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Der Weg in die Freiheit Hans Hohlbein
ОглавлениеAuszug aus »Flüchtige Verstrickungen« (epubli)
Genau in diesem Moment schubste mich Alex an und zeitgleich sprangen wir beide aus der Hocke in die Senkrechte. Mit einem letzten flüchtigen Handschlag wandte er sich von mir ab, setzte zum Sprung an und rannte einige Meter parallel zum Bahndamm mit dem Zug um die Wette. Für wenige Sekunden blieb ich noch in angespannter Haltung wartend auf dem Schotter stehen, um mit weit aufgerissenen Augen genau die Vorgehensweise von Alex zu verfolgen, und vor allem, um selbst gleich blitzschnell reagieren zu können.
Den ersten Wagon hinter der Lok ließ Alex in geduckter Haltung an sich vorbei fahren, danach ähnelte seine Reaktion dem Verhalten eines Panthers beim Beutesprung. Genau am Anfang des zweiten Wagens schnellte er hoch, machte einen seitlichen Sprung, erfasste mit beiden Händen gleichzeitig den langen Haltegriff neben der Tür, schwang sich auf die erste Stufe der Einstiegstreppe und hatte es geschafft.
Das Ganze hatte ich blitzschnell registriert, als schon Sekunden später der Haltegriff vom Ende des gleichen Wagons auf mich zukam. Mit einem Ruck löste ich mich aus meiner Starre, duckte mich nach vorn, riss kurz entschlossen beide Arme nach oben und setzte zum Sprung an. Dabei erwischte meine Linke zuerst den langen Haltegriff, umfasste den kalten Stahl, und wollte meinen Körper mit gewaltiger Kraft nach oben ziehen. Zeitgleich versuchte meine rechte Hand ebenfalls den Griff zu erreichen, rutschte aber sofort wieder von der Stange ab und fasste mehrmals ins Leere. Meine Linke hing zwar noch für Sekunden fest am Griff, mein Körper aber drehte sich plötzlich durch die Kraft des Zuges nach rechts ein.
Ausschließlich am linken Arm hängend, die Füße noch nicht auf dem Trittbrett, hatte ich als Rechtshänder nicht mehr die Kraft, um mich weiter nach oben ziehen zu können. Die gewaltsame Drehung meines Oberkörpers verursachte in der linken Schulter einen solchen Schmerz, dass meine Hand den Griff augenblicklich wieder loslassen musste und mein Arm auf die erste Trittbrettstufe aufschlug. In Sekundenschnelle landete ich rücklings auf dem Schotterbett neben den Bahngleisen, rollte über die linke Schulter ab, wurde zwischen Bahndamm und Gestrüpp geschleudert und blieb wie betäubt reglos am Boden liegen.
Ob ich bei dem Aufprall geschrien habe, ist mir nicht mehr in Erinnerung, zumal ich trotz der Schmerzen in Schulter und Handgelenk, ohne einen Laut von mir zu geben, in dieser Lage verharren musste bis der hell erleuchtete Zug gänzlich an mir vorbei gerauscht war. Das gelbliche Licht aus den Fenstern der Zugabteile huschte jetzt zunehmend schneller über mich hinweg, während ich erstarrt und mit schmerzenden Gliedern im Graben neben dem Gleisbett ausharren musste.
Erst als über meinem Kopf die davon blitzenden Lichtreflexe schneller und kürzer wurden, konnte ich sicher sein, dass der Zug wieder seine alte Geschwindigkeit erreicht hatte. Obwohl mein ganzer Körper jetzt schon bei der kleinsten Bewegung schmerzte, versuchte ich ganz vorsichtig den Kopf anzuheben und bekam gerade noch mit, wie die roten Schlusslichter in sanften Schwingungen in die Nacht abtauchten. Umso mehr spürte ich meine wahnsinnigen Schmerzen, fühlte eine totale Leere in meinem Kopf. Nur mit äußerster Anspannung gelang es mir, mich überhaupt zu konzentrieren, auch nur annähernd meine Orientierung wieder zu finden, um möglichst schnell einen klaren Gedanken fassen zu können. Vor Angst zitternd lauschte ich nach allen Seiten in die Dunkelheit hinein, weil ich befürchten musste, jetzt von patrouillierenden Grenzern entdeckt zu werden, aber das einzige Geräusch, das ich in der Ferne ausmachen konnte, waren die abschwellenden Schlaggeräusche der Schienenstöße.
