Ich bin verzweifelt. Daniel ist nicht bei mir. Er sucht woanders. Wir bleiben aber im Rufkontakt, indem wir alle zehn Sekunden den Namen des anderen rufen. Nicht auszudenken, wenn man in dieser Situation auch noch den Partner verliert. Schon will ich Daniel gestehen, dass ich mir keinen Helfer mehr weiß, da stoße ich auf ein kleines Steinmal. Ich rufe voll Freude den Kameraden, der erleichtert zu mir kommt. Wir verfolgen die Spur. Doch sie führt abwärts, anstatt nach oben, dem Grat zu. Diese Spur kann unmöglich die richtige sein, sage ich zu Daniel. Wir müssen doch zuerst noch auf den Gipfel der Cima Tosa, bevor es abwärts geht. Mit meinem Verdacht sollte ich Recht behalten. Plötzlich endet die Spur vor einem Abgrund. Was nun? Wir überlegen. Vielleicht haben wir die Spur in die falsche Richtung verfolgt? Wir machen kehrt und gelangen tatsächlich nach einiger Zeit wieder auf den Grat. Die Spur war also von vorausschauenden Kameraden als Rettungsanker für Zeitgenossen entworfen worden, die wie wir im Nebel vom Grat abgekommen waren und nun unten irgendwo umherirrten. Um sie wieder ins Reich der Lebenden zurückzuführen, hat ein kluger Kopf diesen zu Stein gewordenen Faden der Ariadne8 gelegt.
Inzwischen sind wir mit der Methode der Steinmandel-Navigation einigermaßen vertraut und kommen besser voran. Wir erreichen den Gipfel der Cima Tosa und atmen auf. Der gefährliche Teil des Abstiegs liegt hinter uns, der Rest kann höchstens noch mühsam werden. Und das wird er in unvorstellbarem Ausmaß. Der Weg will einfach kein Ende mehr nehmen. Wir müssen ja erst einmal von diesem Dreitausender herunter. Stunden um Stunden vergehen, ohne jede Rast. Es hätte auch keinen Sinn stehen zu bleiben, schießt es mir durch den Kopf, ich würde auf der Stelle einschlafen. Die heutige Tour ist unser erstes großes Unternehmen in diesem Sommer. Wir laufen unserer Form noch hinterher. Unsere Batterien sind daher nach sechzehn Stunden in ununterbrochenem Einsatz vollkommen leer. Doch wir müssen noch zwei Stunden durchhalten. Ich weiß nicht, wie das gehen soll. Unter uns sehen wir die Lichter vom Rifugio Pedrotti. Wie gerne würde ich jetzt dort einkehren und mich einfach nur irgendwo hinlegen. Aber das können wir Claudio, unserem zuvorkommenden Hüttenwirt am Rifugio Brentei, nicht antun. Er wartet auf uns und würde sich Sorgen machen, wenn wir heute Nacht überhaupt nicht mehr auftauchen.
So schleppen wir uns weiter. Ich ertappe mich dabei, wie mir während des Gehens die Augen zufallen. Macht nichts, denke ich, bei der herrschenden Dunkelheit spielt es ohnehin keine Rolle, ob ich die Augen auf oder zu habe! Dann erinnere ich mich, wie mir mein Vater einmal erzählte, dass seine Kompanie im Zweiten Weltkrieg während des Rückzugs aus Russland an einem Tag oft bis zu hundert Kilometer zu Fuß zurücklegen musste, um dem Feind zu entkommen. Da habe er auch im Gehen geschlafen. Heute ergeht es mir ähnlich, denke ich und ergebe mich meinem Schicksal. Wie lange ich auf diese Weise halb schlafend gegangen bin, weiß ich nicht. Plötzlich schrecke ich auf. Ich höre Rufe: Angelo e Daniele, siete voi? (Engelbert und Daniel, seid ihr es?). Claudio hatte etwas wahrgenommen, voll Hoffnung, dass es die Austriaci sind, die sich da der Hütte nähern. Mit letzter Kraft antworten wir, froh die endlose Odyssee hinter uns gebracht zu haben. Claudio empfängt uns freudestrahlend, sagt, wie glücklich er sei, dass wir heil zurück sind, wirft den Gasherd an und kocht uns Spaghetti. Dann stellt er einen Liter Rotwein auf den Tisch. Die anderen Gäste sind alle schon zu Bett gegangen. Wir sind ihm unendlich dankbar für den wertvollen Freundschaftsdienst. Volle achtzehn Stunden waren wir ununterbrochen unterwegs. Ich kann es kaum fassen.
Der honiggelbe Fels der Kleinen Zinne ist so etwas von appetitlich, dass ich ihn nicht genug betasten kann.
