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Alles beginnt mit
der Sehnsucht
ОглавлениеAMPEZZANER DOLOMITEN
TOFANA DI ROZES | IL PILASTRO
Via Costantini-Apollonio
VI A0 (VII+) | 530 m
Warum steigen Menschen auf die Berge? Schon oft wurde versucht diese Frage zu beantworten. Dieses und jenes wurden als Begründung angeführt. Die wahrscheinlich zutreffendste Antwort lautet: Weil sie da sind! Die Berge sind vorhanden und üben eine Faszination auf den Menschen aus. Dabei sind sie nicht das Einzige, was uns in unserer Welt den Atem raubt. Auch das Meer beispielsweise stellt ein Faszinosum dar. Als ich an einem Herbsttag als junger römischer Student zum ersten Mal in Ostia am Ufer des Tyrrhenischen Meeres stand, war ich sprachlos angesichts der Weite des Horizonts und der Urgewalt der donnernden Wasser.
Ähnlich ergeht es mir auch im Gebirge. Im Angesicht eines Berges bin ich oft zutiefst beeindruckt von der Masse an Fels, die sich vor mir versammelt, einem Bollwerk an Beständigkeit gleich. Mich fasziniert, wie sich die Blöcke gegen den Himmel türmen, als wären sie von unsichtbarer Riesenhand aufeinandergeschlichtet worden. Es raubt mir den Atem, wenn ich eine Felsnadel wie den Campanile Basso in der Brenta sehe, bei dem die Wände zu allen Seiten senkrecht ins Kar hinunterfallen. Dann genieße ich es, meinen Blick vom Wandfuß zum Gipfel wandern zu lassen, wo die Spitze eine solchen Turmes förmlich das Firmament berührt. Erstmals auf Berge gestiegen bin ich tatsächlich einfach, weil sie da waren. Als Sohn des Hüttenwirtes vom Hochweißsteinhaus, einer Schutzhütte des Österreichischen Alpenvereins in den Karnischen Alpen, waren die Torkar- und Weißsteinspitzen und der Monte Peralba meine ersten unmittelbaren Nachbarn und mein nächstes landschaftliches Gegenüber. Schon als Kind war ich ihrer Faszination erlegen. Meine Eltern erzählten mir, dass ich im Alter von drei Jahren eines Tages morgens beim ersten Blick aus dem Fenster in unserem Haus in St. Lorenzen im Lesachtal, wo wir im Winter wohnten, voller Begeisterung ausrief: Inso Peralba! (Unser Peralba!). Die weiße Pracht unseres Hausberges hatte mich also auch im Tal noch in ihren Bann gezogen. Und so ließ ich nicht locker, bis meine Eltern sich bereit erklärten, mich einmal auf den Monte Peralba mitzunehmen. Eines schönen Julitages weckte mich mein Vater bereits um vier Uhr früh. Eine Stunde später brachen wir auf. Wie meine Eltern mir später erzählten, hätte ich den ganzen Aufstieg eigenständig bewältigt. So stand ich bereits als Dreijähriger erstmals auf dem Gipfel eines hohen Berges: meine erste alpine Tour. In der Nomenklatur modernen Kletterlateins würde die Bewertung lauten: Eins plus, free solo.
Alles beginnt mit der Sehnsucht, sagt die Lyrikerin und Nobelpreisträgerin Nelly Sachs. Das gilt auch für das Bergsteigen und Klettern. In uns Menschen schlummert die Sehnsucht aufzubrechen, die gewöhnliche Welt hinter uns zu lassen, neue und völlig unbekannte Räume zu betreten, einen Standort außerhalb des Alltäglichen einzunehmen und die Welt aus einer ganz anderen Perspektive wahrzunehmen. In dieser Sehnsucht liegt für mich das eigentliche und letzte Motiv alpinen Kletterns. Wir Menschen können uns einer Sache ganz hingeben und einen überdurchschnittlichen Einsatz leisten, wenn uns eine Sehnsucht motiviert und zieht. Diesen Zusammenhang hat Antoine de Saint-Exupéry in seinem posthum veröffentlichten Buch Die Stadt in der Wüste (Citadelle) schlüssig im bekannten Bild vom Schiffsbau zum Ausdruck gebracht: Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer. Auch dem Bergsteigen liegt diese große Sehnsucht zugrunde, die Sehnsucht nach Erweiterung des Bewusstseins durch ganz neue Erfahrungen. Ist das nicht gleichzeitig auch das Motiv, das uns auf dem Weg unserer Selbstwerdung vorantreibt?
