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1989 Gerd Keil
ОглавлениеEs begann das offiziell vorletzte Jahr meiner Haftzeit. Doch in diesem Jahr sollte es eine Menge Veränderungen geben; viele mehr, als ich zu Beginn dieses so schicksalhaften Jahres geglaubt hätte. Doch dazu später mehr. Noch immer arbeitete ich Tag für Tag im Großtagebau Welzow-Süd, und zwar mit dem gleichen Brigadier, der in der Zwischenzeit ein wenig nachlässiger geworden war; wohl deshalb, weil auch sein Entlassungsdatum unaufhaltsam näher rückte.
Der Winter neigte sich ebenfalls seinem Ende zu und wir konnten die ersten wärmenden Sonnenstrahlen erhaschen. Irgendetwas war aber anders. Irgendetwas lag in der Luft. Man konnte beinahe spüren, dass sich etwas zusammenbraute. Etwas Unheilvolles, etwas Besorgniserregendes, etwas Dramatisches, etwas Einmaliges. Ich konnte es mir nicht erklären, und so beschloss ich, es auf mich zukommen zu lassen. Schlimmer, da war ich mir eigentlich sicher, konnte es sowieso nicht mehr werden. Was auch passierte, es musste etwas Besseres oder zumindest Anderes sein.
Der Frühling begann und jedes Mal, bevor wir in die Schleuse unseres Gefängnisses marschieren mussten, fand eine Zählung statt. Dieses Mal waren es zwei Personen zu viel. Zwei zu viel? Hierher kam doch niemand freiwillig. Wie in Gottes Namen konnten wir dann Zwei zu viel sein?
Wir marschierten alle in die Schleuse. Dort stand auch dieses Mal der Bus vom Typ Ikarus 66 bereit. Wieder wurden die Namen der Häftlinge verlesen, und wieder stieg einer nach dem anderen in den Bus. Als Letzte stiegen wie immer die Wächter mit ihren Hunden – Rottweilern, Riesenschnauzern, Schäferhunden – und den Maschinenpistolen ein. Außer mir und dem anderen politischen Häftling befanden sich nun alle im Bus. Unsere Namen hatte niemand vorgelesen, und so standen wir da wie bestellt und nicht abgeholt. Man informierte uns darüber, dass wir auf Transport gingen.
Nachdem wir das Gefängnisgelände wieder betreten hatten, schloss sich die Schleuse auf unserer Seite. Erst dann öffnete sich die Schleuse auf der anderen Seite und der Bus fuhr los. Wohin aber sollten wir transportiert werden? Wir hofften, dass wir zusammen bleiben würden, denn in den Jahren, die wir hier gemeinsam verbracht hatten, war aus uns ein gutes Team geworden. Wie schon gesagt, schlimmer konnte es nicht werden und so liefen wir zurück in unsere Baracke und dann in unsere Zelle.
Dort angekommen, packten wir all unsere Sachen zusammen, gaben alles in der Kleiderkammer ab und fuhren dann in einem grauen IFA W 50 Lkw – oder wie wir Häftlinge sagen würden: der »Großen Minna« – nach Cottbus. »Hier waren wir doch schon mal«, sagte mein bekannter Mithäftling. »Richtig«, entgegnete ich, doch dieses Mal kamen wir in eine ganz andere Zelle. Dort angekommen, wurden wir getrennt, und genau in diesem Moment wurde uns klar, dass hier etwas Wichtiges passieren würde.
Diesmal saß in meiner Zelle ein etwas korpulenter Herr mit ersten grauen Haaren und im edlen Anzug. Mein erster Gedanke war: Was lässt die Stasi sich denn nun einfallen? Umso verwunderter war ich, als der Mann mir erklärte, er sei Anwalt und für den Freikauf von politischen Häftlingen zuständig. Ich kniff mich selbst so stark in den Arm, dass ich beinahe laut »Aua« gerufen hätte. Ich traute dem Frieden nicht und versuchte durch gezieltes Fragen herauszubekommen, ob es sich hierbei um eine Finte handelte. Im Laufe des Gesprächs wurde mir mehr und mehr klar, dass es keine Finte, sondern Wirklichkeit war. Ich sollte freigekauft werden. Ich? »Wer hat das denn eingerührt?«, fragte ich. Eine Antwort auf diese Frage sollte ich erst später erhalten.
Was heißt eigentlich Freikauf? Hatten wir hier in der DDR den Sklavenhandel wiederentdeckt? Seinerzeit habe ich nur bemerkt, dass tatsächlich eine Menge Geld gezahlt wurde, damit ich in Freiheit leben konnte. Fest steht, dass die DDR lange vor ihrem Untergang pleite war und daher den Verkauf von politischen Gefangenen für sich entdeckt hat, um an die so dringend benötigten Devisen zu kommen.
