Читать книгу Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika - Enrico Deaglio - Страница 10

4 Die Nachricht ging durch die Zeitungen …

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Die ersten Meldungen über etwas Schreckliches, das in jenem unbekannten Macondo am Mississippi vorgefallen war, erhitzten die Telegrafen ab dem Vormittag des 21. Juli. Kaum dass der Telegrafist von Tallulah die Erlaubnis bekam, morste er die Nachricht nach New Orleans und Vicksburg, von wo aus die Associated Press sie in den gesamten Vereinigten Staaten verbreitete. Am nächsten Tag standen »die Vorfälle von Tallulah« auf der Titelseite sämtlicher amerikanischer Zeitungen, und die Südstaatenzeitungen warteten mit einer Fülle von Details auf. Ein kollektiver Lynchmord (nicht an Schwarzen) war eine gewaltige Meldung. Der amerikanische Journalismus erlebte fette Zeiten. Damals gab es in Amerika keinen Ort, der jeden Tag nicht wenigstens zwei Seiten mit Aktuellem druckte, und selbst kleine Städtchen besaßen normalerweise mindestens zwei Tageszeitungen zur Vertretung der verschiedenen Interessengruppen. Der Lynchakt an den Italienern (ihre Namen erschienen tagelang entstellt, auch Cefalù erhielt die merkwürdigsten Bezeichnungen) wurde daher einmal als »abscheulich« und »skandalös« bezeichnet, ein andermal als »geordnet«, »entschieden«, »vorbildlich«, dann wieder als »barbarisch«. Der Aufmacher der Morning News von Muncie, einer Stadt im Bundesstaat Indiana, vermittelt eine Vorstellung vom damals herrschenden Tonfall:

Fünf sizilianische Mörder von einer höchst geordneten Menschenmenge in Tallulah gehängt.

SIE HATTEN EINEN ANGESEHENEN ARZT TÖDLICH VERLETZT.

Zwei der Italiener waren vorbestraft – Fleischerhaken für zwei von ihnen – Für die anderen drei genügte eine Eiche im Gefängnishof.

Bei der Galveston News in Texas muss es hingegen einige Progressisten gegeben haben, die auf der Grundlage eben dieser Nachrichten umgehend folgenden Kommentar verfassten:

Die Bürger, die in Tallulah, Madison Parish, Louisiana an der Macht sind, haben gerade wichtige Punkte im Wettstreit um die Meisterschaft in Barbarei, Brutalität und Blutvergießen erzielt, als sie ein halbes Dutzend Italiener gehängt haben, weil ein anderer Italiener mit einer Schrotflinte auf einen weißen Mann gefeuert hat. Es heißt, die Menge sei während der Lynchaktion »im höchsten Maße ruhig geblieben«. Schrecklich!

Alle Zeitungen brachten natürlich die Geschichte von den Ziegen, die den Lynchmord von Tallulah zu einem einzigartigen Fall in der langen Reihe von Lynchaktionen in den Südstaaten machte. Aber die Rekonstruktionen waren allesamt konfus. Ziegen, vielleicht auch eine Herde Schafe. Im Haus des Doktors oder vielleicht auf einer öffentlichen Weide. Die Defattas hatten den Doktor herausgefordert. Der hatte als wahrer Gentleman geantwortet: »Es liegt mir nichts daran, euch zu töten, aber falls nötig, werde ich es tun.« Völlig ungenau waren die Angaben zu Zeitpunkt und Hergang der Ereignisse. Man verstand nicht, wer zuerst verhaftet worden war und wer später, der Dorfsheriff tauchte nur für einen kurzen Moment auf, der Staatsanwalt gar nicht, doch so, wie es die Reporter beschrieben, war das Klima in jenem weltvergessenen Winkel für die Opfer sicherlich nicht günstig.