Rainer Maria Rilke hat in einem Gedicht in seinem Stunden-Buch der Vorstellung Ausdruck gegeben, dass Gott jedem Menschen, bevor er ihn in die Nacht dieser Welt hinausschickt, ein Wort mit auf den Weg gibt. Und dieses Wort lautet:
Von deinen Sinnen hinausgesandt,
geh bis an deiner Sehnsucht Rand;
gib mir Gewand.
Dem Menschen ist die Sehnsucht ins Herz gesenkt. Sie treibt ihn hinaus in diese Welt, um ihre Schönheit zu entdecken und in ihrer Schönheit und hinter allen Dingen Gott selbst zu suchen. Ein Weg, bis an unserer Sehnsucht Rand zu gehen, ist die Musik. Die wunderbare Musik von Franz Schubert geht bis an den Rand der Sehnsucht. Sie lässt die Sehnsucht beispielsweise in seiner Neunten Symphonie, die Große genannt, hörbar werden. Und nur wenn die Sehnsucht Ausdruck findet, ist sie heilsam. Wenn wir unsere Sehnsucht nicht hörbar oder sichtbar werden lassen, dann flüchtet sie sich in die Sucht.2
In einem anderen Gedicht definiert Rilke die Sehnsucht:
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Die Sehnsucht besteht darin, dass wir mitten im Trubel dieser Zeit leben, dass wir mitten im Gewoge unserer unruhigen Lebensfahrt eine Heimat finden. Wie kann das gelingen: wohnen mitten im Gewoge? Die Sehnsucht ist wie eine Heimat mitten im Gewoge. Wenn wir der Musik lauschen, können wir erahnen, dass wir jetzt mitten im Gewoge unseres Lebens, mitten in unseren Konflikten, in unseren Enttäuschungen, in unserer Sehnsucht wohnen können. Durch die Musik entsteht ein Raum der Geborgenheit, in dem wir wohnen können.
Aber gleich nach dem schönen Wort vom Wohnen im Gewoge sagt Rilke, dass wir in der Zeit keine Heimat haben. In der Zeit können wir uns nicht einrichten. Wir können die Zeit nicht anhalten. Sie verweist uns auf eine jenseitige Heimat, auf eine Heimat, die erst dann entsteht, wenn hier Himmel und Erde zusammenfallen, Zeit und Ewigkeit. So ist die Sehnsucht der Anker, den Gott in unser Herz geworfen hat, um uns daran zu erinnern, dass unser Herz im Vorläufigen nicht zur Ruhe kommt. Aurelius Augustinus hat in seinen Bekenntnissen diese Erfahrung, dass Gott allein unsere unendliche Sehnsucht zu stillen vermag, auf die Formel gebracht: Du hast uns zu dir hin erschaffen, und unser Herz kommt nicht zur Ruhe, bis es ruht in dir.
So gehört die Sehnsucht zu den Zauberworten für die Seele. Wir tragen sie in uns und gleichzeitig führt sie uns über uns selbst hinaus. Sie lässt die Dinge erblühen und kann zu einer Quelle werden, aus der wir leben. Fehlt sie uns, werden wir unzufrieden und energielos, wir hören auf, etwas zu suchen.3 Daher darf man Wünsche und Träume nicht zu lange von sich schieben. Man muss sie vielmehr tatkräftig anpacken. Das dachte ich mir, als mir mein Neffe Marian Guggenberger im Sommer 2009 den Vorschlag machte, mit ihm den Pilastro an der Tofana in den Ampezzaner Dolomiten zu klettern. Die Tour ist so berühmt, dass man von ihr nur mehr in der Kurzform spricht, ähnlich wie bei einer Operndiva, die dann auch nur mehr beispielsweise als Die Netrebko bezeichnet wird.