Es waren Sekunden, die für mich zur Ewigkeit wurden, in denen sich die Zeit wie ein unerträglicher Schmerz ausdehnte, bis irgendwann die Nacht lautlos zurückkehrte, und mit ihrer Kühle mein Schmerzempfinden wieder ein wenig milderte. Ich weiß nicht wie lange ich gezögert, wie lange ich mit mir gerungen habe, bis ich wieder den vorsichtigen Versuch unternahm, mich zu bewegen, meine Gliedmaße auf ihre Funktion hin zu testen. Mit den Armen abstützend versuchte ich langsam wieder in die Hocke zu kommen, um mich aus dieser unbequemen Haltung heraus allmählich wieder aufrichten zu können.
Nach wie vor hatte ich große Angst, entdeckt zu werden, blieb deshalb weiter in geduckter Haltung und lauschte nach allen Seiten hin in die Finsternis. Meine Augen starrten unendlich lange ins Leere, fingen schon zu brennen an, suchten vergeblich nach dem davongefahrenen Zug, der mich ganz allein hier am Bahngleis zurückgelassen hatte. In weiter Ferne entdeckte ich gerade noch zwei winzige rote Punkte, die wie Schlusslichter eines Bootes in der Dunkelheit davon tänzelten. Mit der Entfernung kleiner werdend tauchten sie in die Unendlichkeit der Nacht ab. Mit ihnen entschwanden auch Alex B. und all meine Hoffnung.
Obwohl meine Schulter und besonders mein linkes Handgelenk jetzt enorm wehtaten, fand ich beim Abtasten meiner Kleidung keinerlei Hinweise auf defekte Stellen, und schlüpfte kurz entschlossen erst einmal in das Gebüsch zurück, um wieder auf den Pfad entlang des Zaunes zu gelangen. Egal wie, jetzt musste ich denselben Weg zurück, diesmal ganz allein, ohne Alex. Eine Alternative dazu gab es nicht.
Gerade wollte ich meine schmerzenden Glieder wieder zaghaft in Bewegung setzen, als plötzlich vom Schotterbett des Gleises her deutlich Schritte zu vernehmen waren. Es bestand auch kein Zweifel, dass sie mir entgegenkamen, denn die Trittgeräusche wurden zunehmend lauter. Gleichzeitig hörte ich Stimmen, die zweifelsfrei von zwei Wachposten herrühren mussten, die sich vermutlich auf ihrem Kontrollgang befanden. Auf der Stelle blieb ich wie angewurzelt stehen, ging, jeden Schmerzlaut unterdrückend, ganz vorsichtig nach unten in die Hocke und versuchte parallel zum Bahndamm wieder in die Horizontale zu kommen. So gut es ging ignorierte ich die nicht nachlassenden Gelenkschmerzen und legte mich vorsichtig der Länge nach auf den Boden. Die Arme ganz eng an meinen Körper gedrückt, die Beine lang ausgestreckt, so konnte ich flach auf dem Bauch liegend mein schwaches Stöhnen als auch meinen hastigen Atem weitgehend unterdrücken.
Schon bei dem einfachen Versuch meinen Kopf auf dem rechten Arm abzulegen, hätte ich vor Schmerz laut aufschreien wollen, aber die Schritte kamen jetzt bedrohlich näher und ich konnte die ersten Wortfetzen der Grenzsoldaten schon deutlicher heraushören. Vorsichtig rollte ich mich in die Seitenlage, winkelte die Beine an, legte den Kopf zum Zaun gewandt auf meinem rechten Oberarm ab und starrte, meinen lauter werdenden Atem weiter flach haltend, mit leerem Blick durch das gerade noch wahrnehmbare Gitternetz des Zaunes. Hinter dem Maschendraht lag der alles verschlingende nächtliche Wald.
Lange quälende Minuten vergingen, bis ich das Gespräch der Grenzer besser verstehen, und dem Hall ihrer Schritte entnehmen konnte, dass sie jetzt ziemlich genau auf meiner Höhe angekommen sein mussten. Das schmerzhafte Klopfen in meinem Arm wurde heftiger, der Schlag meines Herzens pulsierte durch den ganzen Körper, hämmerte sich hinauf bis in die Schläfen, die jetzt beinahe zu platzen drohten. Innständig hoffte ich, dass die Unterhaltung der beiden laut genug war, denn ich hatte berechtigte Angst, dass sie meinen Herzschlag hören könnten. Inmitten dieser gefühlten Ewigkeit lag ich mit schlotternden Knien auf dem Bauch, unaufhörlich bemüht, meinen Atem zu dämpfen, aber das Dröhnen in meinem Schädel wurde stärker und stärker.
