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2 Erfolg in Paris

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Der Beifall war um Nuancen anders als in Deutschland. Aus dem anschwellenden Geräusch des Trampelns und Klatschens sprangen die Zurufe einzelner, gaben dem Ganzen einen vielgestaltigen Klang. Nun erhoben sich alle und sangen die Internationale. Der Redner war zurückgetreten vom Pult, stand am Präsidiumstisch auf der Bühne und sang kräftig mit. Die französischen Worte des Liedes hatte sich Philipp Scheidemann eingepaukt. Als die nächste Strophe angestimmt wurde, stutzte er einen Augenblick und sang dann aus voller Kehle den deutschen Text. Hochfliegende Gedanken beschäftigten ihn: Weder mit solchen Massen hatte ich gerechnet noch mit dieser Begeisterung - wenn man bedenkt, dass Satz für Satz meiner Rede übersetzt werden musste.

Das Lied war verklungen, die Saaltüren öffneten sich, und hinter den Hinausströmenden blieb der feine Schleier bläulichen Tabakrauchs. Scheidemann genoss den Rausch, den er bei denen dort unten hervorgerufen hatte, obwohl er überzeugt war, der graue Alltag würde den Einzelnen schnell ernüchtern. Breitete sich der Balkankrieg über Europa aus, dann würden auch diese Pariser Arbeiter in die Poilu-Uniform steigen, die ihre Mächtigen schon für sie bereithielten. Dabei kam ihm nicht der Gedanke, wie sehr es auf die Organisation ankommt, ob der Einzelne einsam bleibt oder ob die Millionen Individuen, zusammengefasst durch die Idee der Partei, als geballte Kraft in die Waagschale der Geschichte geworfen werden.

Scheidemann wurde aus seinen Gedanken gerissen, auf der Bühne wimmelte es von freudig erregten Menschen, die dem Friedensboten aus Berlin die Hand drücken wollten, Grüße an die deutschen Genossen auftrugen, Dankesworte für die großartige Rede hervorsprudelten. Der Gefeierte strahlte, erwiderte mit Bonmots. Dieser Abschluss war ein zwar strapaziöses, aber erfreuliches Geschäft, das ihn den Erfolg nachhaltig auskosten ließ. Genosse Leger, der Dolmetscher, geborener Elsässer, übersetzte rasch und fließend.

Der nun stille, leere Saal machte frösteln, langsam leerte sich auch die Bühne. Während Scheidemann ein Päckchen Grußadressen und Briefe durchsah, besprachen sich die Genossen der Versammlungskommission, und Leger fragte, ob der Genosse Scheidemann sehr müde sei. In diesem Fall würde er ihn zu seinem Hotel bringen. Vorstellbar sei aber auch ein Bummel durch die Etablissements von Montmartre.

Sorgfältig verstaute Scheidemann die Friedensbotschaften in der Aktentasche und überlegte. Müde? Da war nicht mehr als wohliges Abgespanntsein. Die berühmten Stätten der leicht geschürzten Muse, wie etwa die Folies-Bergere oder Moulin Rouge, hätte er gern durch eigenen Augenschein kennengelernt, doch manche Genossen in der Heimat würden es nach solch einem Abend sicher bekritteln. Er schlug einen Plausch in einem gemütlichen Restaurant vor.

"Voila, gehen wir!" ermunterte Leger, und es schlossen sich noch zwei Genossen an.

Kurz darauf fanden die Vier in einem Restaurant einen Tisch, an dem man sich ungestört unterhalten konnte. Scheidemann bat, eine Flasche Champagner bestellen zu dürfen, die Andern quittierten es mit Scherzworten.

"Wir freuen uns, dass die deutschen Genossen Sie geschickt haben, denn Ihr Ruf als glänzender Redner reicht ja über Deutschland hinaus", sagte Morizet. Er war mittleren Alters wie Leger, sein schwarzes, wuschliges Haar und die großen, brennenden Augen mochten auf bedachtsame Menschen beunruhigend wirken.