So wurden wir, der andere Häftling und ich, mit der Kleinen Minna von dem Gefängnis direkt zum Bahnhof in Cottbus gebracht. Wir trugen unsere Knastklamotten und Handschellen; begleitet wurden wir von den Peinigern der letzten Jahre. Unsere Knastklamotten bestanden aus einer alten, blau eingefärbten Armeeuniform, schwarzen Halbschuhen, Unterwäsche und Socken. Dazu kam noch ein hellblaues Fleischerhemd, welches einen kleinen Kragen besaß und mit senkrechten weißen schmalen Streifen verziert war. In dieser Aufmachung wurden wir wieder zum Grotewohlexpress gebracht. Wohin es gehen sollte, wussten wir auch dieses Mal nicht. Nach einer ganzen Weile setzte sich der Zug in Bewegung. Die Durchsage des Bahnhofspersonals konnte ich nicht verstehen, da sie von anderen Bahnhofsansagen überschallt wurde.
Es dauerte mehrere Stunden, bis wir anhielten. Auf einmal öffnete sich die Tür und ein Volkspolizist fragte mich, ob ich einen Tee trinken oder etwas essen wolle. Ich muss ihn angesehen haben, als komme er aus einem anderen Sonnensystem. Ehrlich gesagt, konnte ich die plötzliche Fürsorge nicht wirklich verstehen. Oder hatte dieses Verhalten mit unserem Freikauf zu tun? Wollten die, die uns bis gestern noch durch den Tagebau getrieben hatten, auf einmal bessere Menschen sein?
Das brauchten die uns nun wirklich nicht vorzumachen, denn daran glaubte wohl niemand von uns. Hätte er die Tür aufgerissen und mir wortlos eine Plastiktasse mit sehr dünnem Pfefferminztee vorgesetzt, dann hätte ich das als völlig normal empfunden. Als er mich aber nach meinem Wunsch nach etwas zu Essen oder zu Trinken fragte, war ich doch sehr erstaunt. Natürlich wollte ich etwas trinken, auch wenn es nur dieser dünne Pfefferminztee war. Ich hatte seit dem Morgen nichts getrunken. Doch auch hier sollte ich mich irren: Das war kein dünner Pfefferminztee, sondern ein richtig gut schmeckender schwarzer Tee. Jedenfalls für diese Verhältnisse. Wollte man uns langsam wieder an normale menschliche Kost und Getränke gewöhnen, so dass wir nicht völlig abgemagert aussahen?
Wir kamen mitten in der Nacht auf dem Bahnhof in Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) an. Dann ging es ein Stück durch den Bahnhof und wieder hinein in den Barkas mit seinen winzigen Zellen. Der Barkas musste schon eine Weile dort gestanden haben, denn die Zellen waren eiskalt. Egal, gar nicht erst lange darüber nachdenken, sondern hinsetzen, so gut das in dieser winzigen Zelle eben ging, und dann ging die Fahrt auch schon los. Der Barkas B-1000 hatte keinerlei Aufschrift an den Seiten. Dieses Mal war alles anders als sonst.
Auf der relativ kurzen Fahrt hatten entweder nicht so viele Ampeln gestanden oder sie waren alle grün gewesen, denn wir hatten kaum irgendwo angehalten, und wenn, dann immer nur für wenige Sekunden. Das Fahrzeug stoppte, der Motor wurde abgestellt und das dumpfe Geräusch von Rollen, die ein schweres Tor bewegten, war zu hören. Nach wenigen Metern öffnete sich die Tür. Draußen standen die Volkspolizisten des Strafvollzugs in ihren dunkelblauen Uniformen mit den grau umrandeten Schulterklappen. Die Dienstgrade hatten wir im Strafvollzug lernen müssen, da wir die Volkspolizisten mit Herr und Dienstgrad anzusprechen hatten.
Wenigstens etwas, dachte ich. Nicht wieder in diesem Stasigefängnis zu sein, war ein Grund, einmal tief durchzuatmen. Auch wenn die Luft hier gesiebt war, so war es doch anders als sonst, denn wir bekamen unsere privaten Sachen wieder: genau die Uniform des Triebfahrzeugführers der Berliner S-Bahn, die ich damals bei meiner Verhaftung durch die Stasi getragen hatte. Die Uniform schien mir in der Zeit der Haft viel zu groß geworden zu sein.
Es wäre zu schön gewesen, hier anzukommen und nur fünf Minuten auf den so lange ersehnten Transport zur Mauer zu warten, um dann, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, in die Freiheit zu laufen. Aber bis dahin sollte es noch eine Weile dauern.