Die Stimme des Volkes bezeichnete, anonym natürlich, die Getöteten als böse und grausame Personen. Sie pflegten eine derart krankhafte Beziehung zu ihrem Vieh, dass sie es für rechtens hielten, einen Menschen zu töten, um eine Ziege zu rächen. Sie waren so gewalttätig, dass einer von ihnen nur wegen des Diebstahls einer Melone einen Schwarzen getötet hatte. Ein anderer hatte Ware in New Orleans gekauft, aber nicht bezahlt, weswegen er mit einem schweren Bußgeld belegt worden war. Was Defina anging – der, der in den Wäldern von Milliken’s Bend lebte –, auch ihn hatte man wegen der Ermordung eines armen konföderierten Veteranen, der gezwungen war, als Landaufseher zu arbeiten, vor Gericht gestellt. Aber er wurde freigesprochen. Die Sizilianer – immer noch laut Stimme des Volkes – brüsteten sich damit, über so viel Bares zu verfügen, dass sie jede Jury bestechen könnten. Was nun ihre mörderischen Absichten betraf, so war dem Dorf nicht entgangen, dass sie am Nachmittag vor dem Anschlag beide Geschäfte geschlossen hatten und dass der jüngste von ihnen auf die Frage nach dem Warum mit einem zweideutigen Lächeln geantwortet hatte. Auch über ihre Reaktionen zum Zeitpunkt des Hängens wurde berichtet. Zuerst hatten sich die Brüder Defatta gegenseitig die Schuld zugeschoben; einer von ihnen hatte dann um Gnade gebeten, und Frank hatte gesagt: »Wir sind Freunde, wir kennen uns seit sechs Jahren«, während der jüngste, John Cirami, den Kopf in der Schlinge, eine unbestimmte Andeutung gemacht hatte, dass die »Gesellschaft« ihn schon rächen werde.

Ein Kommentar in der New Orleans Daily States vom 24. Juli zur Stimmung der Lyncher:

Jeder einzelne Mann in dieser Menge wusste alles über die Mafia und den Mord an Hennessy. Sie waren entschieden, es nicht noch einmal zu einem solchen Fall kommen zu lassen. Sie betrachteten diese Degenerierten als Monstren, jeder erdenklichen Schandtat fähig, und waren entschlossen, das Unkraut mit der Wurzel auszureißen, genau wie der Kavallerist mit seinem eisernen Stiefelabsatz den Kopf der Viper zertritt.

Jeder Einzelne dieser Männer aus Tallulah wusste alles über die Mafia? Sie wollten keine Wiederholung dessen, was Hennessy zugestoßen war? Mafia? Und wer war Hennessy? Die Zeitung von New Orleans sprach offenbar von Dingen, die ihren Lesern geläufig, jenseits von Louisiana jedoch unbekannt oder rätselhaft waren.

Allerdings fügte das Blatt hinzu, dass, schon während die Männer zum Galgen geschafft wurden, »eine große Anzahl von Bürgern zusammenkam, um das Leben der Sizilianer zu retten«, aber ihr Bitten erfolglos blieb. Der Daily States kommentierte: »The crowd heard and did not hear« (Die Menge hörte sie, wollte sie aber nicht erhören). Hochtrabende Worte mit dem Beigeschmack einer Geschichte aus den Evangelien, eines ausgebliebenen Wunders in Galiläa. Es schauert einen, wie ein einfacher Satz umgehend ein Bild erzeugt, eine Menschlichkeit. Die Menge, nicht mehr »massiv und entschlossen«, wird von Gefühlen ergriffen, ist unentschieden, beunruhigt. Die Leute verspürten also tief in ihrem Innersten, dass diese Männer den Tod nicht verdient hatten. Diese Burschen mit den schwarzen Schnurrbärten und den roten Halstüchern, die Obst verkauften, die mit lauter Stimme sprachen, die bereits Teil der Landschaft waren, die mit manchem Freundschaft geschlossen hatten … War es wirklich nötig, sie umzubringen?

Es kam zu einer Versammlung, die ziemlich lange dauerte. Reden wurden gehalten. Frank tat recht daran, seinen letzten Versuch zu unternehmen … Und wenn es eine Abstimmung gegeben hätte, wären die letzten drei vielleicht nicht gehängt worden.