Scheidemann vergaß nicht, dass er sich im Land der geschliffenen Komplimente befand, und erklärte geschmeichelt, ohne den exzellenten Dolmetscher wäre der Erfolg dieses Abends nicht denkbar gewesen.

Leger wehrte ab und sprach die Hoffnung aus, dass alle gleichartigen Massenveranstaltungen des heutigen Abends in den Hauptstädten Europas ähnlich verlaufen sein mögen.

Scheidemann nickte eifrig. Falls Jean Jaures in Berlin einen adäquaten Dolmetscher zur Seite gehabt habe wie er, dürfte die Berliner Veranstaltung der in Paris nicht nachstehen.

Um Liebknechts Erfolg in Budapest sei ihm ebenfalls nicht bange, bemerkte Morizet. Nichts im Gesicht Scheidemanns verriet, dass ihm der Name Liebknecht nicht angenehm in den Ohren klang. In diesem Zusammenhang interessiere ihn, fuhr Morizet fort, und er sei deshalb für diese Unterhaltung dankbar, ob Scheidemann sich in letzter Zeit den mehr linksstehenden Genossen angenähert habe.

Scheidemann behielt den verbindlichen Gesichtsausdruck und fragte, was Morizet unter rechts und links verstehe. In Deutschland betrachte man die ganze Sozialdemokratische Partei als links stehend, die Organisationen der Bürger als rechts stehend.

Morizet resümierte, Scheidemann habe seine Rede aufgebaut auf der antimilitaristischen Tradition der deutschen Sozialdemokratie, habe an die Verweigerung der Kriegskredite 1870 durch Bebel und Wilhelm Liebknecht erinnert, an das Eintreten der beiden für die Pariser Kommune und daran, dass sie für ihre Friedensaktivitäten mit Festungshaft büßen mussten. Die Zitierung der Worte Bebels gegen das militaristische Preußen-Deutschland - diesem System keinen Mann und keinen Groschen - habe schon brausende Zustimmung ausgelöst.

Während der Garçon die Gläser füllte, die Flasche im Eiskübel deponierte, fragte sich Scheidemann, ob es sich bei Morizet nur um naiven Wissensdurst handele. Er wusste nicht, dass der temperamentvolle Franzose ein Freund Liebknechts war und als Journalist für die Humanite schrieb. Mit aufmunternden Worten trank Scheidemann den drei Genossen zu. Als er das Glas wieder hinsetzte, war er sich klar über seine Taktik: auf keinen Fall Grundsatzfragen behandeln. Lasse ich mich hier aufs Glatteis führen, dann ist womöglich in den nächsten Tagen in irgend so einem Oppositionsblättchen etwas vom Mann mit den zwei Zungen zu lesen. Es wäre nicht der erste Angriff von jener Seite. Mit dem Zeigefinger strich er sich die Sektfeuchte vom Bart auf der Oberlippe und fragte Morizet liebenswürdig, ob er es für falsch halte, in einer Massenveranstaltung der Völkerverbrüderung auf derartige Traditionen hinzuweisen.

Im Gegenteil, das sei genau das Richtige, versicherte der dritte Genosse, Boulbec mit Namen. Er war der Älteste am Tisch und erinnerte Scheidemann an einen Epikureer, der stets aus dem Leben das Beste zu machen weiß. Womöglich rührte der Eindruck von seinem Bäuchlein her, dem vollen Gesicht mit der fleischigen Nase und der blanken Glatze.

Na also, Scheidemann trank Boulbec zu, da sei ja die Einigkeit zwischen Franzosen und Deutschen wiederhergestellt. Mit diesem charmanten Waffenstillstandsangebot hoffte er auf mehr Zurückhaltung des aggressiven Struwwelpeters. Ihm war jetzt am allerwenigsten nach Politisieren zumute. Weit lieber hätte er bei unverbindlicher Plauderei das Leben in diesem Lokal beobachtet. Dessen Publikum schien sich neben Angestellten und besser bezahlten Arbeitern aus Journalisten und Angehörigen freier Berufe zusammenzusetzen, hatte aber wenig von der Atmosphäre jener Künstlerkneipen, die den Fremden als Attraktion vorgeführt werden. Die Mehrzahl der Besucher schien das Etablissement als zweites Zuhause zu betrachten, der Ton war familiärer als in den meisten Berliner Restaurants.