Ich kam in eine Zelle. Nach wenigen Augenblicken kam ein schlanker Herr im schicken Anzug herein und teilte mir mit, dass er mein Rechtsanwalt sei und nun alle notwendigen Formalitäten für meine »dauerhafte Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland«, wie die Ausreise offiziell hieß, mit mir erledigen wolle.
Meine ersten Gedanken galten allen meinen Gegenständen in der Wohnung, in der ich zum Zeitpunkt meiner Verhaftung gewohnt hatte. Für mich waren insbesondere die Fotos, die Schallplatten und Bücher sehr wichtig. Als ich das dem Herrn Rechtsanwalt mitteilte, sagte er mir, dass es ihm sehr leid tue, aber all diese Sachen gäbe es nicht mehr.
Das war ein Tiefschlag für mich. Doch wie hatte ich auch nur glauben können, dass all meine so lieb gewonnen Schallplatten noch da waren? Und all die Bilder von den schönen, glücklichen, aber auch traurigen Momenten meiner Beziehung? All meine bildlichen Erinnerungen an meine erste große Liebe, all die Liebesbriefe, die wir uns seit wir das Schreiben erlernt hatten geschrieben hatten, waren abhandengekommen.
Auf dem einzigen Bild, das ich noch von meiner lieben Freundin in meinem Kopf hatte, war sie über und über mit Blut verschmiert und mit ihren zerrissenen Sachen zu sehen. Wann würde ich dieses Bild aus meinem Kopf bekommen? Was hatte dieser Staat aus mir gemacht? Sollte dieser Staat auf der Zielgeraden doch noch das Rennen gegen mich gewinnen? Hatte ich schon oder war ich nun endgültig verloren?
NEIN! Wo waren meine Kraft, mein Mut, meine innere Stärke? Die konnte die Stasi mir nicht genommen haben.
NEIN, ICH WILL LEBEN, ICH WILL LEBEN!
Ich wollte LEBEN und das Leben – vielleicht ja schon in naher Zukunft – auch wirklich leben, es in Freiheit genießen können. Das war es, was mich in diesen Tagen, die oft schwer waren, nicht verzweifeln ließ. Ich hatte keine Ahnung, wie das alles weitergehen sollte. Würde ich meine Familie, meine Freundin, meine Freunde jemals wiedersehen? Ich wusste nur, dass ich unter keinen Umständen in meinem Leben je wieder in die DDR zurückkehren würde. Dazu hatte ich hier viel zu viel Schmerzliches erlitten. Mit meinen Freunden konnte ich mich auch in der Tschechoslowakei oder in Ungarn treffen, obgleich mir das nicht viel sicherer erschien. Wie weit würde die Stasi im Zweifelsfall reichen? Oder andersherum: Wie weit an die DDR konnte ich mich ungefährdet heranwagen? Wann und wie würde ich alle wiedersehen?
Die Stunden vergingen hier manchmal so schnell, dass ich beim Zählen der Tage durcheinanderkam. Dann verging die Zeit wieder so langsam, dass ich mich darüber erschrak, dass wir immer noch das gleiche Datum hatten. An dieser Stelle möchte ich erwähnen, dass wir uns zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr als Gefangene fühlten. Jetzt, da wir wussten, dass die Freiheit nahte. Dennoch belasteten uns viele Fragen.
Wenn unser Freikauf abgeschlossen war, konnten wir in Freiheit leben, arbeiten und denken, wie aber ging es all denen, die nicht das Glück hatten, durch diesen Freikauf in den Westen zu gelangen? Wie lange würde man all diejenigen noch völlig willkürlich gefangen halten? Wie viel Leid und Schmerz hatten all die vielen anderen Häftlinge, die nur eingesperrt waren, weil sie in Freiheit leben wollten, noch auszuhalten? Werden wir unsere Freunde irgendwann wiedersehen? Können wir dann tatsächlich in Freiheit leben oder reicht der Arm der Stasi auch noch bis in den Westen? Wie wird das Leben dort weitergehen? Schließlich ist das Leben in Deutschland ein ganz anderes als das, das wir aus dem Unrechtssystem in der DDR kennen. Diese Fragen ließen mich immer wieder sehr nachdenklich werden. Eines aber war sicher: Ich wollte weg. Raus aus diesem Staat, der seine Bewohner einsperren muss, um sie am Gehen zu hindern.
Wir mussten alle einen Antrag auf Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR stellen und unterschreiben, dass wir während der Haftzeit niemals physisch oder psychisch misshandelt worden waren. Diese Unterschrift mussten wir noch während der letzten Tagen der Haft leisten. Wir wurden auch darüber belehrt, dass wir mit keinem Wort erzählen durften, was wir während der Haftzeit gesehen und/oder erlebt hatten. Falls wir uns nicht daran hielten, würden nicht nur wir selbst, sondern auch gleich die ganze Familie verhaftet werden.