Obwohl mein Kopf beinahe am Zerspringen, und ich eigentlich gar nicht mehr aufnahmefähig war, konnte ich deutlich die Worte des einen Wachpostens heraushören: »Und, du hast Nichts davon gemerkt, dachtest du etwa, du bist der Einzige? Ich sag dir nur, bei der Käte sind schon Einige rüber gestiegen... die ist ja auch wirklich große Klasse, ich kann das nur bestätigen. Aber was noch besser ist, an den Sonnabenden ist sie fast immer in den Weinbergterrassen ... und wer Lust hat, schleppt sie dann auch ab.« »Du spinnst, das glaub ich nicht«, empörte sich die andere Stimme, die jetzt etwa genau auf meiner Höhe sein musste, wenige Sekunden später aber wieder leiser wurde.
Jetzt war ich total verunsichert, denn die schlurfenden Schritte der beiden Grenzer schienen sich allem Anschein nach wieder von mir zu entfernen. Obwohl ihr Gespräch sich eher hitziger entwickelte, wurden ihre Wortfetzen mit größer werdendem Abstand von der Nacht wieder völlig aufgesaugt. Für mich die Gewissheit, dass sie sich wieder in die Richtung Bahnhof und Wachturm bewegten. Vorerst war ich erleichtert, atmete tief durch und wurde schon ein wenig ruhiger. Nach dieser kurzen Verschnaufpause fasste ich wieder all meinen Mut zusammen, sortierte meine lahmen Glieder, rappelte mich vorsichtig auf und ordnete erst einmal meine Gedanken für den schwierigen, aber nicht weniger gefährlichen Rückzug.
Schon nach wenigen Schritten schreckte mich erneut ein verdächtiges Geräusch auf, jetzt war ich total verunsichert, weil ich wieder auf mich zukommende Trittgeräusche hörte, und auch die einzelnen Stimmen konnte ich jetzt ganz deutlich unterscheiden. Die beiden Grenzer mussten anscheinend wieder ihre Richtung geändert haben und marschierten jetzt direkt auf mich zu. Beinahe wäre ich schon auf dem Pfad zwischen Hecke und Bahndamm gewesen, als ich gerade noch rechtzeitig bemerkt hatte, dass sie wieder auf dem Weg zu mir waren. Ich hatte gerade noch so viel Zeit, um blitzschnell reagieren zu können, und kroch auf allen vieren hinter das Gestrüpp, um mich der Länge nach vor den Drahtzaun legen zu können.
Wie ich jetzt ganz deutlich heraushören konnte, unterhielten sich die beiden Wachposten über das gleiche Thema, mit dem sie sich gerade noch vor wenigen Minuten von mir entfernt hatten. Obwohl sie vorher über eine gewisse Theresa gestritten hatten, hörte sich ihre Tonlage jetzt schon weitaus gemäßigter an. Der eine der beiden hob vehement die besonderen Vorzüge dieser Dame hervor, während der andere das jedes Mal durch ein missmutiges Brummen kommentierte. Im Verlauf ihrer hitzigen Unterhaltung waren sie jetzt unmittelbar auf meiner Höhe angelangt und blieben nur wenige Meter von mir entfernt plötzlich stehen.
Jetzt wird gleich alles vorbei sein, zuckte es wie ein Blitz durch meine Gedanken, weil ich annehmen musste, dass sie jetzt bestimmt ein Geräusch wahrgenommen, und gehört hatten, wie ich durch das Gestrüpp gekrochen bin, mich hier unten gleich entdecken, und auf der Stelle verhaften werden!
Mein Herz klopfte wie wild, raste aufwärts bis in die Schläfen. Wenn sie jetzt unterhalb der Gleise auf dem Schotterbett nur wenige Schritte weitergingen, würden sie direkt auf mich zulaufen und über meine Füße stolpern. Damit wäre schon in wenigen Sekunden mein Schicksal besiegelt. In meiner großen Angst fantasierte ich wie im Fieber, und hörte schon das Schreien: »Halt, wer da?« Ich erinnerte mich an den gestrigen Traum und sah mich in Handschellen in den Knast gehen. All diese blitzartigen Fantasien dauerten nur einen kurzen Moment, dann gab ich endgültig auf, ließ den Kopf nach unten sinken, schloss die Augen und drückte mein Gesicht fest auf die scharfkantigen Steine des Schotterbodens. Ohne irgendein Schmerzempfinden ergab ich mich meinem Schicksal.
Wie aus einem Traum rissen mich plötzlich die Worte des einen Grenzers ganz schnell wieder in die Wirklichkeit zurück: »Du spinnst, ich werd`s dir beweisen...wir nehmen beide am Sonnabend Ausgang und dann lassen wir’s drauf ankommen.« »Du musst verrückt sein, ich glaub’s nicht,« empörte sich der Andere. Wieder Stille.