Scheidemanns Hoffnung trog, es schien, als habe dieser Morizet schon lange darauf gewartet, mit ihm sprechen zu können. Morizet sagte, er halte es für schädlich, innerparteiliche Meinungsverschiedenheiten in Kampfveranstaltungen gegen den Klassenfeind hineinzutragen. Aber hier im kleinen Kreis könne doch über interne Fragen gesprochen werden. Die Anwendung konkreter Kampfmaßnahmen im Falle eines imperialistischen Krieges sei ja bekanntermaßen erst durch die Bemühungen Lenins und Rosa Luxemburgs in die Stuttgarter Resolution hineingenommen worden. Bernstein und die Leute seiner Couleur seien keineswegs davon erbaut gewesen. Sie hätten es - wäre Bebel nicht gewesen - zu verhindern gewusst.

Überlegen-nachsichtig strich sich Scheidemann den gepflegten Spitzbart. "Wissen Sie, Genosse Morizet, das sind doch lediglich Fragen der öffentlichen Taktik. Soll man dem Gegner genau aufs Butterbrot schmieren, was die Internationale im Kriegsfall zu tun gedenkt?"

Bliebe also die Frage, gab Morizet zu bedenken, was die Parteiführungen in besagtem Fall für möglich hielten.

Er habe bereits betont, bemerkte Scheidemann nonchalant, dass er es für abträglich halte, derartig heikle Fragen vor aller Welt auszutragen.

Vor aller Welt? Ganz wie der Genosse Scheidemann vorgeschlagen, säßen sie hier doch gemütlich und privat, erinnerte Morizet.

Champagner bestellt zu haben, fand Scheidemann angesichts dieser Unterhaltung nun ein wenig unpassend. Auf allen Tischen standen Siphons. Es wurde meist Rotwein getrunken. Die Leute spritzten ihn mit dem Kohlensäurewasser. Es wäre schön, mein lieber Morizet, dachte Scheidemann, wenn wir hier gemütlich und privat säßen. Doch du willst etwas Offizielles aus mir herausquetschen. Aber ich kenne deinen Typ und eure Termini. Imperialistischer Krieg. Was weiß der einfache Mann damit anzufangen? Ich habe vom Krieg und vom Frieden gesprochen, das versteht jeder.

Boulbec kam Scheidemann abermals zu Hilfe. "Eben, Genosse Morizet", nahm er dessen Erwiderung auf, "man muss auch mal verschnaufen, ganz Mensch sein, in der Politik haben wir an diesem Abend wohl unser Möglichstes getan."

Morizet lächelte ein wenig boshaft über Boulbecs Selbstzufriedenheit und versuchte auf andere Art, beim Gegenstand zu bleiben. "Die beste Politik ist Menschlichkeit." Morizet fragte Boulbec, ob er diesen Satz für falsch halte.

"Der Satz könnte von Rousseau stammen, vielleicht von Diderot", orakelte Boulbec.

Monizet blinzelte Boulbec an. "Der Satz ist von Liebknecht."

"Ein überzeugender Aphorismus", bemerkte Scheidemann.

"Wäre er mir bekannt gewesen, ich hätte ihn in meiner Rede zitiert."

Morizet tat überzeugt. "Als interessantes Phänomen empfinde ich folgende Tatsache", er sagte es im Plauderton, als wolle er auf ein neutrales Thema kommen, "obwohl es in allen Parteien der Internationale zwei Hauptströmungen gibt, könnte man glauben, die Führer der internationalen Sozialdemokratie sind allesamt links stehend, sofern man ihre Reden auf Massenveranstaltungen betrachtet. Schon aus dem Grund bin ich gespannt auf die Rede Molkenbuhrs in Amsterdam, die morgen früh in der Humanite abgedruckt sein wird. Ich wette, auch da trifft zu, was ich eben festgestellt habe. Dabei gibt es doch wohl keinen Zweifel, dass der Genosse Molkenbuhr zum rechten Flügel der deutschen Sozialdemokratie gehört. Bei Ihnen, Genosse Scheidemann, scheint mir das nicht immer so klar ersichtlich zu sein. Nur deshalb meine Frage zu Anfang des Gesprächs."