So treffe ich mich mit Marian um 17 Uhr in Tassenbach bei Sillian in Osttirol. Er kommt vom Lesachtal, ich reise von Klagenfurt an. Marian ist ein aufstrebender junger Kletterer. Ich freue mich, dass jemand in unserer Nachfolgegeneration die Familientradition des Alpinkletterns weiterführt. Erstens einmal gehört das Klettern zum charakteristischen Spezifikum unseres Lesachtaler Clans. Zweitens steht es dem zukünftigen Hüttenwirt des Hochweißsteinhauses gut an, wenn er auch in dieser Sparte beheimatet ist. Drittens halte ich alpines Klettern für eine gute Lebensschule. Und schließlich habe ich, wenn Marian bei diesem Hobby bleibt, immer wieder einen fröhlichen und interessanten Kletterpartner an meiner Seite.
Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung: Auf dem Weg nach oben sind am „Pilastro“ zwei herausspringende Dächer zu überwinden.
Schon als Kind war Marian in Denken und Sprache auffallend kreativ und originell. Begabt mit einer überbordenden Fantasie, der es nie bunt genug zugehen konnte, entwickelte er Gedankengebäude, die mich zum Staunen brachten. Das waren natürlich hervorragende Grundvoraussetzungen für seine Lieblingsbeschäftigung: das Basteln und Werken. Angeregt von Opa und seiner Tischlerwerkstatt im Keller lebte das Kind am meisten auf, wenn es mit Hammer und Nägel bewaffnet aus hölzernen Abfallstücken in der Werkstatt etwas basteln oder bauen konnte. Noch vermochte Marian kaum Mama und Papa zu sagen, da war er bereits in der Lage, die spezifischen Geräusche der Geräte in Opas Werkstatt zu imitieren, von der Kreissäge angefangen über den Elektrobohrer bis hin zur Hobelmaschine. Dass seine Fantasie aber stets auch eine durchaus geerdete war, konnte man am Praxisbezug seiner originellen Kreationen ablesen. So baute er immer Dinge nach, die im Familienalltag vorkamen und Verwendung fanden: Tische, Bänke, Zäune, Aufzüge etc. Als er einmal einen Hubschrauber am Hochweißsteinhaus landen sah, baute er aus den Matador-Stücken, mit denen ich und mein Bruder Ernst einst als Kinder gespielt hatten ohne jegliche Anleitung, rein aus der Erinnerung, einen Hubschrauber. Noch heute hängt das Ding über der Theke im Gastzimmer des Hochweißsteinhauses und wird regelmäßig von den Gästen bestaunt.
Dass er aber trotz blühender Fantasie tatsächlich Mögliches von Fantasterei zu unterscheiden vermochte, musste ich einmal zur Kenntnis nehmen, als er mir mit einer trocken hingeworfenen Bemerkung eine ganze Märchenwelt zerstörte, die für ihn aufzubauen ich mich berufen sah. Und das kam so: Marian war etwa sechs Jahre alt, da unternahm ich mit ihm vom Hochweißsteinhaus aus eine Wanderung Richtung Monte Avanza. Am Jägersattel stießen wir bei unserem Herumstreunen auf eine riesige Höhle, die ich selbst vorher noch nie wahrgenommen hatte. Durch einen schmalen Eingang betraten wir eine natürliche Kaverne, die so geräumig war, dass darin ein ganzes Haus Platz gefunden hätte. Im Plafond des gewaltigen Raumes klaffte ein riesiges Loch, durch das das Blau des Himmels schimmerte. Angeregt durch die Jurassic-Park-Manie, die damals die gesamte Gesellschaft erfasst hatte, meinte ich dem begeisterungsfähigen Kind hier an Ort und Stelle eine Materialisierung der Dinosaurier-Welt vorstellen zu können. Und so begann ich zu schwärmen: Schau, Marian, sagte ich, wir sind hier in einer echten Dino-Höhle. Hier hat der Tyrannosaurus Rex gelebt. Und schau, durch das große Loch, dort oben in der Decke, ist er herein- und hinausgeflogen und hat seine Kinder mit Futter versorgt. Marian nahm vorerst zu meiner – wie ich meinte – großartig gelungenen Inszenierung nicht Stellung. Dann aber blickte er mich mit seinen großen Augen mitleidsvoll an und sagte nur: Onkel Engelbert, komm auf den Teppich!