Es nahte der Tag der Tage, wie wir sagten. Schon am Morgen sollten wir all unsere Sachen zusammenpacken. Alles, was dem Knast gehörte, gaben wir ab, zum Beispiel die Bettwäsche, das Besteck mitsamt der Bestecktasche, die Tasse, den Teller oder Dinge für die tägliche Hygiene. Die Stunden, die uns hier noch verblieben, vergingen so zäh und so langsam, als wären es Monate oder sogar Jahre.
Der Obermeister, der uns schließlich zum Bus begleitete, war nur noch das Abbild eines Menschen. Den versteinerten Blick und die eiskalte Sprache werde ich wohl nicht mehr vergessen. Als ich an der Reihe war und gefragt wurde, ob ich die DDR wirklich verlassen wolle, hätte ich beinahe angefangen zu lachen. »Natürlich will ich die DDR verlassen«, sagte ich. Dann lief ich los.
Die fünf, vielleicht sechs Meter ging ich sehr langsam, denn ich wollte diese Minuten spüren, ich wollte sie fühlen, riechen, sehen, ich wollte am liebsten die Zeit in Slow Motion erleben. Da stand er: der Bus. Für viele andere wäre es ein ganz normaler Bus vom Typ Mercedes gewesen. Für mich und für die anderen elf war er alles, aber kein normaler Bus. Schon auf den Stufen, die in das Fahrzeug führten, lag ein Teppich, die Sitze hatten Polsterbezüge und sehr hohe Lehnen. Ich setzte mich gleich in die zweite Reihe. Als ich mich anlehnte, merkte ich, wie weich das Polster, aber auch wie hoch die Rückenlehne war, denn ich konnte mich mit meinen knapp zwei Metern ganz anlehnen. Als ich saß, schloss ich erst mal die Augen.
Ich war angekommen, ich war da, wo ich zum Schluss nur noch hinwollte, ich war am Anfang eines neuen Lebens. Ich fühlte mich tatsächlich wie neu geboren. Ich begann, den Bus ganz genau zu betrachten, denn ich wollte keine einzige Kleinigkeit verpassen. Dieser Moment, da war ich mir sicher, würde in meinem Leben niemals wiederkommen. Also saugte ich die Luft ganz langsam durch meine Nase ein, und bevor ich wieder ausatmete, wartete ich so lange ich konnte. Ich glaubte, wenn ich schneller atmete, verginge die Zeit schneller.
Dann fuhr der Bus los. Nicht das laute Aufheulen des Motors, sondern nur der kraftvolle Zug der PS-starken Maschine beendete die Ruhe oder besser die Stille, die bis dahin das vorherrschende Geräusch im Bus gewesen war. Als wir uns auf freier Strecke befanden, fingen wir an, noch mehr zu genießen. Die Sängerkarriere stand wohl niemandem bevor, aber für die Hymne Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland reichte es. Als wir die ersten Zeilen gesungen hatten, passierte noch etwas, das ich so vorher noch nie erlebt hatte: Es sangen tatsächlich alle mit, sogar der Busfahrer. In diesem Moment bekamen wir alle Gänsehaut. Nie wieder kontrolliert werden, nie mehr vor einem Vernehmer sitzen, nie wieder sich nach allen Seiten umschauen müssen, bevor man etwas ausspricht, nie mehr … so viel mehr.
Es war früh am Morgen, als wir ankamen. Ich hatte nicht geschlafen, war aber auch überhaupt nicht müde. Ich glaubte, noch Tage so durchmachen zu können, ohne auch nur einen einzigen Augenblick darüber nachzudenken, was mein Körper dazu sagen würde. Ich war wie in Trance. Ich hatte Angst, dass dies nur ein Traum sein könnte, und wenn ich wach würde, wäre alles vorbei.
Als wir an unserem Ziel ankamen, standen wir vor dem Auffanglager in Gießen. Dort angekommen, atmeten wir das erste Mal die Luft der Freiheit – die Freiheit, zu leben, wie jeder Mensch das möchte. Ohne Bevormundung, ohne das Gefühl, in einem einzigen großen Gefängnis zu sitzen. Nie wieder Vernehmungen, nie wieder »Raus«, »Ausziehen«, »Bücken«, »Schlafhaltung einnehmen« oder »Kommen Sie«, »Gehen Sie«, »Bleiben Sie stehen«, »Gesicht zur Wand«, sondern nur noch den Duft der Freiheit riechen, ein neues Leben beginnen. In den ersten Jahren nach dem Freikauf feierte ich in jedem Jahr, am 08. April, meinen zweiten Geburtstag.