Ganz offensichtlich aber handelte es sich nicht um eine demokratische Versammlung. Ganz offensichtlich gab es in Tallulah eine Gruppe, die kommandierte und allen anderen ihren Willen aufzwang.

Fast zeitgleich erreichte die Nachricht Italien, ein Beweis dafür, dass die heutzutage so hochgelobte Globalisierung der Kommunikation im Telegrafen bereits einen namhaften Vorgänger besaß. Verbreitet wurde die Meldung über die Agenzia Stefani, die sie von der amerikanischen Associated Press übernommen hatte. Sie fand sofort Eingang in eine kurze Kolumne auf den ersten Seiten der italienischen Tageszeitungen.

Die Einzelheiten waren spärlich (die Absurdität von fünf Morden wegen einer Ziege sprang natürlich ins Auge), wohingegen die amerikanische Unmenschlichkeit explizit verdammt wurde, ebenso wie die politische Handhabung des Vorfalls. Die italienischen Zeitungen – sie verurteilten einhellig die Brutalität der sogenannten »Lynchjustiz« – forderten von der Regierung, mit höchstem Nachdruck einzuschreiten, um die nach Amerika emigrierten Italiener zu schützen. Die »Gerechtigkeit für die Arbeiter von Tallulah« wurde – wenn auch nur für kurze Zeit – zum rhetorischen Prüfstand für die Stärke des jungen Königreichs Italien und die Verbundenheit seiner Regierung und des Monarchen mit seinem Volk. Die Forderung wurde sogar ins Parlament eingebracht, allerdings ohne ausreichende Überzeugungskraft.

Am Ende des Jahrhunderts hatte das seit knapp vierzig Jahren vereinte Königreich Italien – und seit weniger als dreißig Jahren mit Rom als Hauptstadt und den daraus resultierenden Konflikten mit dem Vatikan – an anderes zu denken als an einen Lynchmord in Amerika.

Zusammen mit den ersten Großkonzernen war im Norden die sozialistische und anarchistische Bewegung erstarkt, die öffentliche Kundgebungen abhielt. Der Süden, dreißig Jahre zuvor durch einen Volksentscheid annektiert, war immer noch Terra incognita, ein Ort permanenter Revolten, das Ziel erbarmungsloser militärischer Schläge, von den Behörden gedeckt als »Niederschlagung des Banditentums«. Als kleine Macht unter den anderen europäischen Mächten versuchte auch das Königreich Italien, sein eigenes Kolonialreich zu errichten. Es fühlte sich im Recht dazu, im Namen seiner Vergangenheit, seiner Geschichte, des alten Roms, dessen Ruhm nachhallte. Ein erster Versuch, Abessinien zu unterwerfen, war drei Jahre zuvor in Adua, in der Sprache der Äthiopier Abba Garima, gescheitert. In einer tragischen Farce, verschuldet von unfähigen, aufgeblasenen Generälen, waren Tausende italienischer Soldaten von den Truppen Meneliks II. niedergemetzelt worden. Zum ersten Mal hatte es auf der gesamten Halbinsel Protestkundgebungen gegen den Militärdienst gegeben. Den Carabinieri, die zu ihrer Niederschlagung entsandt worden waren, schallte seitens der Protestierenden der Ruf »Es lebe Menelik!« entgegen, voller Hohn erklangen Hymnen auf den äthiopischen Kaiser, der General Barattieri besiegt hatte. Nach der Niederschlagung des »Brotaufstands« in Mailand durch die piemontesische Armee waren zweihundert Tote zu beklagen. Die Regierung, mit der der König einen der vielen bornierten Generäle, den Piemonteser Luigi Pelloux, betraut hatte, erstellte einen Maßnahmenkatalog zur Unterdrückung der Freiheit, um die Sozialisten zu treffen, und stürzte dann jedoch im Parlament über eine theatralische, ja surreale internationale Spionageaffäre. Italien hatte von China keine Konzession für die San-Mun-Bucht erhalten, weil sich die italienische Diplomatie, um zum Ziel zu gelangen, allzu sehr auf die englische verlassen hatte, von den Engländern jedoch verladen worden war. Verletzter Nationalstolz. In der Heimat dauerte der Belagerungszustand in weiten Teilen Siziliens an, eine Folge der großen Kraftprobe gegen den Arbeiterbund Fasci Siciliani, eine Volksbewegung, die zum ersten Mal Land einforderte. Damals verband die Italiener vielleicht nur eine einzige Sache: die Verzweiflung nämlich, die Millionen von Menschen dazu trieb, in die Neue Welt auszuwandern. Das arme Italien, das von der Politik der Monarchie ausgeblutete Italien, das unter Vitaminmangel leidende im Norden ebenso wie die anonymen Volksmassen in Kalabrien, Sizilien und Sardinien, dieses Italien schiffte sich nach Argentinien, Brasilien und in die Vereinigten Staaten ein, um ebenda wieder auf die Beine zu kommen und sich ein neues Leben aufzubauen. Die Präfekten und Priester unterstützten die Emigration, oft genug verleiteten sie die Menschen regelrecht dazu. Weniger Aufstände in der Heimat, weniger Münder zu stopfen. Die staatliche Bürokratie brachte voller Stolz die Höhe der Ausgaben für die Familien in Anschlag, die geblieben waren. Italien entdeckte sein eigenes ganz spezielles Wachstumsmodell.