Ja und eben mit diesem meinem originellen und eloquenten Neffen, der inzwischen schon ein stattlicher Mann Anfang zwanzig ist, bin ich jetzt unterwegs zur Tofana. Tofana di Rozes heißt die gewaltige Dolomiten-Erhebung mit genauem Namen. Ein Berg, wie er idealer vom Schöpfer nicht hätte ersonnen werden können. Wenn Johann Joachim Winckelmann, der Begründer der Kunstgeschichte, von der Laokoon-Gruppe im vatikanischen Cortile del Belvedere die Idealformen bildender Kunst abgeleitet hat, so könnte man aus der Tofana die Idealformen eines Berges herausdestillieren: Zerfurcht wie ein Wettergesicht, gewaltig wie eine Zyklopenmauer, stabil wie eine Pyramide und erhaben wie der Olymp – das ist die Tofana.
Durch die Südwand dieses alpinen Monuments zieht ein gewaltiger Pfeiler von makelloser Schönheit. Gezählt ist er eigentlich der zweite Pfeiler von dreien. Aber weil er so markant ist und weil über ihn die berühmteste Tour des gesamten Massivs führt, wird er überhaupt nur Der Pfeiler genannt oder besser noch auf Italienisch: Il Pilastro. Berühmt ist die von Ettore Costantini und Romano Apollonio 1944 erstbegangene Tour, weil sie über zwei Dächer führt, die mitten in der senkrechten Wand eineinhalb Meter herausspringen. Die Überwindung eines solchen Hindernisses in der Vertikalen stellt an den Bizeps eine durchaus nicht zu unterschätzende Herausforderung dar, gilt es doch nahezu das gesamte Körpergewicht samt Rucksack hauptsächlich über die Hände nach oben zu hieven. Berühmt geworden ist die Tour auch noch als Wolfgang Güllich – das deutsche Klettergenie – Anfang der 1980er-Jahre die Qualität der neuen Klettergeneration unter Beweis stellte, indem er die Tour rotpunkt kletterte, das heißt ohne Zuhilfenahme der Haken als Fortbewegungsmittel. Und eben diese Tour hatte sich Marian gewünscht.
Wir nächtigen im Rifugio Angelo Dibona, von wo aus wir in einer Dreiviertelstunde am Einstieg sind. Das Wetter ist weder gut noch schlecht, was auf einem Berg, dessen Gipfel zu den Dreitausendern gehört, bedeutet, dass man sich warm anziehen darf. Wir verabreden, dass Marian die ersten Seillängen führt und ich die folgenden. Daher brauche ich mich vorerst einmal nicht anzustrengen und kann mich beruhigt aufwärmen, indem ich hinter Marian herklettere. Wie ein bunter Klecks markiert sein farbiges Outfit die schwarze Wand und frech flattert seine blonde Mähne im Wind, während er die erste Seillänge in Arbeit nimmt. Dann quert er über steile Platten nach rechts, bis er den gewaltigen Riss erreicht hat, der die ganze Wand durchzieht und ein Höhersteigen in diesem eindrucksvollen Plattenmeer ermöglicht. Nach einigen weiteren Seillängen haben wir das erste Felsband erreicht. Solche Bänder, die oft die gesamte Wand quer durchziehen, sind typisch für die Dolomiten. Sie sind anlässlich einer Wachstumspause der Korallen entstanden, die vor 250 Millionen Jahren die heutigen Dolomitenberge geformt haben. Dem Kletterer sind die Felsbänder eine willkommene Gelegenheit für eine kurze Rast, kann man doch endlich wieder einmal auf beiden Füßen stehen.
Nun bin ich an der Reihe zu führen. Wer beim alpinen Klettern die Seilschaft anführt, trägt ein höheres Maß an Verantwortung: Der Vorsteiger muss den richtigen Weg finden und ist auch einem höheren Risiko ausgesetzt, da anlässlich eines Sturzes seine Fallhöhe doppelt so hoch wird wie die Distanz bis zur nächsten Sicherung. Und das kann dann bald einmal so viel sein, dass man sich verletzt. Daher sollte es in einer alpinen Route nie zu einem Sturz kommen. Im Nachstieg hingegen beschränkt sich die Fallhöhe bei einem Ausrutscher mehr oder weniger auf die Dehnung des Seiles, was – außer in einem Quergang – zu keiner Verletzung führt. Wenn ich nun den Vorstieg übernehme, bin ich mir des vorgegebenen Risikos bewusst. Die Farbe der Wand hat inzwischen von Grau auf Gelb gewechselt, ein untrügliches Zeichen dafür, dass es in die Vertikale geht. Überhängender Fels wird nämlich vom Regen nicht mehr benetzt. Daher können sich dort auch keine Algen halten, die für die graue Färbung des ursprünglich gelben Dolomitgesteins verantwortlich sind. Wenn ich also gelben Fels unter meine Finger nehme, weiß ich, was mir blüht.