Am nächsten Morgen hört und sieht man von uns nichts. Erst zum Mittagessen erscheinen wir im Gastraum. Wir fühlen uns wie gerädert. Zu mehr als essen, schlafen und Karten spielen sind wir nicht mehr fähig. Früh legen wir uns wieder nieder. Am folgenden Tag verschlechtert sich das Wetter und wir beschließen abzusteigen. Beim Auto angekommen, stellen wir mit Schrecken fest, dass wir vergessen haben, das Licht auszuschalten, als wir den Wagen hier vor drei Tagen abstellten. Jetzt ist die Batterie leer und das Auto lässt sich nicht mehr starten. Wir alarmieren den Pannendienst. Dieser kommt, italienischem Zeitgefühl entsprechend, erst nach zwei Stunden. Das bereitet uns aber kein großes Problem. Wir wissen die Zeit zu nützen, indem wir unser Kartenspiel vom Vortag fortsetzen. Das Glück ist mir in der Brenta offensichtlich hold, denn erstmals seit Jahren habe ich beim Schnapsen gegen Daniel den Funken einer Chance. So bin ich begierig darauf, mich mit ihm zu duellieren, bietet mir doch jedes Spiel auch die Gelegenheit etwas von der raffinierten Strategie des Großmeisters abzukupfern.
Plötzlich fährt der Pannendienst vor. Man begutachtet unser Problem und lädt die Batterie auf. Dann warnt man uns davor, den Motor während der nächsten zwei Stunden abzustellen, weil die Batterie noch keine Kraft für einen Neustart habe. Wir brechen unser Kartenspiel ab und machen uns auf den Weg in die Sextner Dolomiten. Wir wollen morgen noch die Kleine Cassin auf der Piccolissima (Kleinste Zinne) klettern. Als wir in der Nähe von Trient einen Fahrerwechsel vollziehen, denken wir für einen Augenblick nicht mehr an das, wovor wir gewarnt wurden, stellen den Motor ab und – stehen zum zweiten Mal an diesem Tag mit unserem Gefährt. Wieder alarmieren wir den Pannendienst, wieder warten wir zwei Stunden und wieder vertreiben wir uns die Zeit mit Schnapsen. Dabei gelingt es mir Gran Maestro Daniele einige empfindliche Niederlagen beizubringen, was meinem Selbstbewusstsein als Spieler einen unglaublichen Auftrieb verleiht und die jahrelangen Demütigungen augenblicklich vergessen lässt. Damit uns dieselbe Sache nicht noch ein drittes Mal passiert, lassen wir uns, nachdem der Pannendienst angekommen ist, gleich eine neue Batterie einbauen. Dann fahren wir weiter und erreichen abends die Lavaredo-Hütte auf der Südseite der Drei Zinnen, wo uns Hüttenwirt Daniele Vecellio schon erwartet. Er kennt uns bereits von einigen Abenden des letzten Sommers, an denen wir auf die beiden Daniele mehrmals erfolgreich angestoßen haben.
Der nächste Tag bringt Kaiserwetter. Schon der erste Blick aus dem Hüttenfenster lässt das Herz höher schlagen. Der mächtige Preußturm, wie die Piccolissima auch genannt wird, erstrahlt von der aufgehenden Sonne beleuchtet in überirdischem Glanz. Unwillkürlich muss ich an die poetischen Bilder vom Turm Davids und vom Elfenbeinernen Turm denken, mit denen die Lauretanische Litanei das marianische Heilsmysterium besingt. Und mit einem leichten Schmunzeln staune ich, wie leichtfüßig meine Gedanken von einer natürlichen Erscheinung in den Dolomiten den Weg in die Welt der Transzendenz finden. Offensichtlich ist uns in den Bergen der Himmel tatsächlich näher.
Es dauert nicht lange, dann hängen wir nach einem guten Frühstück in den gelben Abstürzen der Piccolissima und genießen im Licht der strahlenden Sonne die atemberaubende Kletterei. Der honiggelbe Fels des Preußturms ist so etwas von appetitlich, dass ich ihn nicht genug betasten und befühlen kann. Und dazu habe ich angesichts der klettertechnischen Herausforderungen dieser Tour im unteren siebenten Grad Gelegenheit genug. Plötzlich bricht mir ein Griff aus, gerade in dem Augenblick, da ich mich mit den Füßen gegen den Fels stemme. Wie von einem Trampolin katapultiert, fliege ich rücklings aus der Wand und finde mich sieben Meter tiefer wieder. Das Doppelseil und Daniels zuverlässige Sicherung haben mich verlässlich aufgefangen und mein Friend, den ich vorher noch platzieren konnte, hat sich perfekt im Felsspalt verkrallt und keinen Millimeter nachgegeben.
Der gesamte Flug verlief angesichts des überhängenden Geländes ohne jeglichen Felskontakt; das hat mir eine Verletzung erspart. Daniel sah mich fliegen und hat sich dabei noch mehr erschreckt als ich. Nun hänge ich zitternd in den Seilen. Einige Minuten brauche ich, um das Erlebte zu verarbeiten und für die Fortsetzung der Kletterei bereit zu sein, doch dann nehme ich die Wand wieder unter meine Finger und kehre an den Ort des Geschehens zurück. Ich konzentriere mich auf meine Bewegungen und merke, wie sich dadurch meine Psyche nach und nach beruhigt. Unter uns ziehen Karawanen von Touristen auf dem Weg zum Paternsattel. Sie sind uns so nahe, dass wir sie plaudern hören. Immer wieder bleiben welche stehen und schauen uns zu, während wir dem Gipfel entgegenstreben. Dort angekommen, genießen wir das großartige Ambiente der Drei Zinnen mit ihrem einzigartigen Zug in die Vertikale. Dann gleiten wir an unserem Doppelseil bequem hinab bis zum Wandfuß, beenden unseren viertägigen Kletterurlaub und fahren zufrieden nach Hause.