Gleich am zweiten Tag in der Freiheit sollte es aber doch wieder eine Vernehmung geben. Nein, nicht so wie im Stasigefängnis, hier ging es darum, dass die Deutschen Behörden wissen wollten, was mit uns gemacht worden und wie es um unseren Gesundheitszustand bestellt sei. Ich erzählte und erzählte, ohne auch nur einen einzigen Moment daran zu denken, dass ich doch vorher unterschrieben hatte, niemals etwas zu erzählen. Diese erpresste Unterschrift war für mich nicht mehr gültig, als wir angefangen hatten, die Nationalhymne Deutschlands zu singen.
Dann kam die Frage nach meinem künftigen Wohn- und Arbeitsort. Ich sagte schneller, als ich gefragt wurde: »Ich liebe die See, den Nordwind und die Freiheit. Ich möchte nach Hamburg.« Eigentlich sollte ich zurück nach Berlin, genauer gesagt nach Berlin-Wilmersdorf. Das war mir viel zu nah an der Mauer und ich hatte große Angst, dass die Stasi mich dort finden und wieder einsperren würde. Ich bat so lange darum, doch nach Hamburg gehen zu dürfen, bis man meinem Wunsch nachgab.
Noch knapp drei Wochen blieb ich in Gießen, dann hatte ich alle Papiere, eine Wohnung und auch einen Arbeitsplatz. Es ging nun dorthin, wo die Luft nach Freiheit riecht, der Wind so schön von vorn ins Gesicht bläst, in die große Freiheit, zum Tor zur Welt, mit Möwen, die lautstark verkündeten, dass ich nun wirklich in Freiheit lebte und nie wieder nach Berlin zurück musste. Das war ein solch wundervolles Gefühl, dass ich es mit Worten nicht beschreiben kann. Die Sonne kam heraus, verdrängte den Frühling und brachte den Beginn einer wunderschönen Zeit.
Ich hatte einen großen Wunsch, den ich mir sogleich erfüllte, nachdem ich angekommen war: Ich holte mir einen großen, einen richtig großen Eisbecher. Die Kellnerin in dem Café, in dem ich saß, muss entweder geahnt haben, woher ich komme, oder mich für völlig verrückt gehalten haben. Ich sah das Eis an, als wenn ich noch nie in meinem Leben etwas Vergleichbares gesehen hätte. Sechs Kugeln Eis und Früchte, die ich bis dahin noch nicht einmal vom Namen her kannte. Es war so lecker, dass ich glaube, den Geschmack nie wieder zu vergessen. Ich denke sehr gerne daran zurück.
Ich kaufte mir alles, was ich brauchte. Ganz besonders wichtig schienen mir eine Eckbank und ein Esstisch zu sein. Warum, weiß ich heute nicht mehr, aber das sind die einzigen Möbel, die noch heute in meiner Wohnung stehen. Ebenso mussten natürlich ein kleiner Fernseher, ein Radio, ein Bett, ein Schrank und Bekleidung gekauft werden. Ich hatte doch nichts außer den Sachen, die ich anhatte, und meine Eisenbahnuniform. Ich zog sie natürlich nicht mehr an, aber wegwerfen wollte ich sie auch nicht. Zumindest nicht gleich. Zu dieser Zeit hatte ich andere Dinge im Kopf, um die ich mir Gedanken machte und machen musste. Was wird aus mir und meiner Freundin? Werde ich sie wiedersehen? Wenn ja, wann? Was ist mit meinem Bruder? Ist auch er freigekauft worden oder sitzt er noch immer in Haft? Wo sind meine Eltern beerdigt?
Der Sommer kam und mit ihm mein Telefon. Ich bekam einen Telefonanschluss, obgleich ich diesen erst kurz zuvor beantragt hatte. Hielt dabei die Stasi die Fäden in der Hand, in der Hoffnung, ich würde nun mit irgendjemandem aus der Gruppe kontaktieren? Ich konnte mich nicht von dem Gedanken befreien, dass die Stasi noch immer so viel Macht über mich hatte, dass ich mir ein tatsächliches Ausmaß gar nicht ausmalen konnte oder wollte.
Die Arbeit hier im Hamburger Hafen war zwar körperlich schwer, aber wir waren ein so tolles Team, dass ich mich beinahe von Anfang an als wirklich angekommen fühlte. Meine Vergangenheit hat hier kaum irgendjemanden interessiert. Ich war einer aus dem Osten, aber da ich meine Arbeit machte, war ich auch ein gern gesehener Kollege, mit dem man eine Menge Spaß haben konnte. Wenn aber der Feierabend herangerückt war und wir alle nach Hause fuhren, beschäftigte mich zunehmend der Gedanke, wie es meiner Freundin ging.
Zurück in den Osten würde ich nie mehr kommen, denn ich hatte in meinem Pass einen Stempel, der besagte, dass ich für die nächsten neunundneunzig Jahre in der DDR als unerwünschte Person gelte.