In Cefalù, der Stadt der fünf Gelynchten, traf die Nachricht am 22. Juli ein. Das Giornale di Sicilia zwängte sie auf der ersten Seite zwischen den Bericht vom Dreyfus-Prozess in Paris, die königliche Hochzeit in Griechenland und das Auslaufen des Überseedampfers Nord America aus dem Hafen von Genua mit Ziel Montevideo.

AMERIKANISCHE GRÄUELTAT

FÜNF ITALIENER GELYNCHT

New York, den 22. – (Agenzia Stefani). Ein Telegramm aus Tallulah, einem Dorf im Madison County in Louisiana, teilt mit, dass der bekannte Doktor Hodge eine Auseinandersetzung mit einem Italiener hatte. Dieser schoss mit einem Jagdgewehr auf Hodge und verletzte ihn tödlich.

Die Volksmenge ergriff den Italiener und vier seiner Freunde, Italiener wie er, die der Komplizenschaft verdächtigt wurden, hängte sie an Bäume und durchsiebte ihre Körper mit Kugeln. Es handelt sich um Carlo, Giacomo und Francesco Difatto, S. Frudace und Giovanni Cheranao. Die öffentliche Meinung verurteilt den Lynchmord. Die Behörden haben einen Prozess eingeleitet.

New Orleans, den 22. – Kaum hatte der italienische Konsul von dem Lynchmord in Tallulah erfahren, schickte er den Konsularbeamten von Vichsboms zum Tatort, um eine Untersuchung anzustellen und für die Bestrafung der Schuldigen zu sorgen. Wieder einmal sind dem barbarischen amerikanischen Brauch, der sich fälschlich durch die Bezeichnung Lynchjustiz zu rechtfertigen sucht, italienische Siedler zum Opfer gefallen.

Wie der Lynchmord von New Orleans ist auch der von Madison ein grausames Massaker, der einem zivilisierten Land zum Schaden gereicht.

Vor allem, weil von der Menge nebst dem Beschuldigten auch die Italiener ermordet wurden, die sich in seiner Gesellschaft befanden.

Wir erwarten, dass die Regierung jetzt mit dem gebotenen Nachdruck handelt, um die strenge Bestrafung der Schuldigen und eine angemessene Entschädigung für die Familien der unglückseligen Opfer zu erwirken!