Reglos wie ein Toter lag ich auf dem Schotter, mir stockte der Atem, mein Schädel drohte beinahe zu zerspringen. In höchster Anspannung lauschte ich auf jedes ihrer Worte, zählte jeden ihrer Schritte, wartete auf den alles vernichtenden Augenblick.
Plötzlich glaubte ich, meinen Ohren nicht mehr zu trauen, denn ich merkte, dass meine akustische Wahrnehmung, dass das Gespräch der Grenzer auf einmal wieder abflaute, unverständlicher und kontinuierlich wieder leiser wurde. Offensichtlich hatten sie ihren Plan geändert und eine Kehrtwendung gemacht.
An den Gott, der nicht der meine war, schickte ich weiter Hilferufe, hoffte inständig, dass mich mein Gehör nicht getäuscht hatte, dass ich keiner Halluzination aufgesessen war, dass die Grenzer wirklich ihre Richtung geändert hatten und ihren Wachgang in die vorgegebene Richtung fortsetzten. Schon nach wenigen Minuten war mein Gebet erhört und meine Hoffnung belohnt worden. Das abschwellende Gemurmel der beiden Grenzer war die Bestätigung dafür, dass sie sich wieder auf ihrem an gestammten Pfad befanden und in Richtung Wachturm marschierten. In der von ihnen zurückgelassenen Stille blieben Bruchstücke einzelner Wörter, auf dem Gleisbett das Knirschen ihrer Stiefel zurück.
Erst jetzt spürte ich, wie das in meinem Kopf aufgestaute Blut, wie das Hämmern in meinen Schläfen in kleinen Schüben in meinen leblosen Körper zurücksackte. Ich merkte wie ein gewaltiger Stein lautlos von meinem Herzen fiel. Der beinahe aussichtslose Versuch wieder in die Senkrechte zu gelangen, war für mich nur unter großen Schmerzen zu ertragen. In meinem Schädel summte es wie in einem Bienenstock, Schultergelenk und Arm versagten vorerst gänzlich ihren Dienst, sodass ich mich mit nur einer Hand vom Boden abstützen musste, um wenigsten in eine sitzende Haltung zu gelangen. Die Zeit drängte, eine neue Patrouille konnte hier jederzeit wieder aufkreuzen, trotzdem wollte ich meinem Körper eine kurze Verschnaufpause gönnen, und deshalb für einige Minuten hier sitzen bleiben.
Erst als ich völlig sicher war, dass die Grenzer wieder in der Nähe des Wachturms angelangt waren, und vermutlich von einem neuen Wachtrupp abgelöst wurden, begann ich mich mental auf meinen Rückzug vorzubereiten. Vor mir würden jetzt die gleichen Hindernisse liegen, die ich vordem mit Alex überwunden hatte, aber jetzt hatte ich sie allein zu nehmen, und mich allen Gefahren noch einmal auszusetzen. Der erste Abschnitt des Rückweges verlief zwischen Sträuchern und Zaun, lag im völligen Dunkel und würde es mir ermöglichen, ihn ein ganzes Stück aufrecht zurückzulegen. Ich unterdrückte so gut es ging meine ungeheuer schmerzenden Glieder, und humpelte zügig auf dem Pfad zwischen Zaun und Bahngleis voran. Vor mir das drohend auf mich zukommende, gleißende Licht des Wachturms, hinter mir die verlorene Freiheit.
Es ist mir wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis ich mich nach etwa zwanzig Minuten meiner letzten gefährlichen Hürde näherte. Ganz vorsichtig musste ich wieder in Deckung gehen, um auf allen vieren in unmittelbarer Nähe des Lichtkegels, der grell vom Turm herunter die Bahngleise absuchte, wie ein geprügelter Hund am Wachturm vorbei zu kriechen. Erst auf dem letzten kurzen Wegstück bis zum Bahnübergang konnte ich es endlich wieder wagen ganz nach oben zu kommen, und probte im Schatten der Büsche mehr schlecht als recht den aufrechten Gang.
Wenige Schritte vor der Bahnschranke angekommen, drängte es mich ungeheuer, einen lauten Erlösungsschrei auszustoßen. Aber ich besann mich ganz schnell wieder und unterdrückte, mit Rücksicht auf mein sicheres Durchkommen, erst mal diese leichtsinnige Gefühlsäußerung. Die Angst, erwischt zu werden, saß mir nach wie vor noch fest im Nacken. Ein letzter Schritt, und ich trat mit schlotternden Knien aus dem dunklen Gebüsch heraus, um am gelblichen Licht des Wärterhäuschens endgültig wieder aufzutauchen.