Damit waren die Chancen für ein Treffen sehr gering. Außerdem traute ich kaum jemandem, um nicht zu sagen, beinahe niemandem mehr. Was war das, Vertrauen? Für mich nur noch etwas, das ich am besten niemandem mehr entgegenbringen sollte und wollte. Ich hatte in schmerzvollen Lektionen erfahren müssen, wie es ist, wenn man den falschen Menschen Vertrauen schenkt. Gab es hier in Hamburg, im Hafen oder womöglich sogar unter den Kollegen so jemanden? Ich wusste es nicht und daher hatte ich für mich beschlossen, so gut wie nichts von mir zu erzählen. Wir sprachen auf der Arbeit oft miteinander, aber von mir erzählte ich nichts. So fraßen sich die schmerzvollen Lektionen immer mehr in mich hinein.
Ich arbeitete fleißig weiter, freute mich über jeden neuen Tag, über die Möwen, die Seeluft, den Wind, einfach über alles, was ich mit meinen fünf Sinnen aufsaugen konnte. Die Zeit soll ja alle Wunden heilen, hat mal ein Kollege gesagt. Ich weiß nicht, die Zeit verändert vielleicht den Blickwinkel, aber alle Wunden heilen? Nein, das wohl nicht.
Es wurde Herbst. Die Zeit war so schnell vergangen, dass ich gar nicht richtig realisieren konnte, dass ich mich nun wirklich in Freiheit befand. Bevor der Herbst die Blätter der Bäume bunt färben würde, wollte ich einmal die Freiheit sehen und fühlen. Hamburg wird gern und auch zu Recht als das Tor zur Welt bezeichnet. Das Tor zur Welt – da kam mir und meinem besten Freund eine Idee. Was liegt näher, als in den nächsten Flieger zu steigen und die Freiheit über den Wolken und in der Stadt der Städte zu genießen? Richtig, auf nach New York. Wir waren so lange in der DDR eingesperrt gewesen, dass wir einen echten Bedarf an Freiheit hatten.
Wir erlebten diese Woche in New York, waren im Central Park, beim Rockefeller Center, auf der Brooklyn Bridge, am World Trade Center und natürlich auch bei der Freiheitsstatue. New York ist eine so tolle Stadt, die anscheinend wirklich niemals zur Ruhe kommt oder etwa schläft. Wunderschön! Es ist im wahrsten Sinne des Wortes die Stadt der Städte.
Als wir nach dieser Woche wieder zurück in Hamburg waren, hatte sich vielmehr in der DDR eine ganze Menge ereignet. Von den Kollegen erfuhren wir, dass sich die Bevölkerung dort gegen die Diktatur zu erheben schien. Mein erster Gedanke, als ich das hörte, war, dass die Bevölkerung das im Jahre 1953 schon einmal getan hatte. Damals jedoch waren Panzer der Russen durch die Straßen gerollt und viele der Menschen waren verhaftet und in Farce-Verhandlungen zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden. Der Aufstand selbst war blutig niedergeschlagen worden. Wenn das wieder passierte, dann würde ich meine Freundin wahrscheinlich nie wiedersehen. Wenn sie frei war und noch dort lebte, dann war sie garantiert bei jeder Demonstration dabei und das nicht in der vorletzten, sondern in der ersten Reihe. Da war ich mir sicher. So hoffte ich, dass dieser Aufstand zu Freiheit und Demokratie führen und nicht blutig beendet werden würde.
Aber bis das Volk in der DDR an diesem Punkt ankam, würden bestimmt noch Monate oder Jahre vergehen, da war ich mir sicher. Schließlich hatte ich lange genug dort gelebt, um mir vorzustellen, wie die Stasi, die SED und die Volkspolizei auf diese Erhebung der Bevölkerung reagieren würden. Entsprechende Befehle und Weisungen aus der Partei- und Staatsführung würden auch nicht lange ausbleiben. Würden auch dieses Mal russische Panzer kommen, um alles niederzuschlagen? Da war ich mir nicht so sicher, denn seit Michail Gorbatschow in Russland an der Macht war, vollzog sich anscheinend auch dort langsam aber sicher ein Wandel. Aber ein schneller Wandel, da war ich mir wieder sicher, würde auch in Russland nicht geschehen.
Die Wahl, die keine war, hatte all dies wohl ausgelöst. Als im Frühjahr verkündet worden war, wie viele Menschen an der Wahl beteiligt waren und dass natürlich die SED die meisten Stimmen bekommen hatte, war wohl jedem, der eins und eins zusammenzählen konnte, klar, dass dies eine glatte Fälschung war. Dass viele Wahlen schon vorher keine gewesen waren, war eigentlich bekannt, damals aber hatte sich wohl niemand getraut, sich dagegen aufzulehnen. Dieses Mal jedoch war alles anders.