An den darauffolgenden Tagen gab das Giornale di Sicilia ein paar weitere Details bekannt, korrigierte die Namen und fügte einige Personenangaben hinzu. Man erfährt so:

Die drei Brüder Difatto, Francesco, Carlo und Joe (alias Giacomo), haben in New Orleans eine Tante, Lucia Baraona, verheiratete Mangiapane, die derzeit mit dem Ehepaar Romano zusammenwohnt.

In Cefalù lebt noch die Mutter der drei, Teresa Baraona, außerdem haben Francesco und Carlo dort Frau und Kinder zurückgelassen, Joe einen Sohn. Salvatore Fiducia besitzt in Amerika keine weiteren Verwandten außer Salvatore Imbraguglia, ebenfalls in New Orleans ansässig, bei dessen Mutter es sich um eine Cousine von Fiducia handelt.

Keiner der fünf Gelynchten ist je amerikanischer Staatsbürger geworden. Wie es aussieht, haben die beiden älteren Brüder Difatto einen ersten Schritt unternommen, um die amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen.

Schließlich entdeckten die Journalisten des Giornale di Sicilia zwei Fährten. Die erste:

Es gilt als sicher, dass einer der Brüder Difatto eine Anstecknadel mit einem Brillanten und eine goldene Uhr bei sich trug, ein weiterer Bruder drei Hundertdollarscheine [hier, wahrscheinlich ein Druckfehler, folgen die Worte »6100 jeder«], und die anderen hatten etwas Geld und ein paar andere Dinge in der Tasche: Alles ist verschwunden, und man weiß nicht, in welche Hände es geriet, sicher ist nur, dass die Diebe unter jenen Vollstreckern der … Gerechtigkeit waren.

Die zweite:

Es gibt jetzt solche, die sagen, dass die Ursache für den verhängnisvollen Angriff auf Doktor Hodge nicht die Tötung einer Ziege war, sondern dass es dabei um Frauen ging.

Darüber hinaus brachten sie ihre Version der letzten Momente der Opfer:

Sobald man sie aus dem Gefängnis geholt hatte, begriffen die fünf Unglücksmenschen, welches Schicksal sie erwartete: Zwei der Brüder baten um Gnade, und es heißt, sie hätten gestanden, mit den anderen unter einer Decke gesteckt zu haben, um den Doktor zu ermorden. Dieses »Geständnis« brachte die Menge nur noch mehr gegen sie auf, so dass die Verurteilten, denen klar wurde, dass »jedes Gebet nutzlos« war, Mut fassten und die Leute verfluchten: Es gäbe da schon jemanden, der die »niederträchtigen Hunde«, die sie umbringen wollten, bestrafen würde.

Alles in allem:

Die Frauen, die Brillantnadel und die Dollarbündel, das Komplott zur Ermordung des Doktors, die »niederträchtigen Hunde«. Für das Giornale di Sicilia, das demzufolge über eigene Informationsquellen zu verfügen schien, blieb das Ereignis von Tallulah schleierhaft. Man könnte sagen, ihm haftete ein gewisser häuslicher Geruch an.

In Cefalù, wo praktisch jeder einen Verwandten in Louisiana besaß, gab es im Übrigen keinerlei Bekundung von Trauer oder Protest. Keine Totenmesse, keine Forderung nach einem würdigen Begräbnis. Auf dem Domplatz kam es weder zu einem Menschenauflauf, der das Einschreiten der Carabinieri erfordert hätte, noch wurde eine Kundgebung einberufen. Für die Familien der Getöteten gab es von Seiten der Behörden keinerlei materielle Unterstützung. Von den Defattas und ihren Vettern – sie werden als »Siedler« bezeichnet – erfuhr man so gut wie nichts, und niemand schien sich für ihre Geschichte zu interessieren. Die Fotografien, die sie in Jacke, Weste und mit Taschenuhr zeigten, hatten sie nie nach Hause geschickt. Sie hatten keine Briefe geschrieben, nichts von sich hören lassen. Als hätten sie sich seit Jahren im Weltraum verloren, an Bord eines Raumschiffs.