Achtzig Meter klettere ich so hinauf. Dann mache ich unter dem ersten Dach Stand. Eigentlich kann von Stand keine Rede sein, denn ich hänge vollkommen in der Luft. Doch das macht mir jetzt nichts mehr aus. Der Verankerung vertraue ich blind und an die Ausgesetztheit habe ich mich bereits gewöhnt. Marian kann nachkommen. In der folgenden Seillänge muss er gut auf mich aufpassen, wenn ich mich an die Überwindung des ersten Daches mache. Ich habe zwar nicht die Absicht zu fliegen und auf diese Weise seine Sicherungskünste zu testen, aber man kann nie wissen. Trotzdem darf er mich auch nicht zu ängstlich sichern. Denn damit würde er mich in meinem Bewegungsablauf behindern und mein Fortkommen hemmen. Es ist wie im Leben, schießt es mir durch den Kopf, wir brauchen Bindung, aber gleichzeitig auch die nötige Freiheit, um uns entwickeln zu können.
Die „Via Costantini-Apollonio“ am „Pilastro“ wartet mit einer Spezialität auf: Ein Dach springt über mir fast zwei Meter aus der Vertikale und stellt sich meinem Kletterfluss frech in den Weg.
Was das Sichern anbelangt, so ist auf Marian absolut Verlass! Als einer, der auch handwerklich begabt ist, bringt er alles mit, was man für ein gutes Handling des Seils braucht: feine Motorik, ein verlässliches Auge und alpine Intelligenz. Während er mir Seil ausgibt, arbeite ich mich mit den Füßen so weit an das herausspringende Dach heran, bis mein Helm daran ansteht. Dann suche ich im Felsspalt, den das Dach mit der Wand bildet, einen Griff für die linke Hand. Ich finde einen Untergriff, kann mich stabilisieren und lege mit der rechten Hand das Seil in die Sicherung über mir. Mit derselben Hand greife ich dann in den schmalen Riss hinein, der das Dach spaltet, und finde dort einen guten Griff. Jetzt muss ich den linken Fuß möglichst hoch in die Wand stellen und mit der zweiten Hand versuchen die Schlinge zu ergreifen, die ich über dem Dach wahrnehme. Ich strecke mich bis zum Äußersten. Endlich kann ich sie fassen. Nun befinde ich mich in einer Zerreißprobe. Die Hände müssen der Beanspruchung standhalten und der Fuß darf mir auf keinen Fall abrutschen, dann kann ich mich mit einem kräftigen Zug aus der ärgsten Bedrängnis befreien. Andernfalls? Daran zu denken habe ich im Moment keine Energie mehr.
Mein Atem geht keuchend, ich weiß, ich muss die Stelle bald hinter mich bringen, die Kräfte gehen zu Ende. So beiße ich die Zähne zusammen und beeile mich. Mit noch zwei weiteren Zügen komme ich unter dem Dach heraus und steige in die Senkrechte, wo sich der Körperschwerpunkt wohltuend von den Händen wieder auf die Füße verlagert. Die erste große Herausforderung liegt hinter mir und ich gewähre mir eine Verschnaufpause. Dann klettere ich rund zehn Meter über eine senkrechte Wandstelle hinauf, bis ich den nächsten Stand erreiche. Marian kann nun nachkommen. Für einen durchtrainierten Jugendlichen, wie er es ist, sind solche athletischen Kletterstellen eine ideale Herausforderung. Er bewährt sich auch prächtig und ist rasch bei mir. Beim zweiten Dach bin ich schon in Übung und so stehen wir nach einer weiteren halben Stunde schon auf dem oberen breiten Ringband. Jetzt rasten wir uns erst einmal aus. Denn was nun folgt, ist zwar weniger ausgesetzt als die beiden Dächer, aber mindestens ebenso schwierig. Hermann Buhl hat an diesem Platz 1952 anlässlich seiner Begehung der Route biwakiert4. Wie oft habe ich als Bub seinen Bericht gelesen und mir gewünscht, diese Tour einmal klettern zu können. Jetzt befinde ich mich mitten drin. Gut, dass wir nicht biwakieren müssen, sage ich mir angesichts der beißenden Kälte. Wir sind gut in der Zeit: Es ist gerade erst Mittag vorbei und wir haben bereits zwei Drittel der Tour hinter uns.