Anfang September gingen Oppositionelle in Leipzig auf die Straße und forderten Demokratie, Pressefreiheit und offene Grenzen. Die Stasi ging massiv dagegen vor und verhängte drastische Strafen. Sicherlich auch in der Hoffnung, dass solche Demonstrationen künftig nicht mehr stattfinden würden. Aber das Gegenteil war der Fall und das war es, was auch mich freute. Endlich stand das Volk auf und sagte, was es wollte.
Als jedoch Ende September mehrere tausend Menschen durch Leipzig zogen, zog auch die Staatsgewalt mit kompletter Schutzausrüstung auf die Straße, und schon hatte ich eine riesige Angst, dass die friedlichen Demonstranten nicht nur zusammengeknüppelt werden würden, sondern dass diese Demo auch noch das Ende des Aufstandes bedeuten würde.
Nur zwei Tage nach dem 40. Geburtstag der DDR gingen wieder Tausende von Menschen auf die Straße, die massiven Drohungen der SED völlig ignorierend. Es sollten nicht nur Drohungen sein, die bereits vor Ort befindlichen Truppen warteten anscheinend nur auf den Befehl. Aber der kam nicht. Dieser Befehl kam schlichtweg nicht. Im Gegenteil, die Truppen wurden wieder abgezogen. So war der Bann gebrochen und im gesamten Land lehnte sich die Bevölkerung gegen die Diktatur auf. Die Partei- und Staatsführung, wie sie sich selbst immer so gern nannte, befand sich, glaube ich, nun in einem Albtraum.
In den nun folgenden Tagen und Wochen schaltete ich oft die Nachrichten ab, weil ich immer noch übergroße Angst hatte, dass auf einmal alles kippen konnte. Ich wollte im Fernsehen nicht sehen, wie Schüsse fielen und blutüberströmte Menschen auf den Straßen lagen. Ehrlich, ich hatte eine solche Angst, weil ich aus eigenem Erleben erfahren hatte, wozu dieser Staat und seine Stasi fähig waren. Was, wenn doch alles niedergeschlagen wurde, jetzt, da sich die meisten Menschen, die Veränderungen wollten, an diesen Demonstrationen beteiligten? Man musste doch nur blind in die Menge schießen und mit Panzern dazwischenfahren. Auch dazu wäre die Partei wohl fähig, davon war ich überzeugt.
So ging ich auch am 9. November zur Arbeit, ohne vorher Nachrichten gesehen oder gehört zu haben. Meine Kollegen waren interessierter, aber bei mir überwog noch immer die Angst. So kam es, wie es kommen musste. Ein Kollege kam zu mir und sagte: »Gerd, komm doch mal mit in den Pausenraum, in Berlin fällt die Mauer.« Der Fernseher war an und beinahe alle saßen davor, als fände gerade eine Fußball-WM statt. Dann sah ich die vielen Menschen, die immer mehr und mehr wurden, und dann die Soldaten, die nicht daran dachten, auch nur irgendetwas in Richtung Mauerfall zu tun. Also setzte ich mich dazu, denn diese Bilder hatten mich in wenigen Sekunden völlig in ihren Bann gezogen. Dann sahen wir andere Bilder und plötzlich passierte es. Das Unfassbare geschah tatsächlich. Ich bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Da passierte etwas, das ich so schnell nicht erwartet hatte und das alles verändern würde.
Der Schlagbaum an der Brücke in der Bornholmer Straße ging nach oben. Kein Schuss fiel, keiner wurde verhaftet. Die Menschen rannten los, Menschen, die sich noch nie gesehen hatten, lagen sich in den Armen. Freudentränen, unfassbares Glücksgefühl, all das spielte sich auf den Straßen Berlins, in ganz Berlin, binnen weniger Stunden ab.
Mein erster Gedanke war: Hurra, das hässlichste Bauwerk, das Menschen je gebaut haben, ist weg! Wie wundervoll, ich habe von keinem Schuss gehört! Aber was, wenn jetzt alle rüberkommen? Was, wenn mein Vernehmer vor mir steht? Was, wenn sie die Mauer wieder schließen und noch mehr Familien trennen? All das ging mir nun durch den Kopf. So ist das eben, wenn man gelernt hat, dass man sich sehr, sehr genau überlegen muss, wem man etwas Vertrauen entgegenbringt. Ich hatte zu diesem Staat selbstverständlich überhaupt kein Vertrauen mehr. Woher hätte es auch kommen sollen?