Gewiss, damals unterlagen die italienischen Zeitungen der Zensur. Und gewiss waren die sizilianischen Journalisten schon früh daran gewöhnt, kein Wort zu veröffentlichen, das falsch gedeutet werden konnte, und sich nicht zu sehr in Privatangelegenheiten vorzuwagen. Beim Lesen jener mageren Berichterstattung bleibt jedoch ein ungutes Gefühl zurück, als gäbe es da ein verordnetes Schweigen, als wüssten sie mehr und sagten es nicht. Undeutlich hat man ein Bild vor Augen: schwarzgekleidete Frauen in ihren Häusern und Verwandte, die kommen, um ihnen Neuigkeiten aus Amerika zuzuflüstern. Doch schon stehen die nächsten zum Aufbruch bereit, die Schiffsfahrkarte in der Tasche. Ihnen wird versichert, jene Tat hätte sich nicht dort ereignet, wo sie hingingen, sondern ganz woanders, es bestünde daher keine Gefahr.

Unsere fünf erfuhren allerdings die Genugtuung, in einem Lied vorzukommen. Der Text ist von Antonio Corso, einem ehemaligen Unteroffizier der Guardia di Finanza, er ließ die Verse bei Artale in Turin drucken. Unter der Zeichnung eines großen Laubbaums, an dem die Körper der Cefalutani hängen, auf die sonderbare Leute in Jagdkleidung mit ihren Gewehren zielen, steht folgender Titel:

FÜNF ARME ITALIENER

GELYNCHT IN TALLULAH IN AMERIKA

Einige Verse:

O gioventù d’Italia

Abbruna la bandiera!

Chi di valor t’uguaglia

O gioventude fiera?

O martiri sepolti

Laggiù nella Luigiana,

purtroppo siete morti

ma chi la piaga sana?

O gioventù d’Italia

Abbruna la bandiera,

e della vil ciurmaglia

fanne vendetta nera.

E sotto il manto del tuo valor

Soccorri e vendica il nostro onor!*

Doch unsere fünf – besser sechs, um den überlebenden Joe Defina nicht zu vergessen! – wurden keine Helden. Winzige Ameisen der Geschichte kurz vor der Jahrhundertwende blieben sie nichts als exotische Geister, ferne Wahrzeichen, deren Schicksal wenige Herzen rührte. Dennoch hatten sie und ihre Ziegen sich im Zentrum einer speziellen Konstellation aus Geopolitik, Sklaverei und großem wirtschaftlichem Kalkül befunden. Ohne dass sie es ahnten, waren sie zu Versuchskaninchen der neuen, an den italienischen Universitäten ausgefeilten Rassentheorien geworden, die den furchtbarsten Gräueln des anbrechenden Jahrhunderts den Weg bahnten.

Die italienische Nation, so jung sie auch war, verstand sich bereits auf Überheblichkeit und Bürokratie. Wir fordern Entschädigungen! Strenge Abmahnung der amerikanischen Regierung! Respekt! Unsere Beamten machen sich an die Arbeit, weil dem König seine Bürger doch am Herzen liegen. Wer daher am 28. Juli 1899 die Gazzetta Ufficiale aufschlug, konnte eine Triumphmeldung lesen:

»Doktor Hodge ist nicht tot!«

Fast als wäre dies das Verdienst der italienischen Diplomatie.

* (Oh, Jugend von Italien, / leg Trauer an die Fahne! / Wer ist an Tapferkeit dir gleich, / oh, stolze Jugend? / Oh, Märtyrer, begraben / dort drüben in Louisiana, / zum Leidwesen seid ihr tot, / doch wer heilt die Wunde? / Oh, Jugend von Italien, / leg Trauer an die Fahne, / und an dem feigen Gesindel / nimm deine schwarze Rache. / Gehüllt in deine Tapferkeit / steh bei und räche unsere Ehre!)

Eine wahrhaft schreckliche Geschichte zwischen Sizilien und Amerika

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