Schiena di Mulo (Eselsrücken) wird die glatte, überhängende Verschneidung genannt, vor der wir nun stehen, und sie ist gefürchtet. So manche Seilschaft hat sich an ihr schon die Zähne ausgebissen. Im hintersten Grund des Kamins, einer Höhle gleich, steige ich an Tropfsteingebilden höher. Unwillkürlich muss ich an die Dinos denken. Ich sage aber nichts zu Marian. Schließlich will ich mich nicht noch einmal blamieren. Dann verlasse ich die Höhle und steige im ersten Stock beim Fenster wieder heraus. Jetzt befindet sich Marian genau unter mir, etwa zehn Meter tiefer. Der Fels wird rutschig, Griffe und Tritte sind rar. Die Sturzbäche, die hier anlässlich von Gewittern dem Wandfuß entgegendonnern, haben den Dolomit marmorglatt poliert. Ein wulstiger Überhang auf der rechten Seite drängt mich nach links ab. Die Sicherungshaken befinden sich außerhalb der Linie. Alle diese ungünstigen Umstände veranlassen mich, mir eine gute Strategie zu überlegen. Um mich weiter oben nicht durch einen hemmenden Seilzug selbst zu fesseln, hänge ich jeweils nur ein Seil in die Sicherung ein. So vermeide ich eine Zick-Zack-Führung meiner Schnüre, was den Tod jeder reibungslosen Fortbewegung im alpinen Gelände bedeutet. Die Maßnahme zeitigt Erfolg. Ich klettere bereits hoch über Marian, seinem Blick schon längst entschwunden, und immer noch lassen sich meine Seile gut nachziehen. Viel Seil zum Ausgeben kann Marian nicht mehr haben, schießt es mir durch den Kopf. Ich muss schon mehr als vierzig Meter geklettert sein. Wo bleibt denn der Stand? Lange quält mich die Frage nicht mehr, dann stoße ich auf zwei Haken und kann aufatmen. Ich verstärke sie noch mit einem Friend und baue daraus eine bombensichere Verankerung, an die ich die Sicherheit meines Neffen bedenkenlos delegieren kann.
Während Marian zu mir heraufklettert, muss er das Sicherungsmaterial, das ich eingesetzt habe, wieder abbauen. Das aber ist eine relativ leichte Aufgabe im Vergleich zum Tanz auf dem glitschigen Parkett an der Schiena di Mulo, der ihm jetzt bevorsteht. Doch Marian bewegt sich geschickt von einer Herausforderung zur anderen und kommt gut über alles hinweg. Als wir uns oben am Stand wieder treffen, wissen wir: Der Löwenanteil der Tour ist „gegessen“. Der Rest wird uns nicht mehr weh tun. Anfangs folgen wir einem eindrucksvollen breiten Riss, der rund achtzig Meter fast senkrecht in die Höhe zieht. Dann stehen wir auf einer Kanzel, die uns einen traumhaften Rundblick beschert. Über steile graue Platten geht es anschließend rund hundert Meter nach links an die Kante, die den Weg zum Gipfel weist. Die Position am Grat ist luftig, die Kletterei aber nicht mehr schwer. Zwar bremst da und dort noch ein Steilaufschwung unsere Dynamik, doch wir lassen unser Ziel, den höchsten Punkt des Pfeilers, nicht mehr aus den Augen. Am mittleren Nachmittag steigen wir aus der Wand aus, beglückwünschen uns und stimmen darin überein, dass die Begehung des Pilastro für uns ein gewaltiges Abenteuer und ein alpines Erlebnis der Extraklasse war.