Wirklich weitergearbeitet hat von unserem Team niemand. Schließlich kannten die meisten zumindest ein paar Teile meiner Biografie und wussten, dass man nicht einfach mal so aus der DDR nach Hamburg kommt, wenn man noch nicht einmal sechsundzwanzig Jahre alt ist, das war hier jedem klar. Anscheinend sahen meine Kollegen mir meinen Kummer an, denn alle wollten mir helfen, wollten wissen, wie es mir jetzt gehe, was ich nun tun werde, ob ich hierbleiben werde und noch so viel mehr.
Wieder einmal spürte ich, wie schön es ist, wenn es Menschen gibt, die mir etwas bedeuten und denen ich etwas bedeute. Auch wenn das Arbeitsklima oft rau war, so war es doch auch sehr herzlich und in diesem Moment warteten alle auf irgendein Wort von mir. Ich aber saß da und konnte gar nichts sagen. Ich bekam einfach keinen Ton heraus. Dieses Gefühl kannte ich aus der bisher schlimmsten Zeit meines Lebens, nämlich der in der Absonderungs- oder besser gesagt Gummizelle im Stasiknast, in dem ich war.
Das Gefühl war genau dasselbe, aber ich war doch gar nicht dort. Ich verstand das alles nicht. Was war auf einmal los mit mir? War das alles zu viel für mich in der doch relativ kurzen Zeit? Hatte ich mich so sehr auf die Freiheit und das Leben in Freiheit gefreut, dass mir durch den Fall der Mauer ganz andere Dinge durch den Kopf schossen, wie eben der Gedanke, was wohl passieren würde, wenn plötzlich mein Vernehmer vor mir stünde? Da war eine riesige Angst, die in mir hochstieg und langsam, aber stetig drohte, mich ganz zu verunsichern. Was würde dann passieren? Würde ich weiter in Freiheit leben können? Irgendein Mann, der etwa zwanzig Jahre älter war als ich, konnte in mir eine solch große Angst auslösen, erst recht, wenn ich mitbekam, dass dieser Mensch aus dem Osten kam.
Ich spürte wieder oft diese Hilflosigkeit, die Angst und das Gefühl des Ausgeliefertseins. Ja, das ging so weit, dass ich sogar auf den Gedanken kam, aus Deutschland wegzugehen, und dann möglichst weit weg. Aber wo sollte ich hin? Amerika oder Australien fielen mir ein. Dann aber würde ich eher nach Australien gehen. Das war weiter weg und die Natur, die Kultur und die Menschen, die dort lebten, faszinierten mich schon lange. War das der Anfang eines Gedankens, der sich in mir immer mehr verfestigte? Ich hatte keine Ahnung und jetzt war das auch erst mal reine Träumerei, obgleich ich zugeben muss, dass es eine schöne Träumerei war. Jetzt in Australien … die Wellensittiche, die ich schon als Kind mochte, flogen hier einfach so herum, Koalabären auf der Suche nach dem nächsten Eukalyptusbaum und die Kängurus … ja, das war ein schöner Traum, den ich mir da ausmalte. Aber ganz so einfach und wie im Urlaubsparadies würde das Leben dort auch nicht sein. Nicht? Dieser Gedanke holte mich aus meinen Träumereien zurück auf den Boden der Tatsachen in dem schon sehr kühlen Hamburg.
So vergingen die nächsten Tage und Wochen. Mein Geburtstag kam, den ich zum ersten Mal nach langer Zeit in Freiheit feiern konnte, dann folgte das Weihnachtsfest. Weihnachten verbrachte ich alleine zu Hause und die beiden Feiertage mit ein paar Freunden, die ich in den letzten Monaten in Hamburg kennengelernt hatte. Es war ein schönes Fest. Nach dem Fest ging es wieder an die Arbeit, jedenfalls für die letzten paar Tage in einem für mich und auch für das ganze deutsche Volk so ereignisreichen Jahr. Mit dem Silvesterabend ging dann auch dieses Jahr zu Ende.
Genauso wie jedes andere Jahr zuvor? Nein, da war ich mir sicher, in diesem Jahr war so viel passiert, dass man allein damit Bücher füllen könnte. All die Menschen, die direkt dabei waren, könnten darüber ganze Regale mit Büchern füllen. Doch zurück zum Silvesterabend. Alle, oder zumindest viele Menschen, hatten an Silvester gute Vorsätze für das neue Jahr. Dieses Mal hatte auch ich mir drei gute Vorsätze für das neue Jahr vorgenommen:
Ich werde mich im kommenden Jahr aufmachen und meinen Bruder suchen.
Ich werde meine Freundin suchen.
Ich werde, sobald es geht, versuchen herauszufinden, wer mich an die Stasi verraten und so meine Verhaftung erst möglich gemacht hat.
Das waren die drei Dinge, die ich unbedingt im neuen Jahr tun wollte.