Mit Genugtuung vermerkte Scheidemann den nun folgenden Disput zwischen den französischen Genossen. 0ffensichtlich warf Boulbec dem Morizet vor, er habe sich unhöflich benommen, Scheidemann plump attackiert. Leger versuchte den Streit der beiden zu schlichten und fuhr sie an, sich endlich zu beherrschen. Einlenkend schlug Morizet vor, dass er zur Buße vier Calvados bestellen werde. Leger übersetzte diesen Vorschlag und unterschlug das Wort Buße nicht.

Scheidemann hielt die Hand vor den Mund und gähnte dezent. Freundlich erklärte er, keinen Grund zur Buße zu sehen. Es sei ein anregendes Gespräch gewesen, die Welt wäre langweilig, seien alle immer einer Meinung. Doch jetzt spüre er die Anstrengungen des Tages, und er bitte die Genossen um Verständnis für sein kaum noch zu bezwingendes Schlafbedürfnis.

Lachend erklärten die Drei, dass auch sie baldigem Schlaf nicht abgeneigt seien. Boulbec ging voraus und rief eine Autodroschke herbei. Zu viert fuhren sie zum Hotel, in dem Scheidemann übernachtete.

Morizet drückte Abschied nehmend Scheidemann die Hand und bat um Nachsicht für seine französische Impulsivität. Sozusagen als Ausgleich nehme er an, dass Jaures in Berlin ähnliche Fragen gestellt würden. Dessen ehrliche Kriegsgegnerschaft stehe zwar außer Zweifel, ansonsten aber gehöre er keinesfalls zum revolutionären Flügel der Partei.

Scheidemann bewahrte weiterhin Kontenance. "Auf dem Münchener Parteitag wurde Karl Liebknecht wegen seines ungehörigen Tons gegen Jaures vom Genossen Bernstein zur Ordnung gerufen", erinnerte er, und es sollte ein Kompliment für Jaures und die französische Partei sein. "Es war ein handfester Familienstreit in unserer Partei."

"Wobei allerdings Familienvater Bebel dem jungen Mann bescheinigte, dass er eine schneidige Feder führe", ergänzte Morizet. "Ferner erklärte August Bebel, wenn Liebknechts Vater noch gelebt hätte, wäre dessen Antwort an Jaures schärfer ausgefallen."

"Man sollte Sie ins Parteiarchiv holen", lobte Scheidemann ironisch, "Sie wissen gut Bescheid in der Historie unserer internationalen Bewegung."

Morizet hob abwehrend die Hände. "Das Schicksal bewahre mich vor Aktenregalen."

Boulbec und Leger nahmen ihn freundschaftlich bei der Schulter und zogen ihn mit sich fort. "Du kannst es nicht lassen", räsonierte Boulbec, schaute noch einmal zurück, und seine Geste deutete Winken und zugleich Entschuldigung an.

Scheidemann erwiderte den Gruß und schritt durch die Drehtür des Hotels. Zuvorkommend überreichte man ihm an der Rezeption den Zimmerschlüssel. Unzufrieden mit sich selbst, zog er die goldene Kapseluhr aus der nach neuestem Schnitt geschneiderten Weste: Jetzt ist es zu spät für den Nachtzug. Anstatt mich von dem Radikalinski Morizet langweilen zu lassen, hätte ich im Schlafwagen einen halben Tag gewinnen können. Während er die Uhr wieder sorgfältig wegsteckte, hatte er sich bereits damit abgefunden, erst am andern Tag reisen zu können. Ein Schlafwagenbett hält übrigens keinen Vergleich mit einem französischen Hotelbett aus, dachte er. Er ließ sich noch einen leichten Imbiss aufs Zimmer bringen, ehe er sich gähnend im weichen Pfühl streckte.

In der Frühe des nächsten Morgens bestellte er den Hotel-Coiffeur, pries dessen leichte Hand beim Rasieren und unterstrich es mit einem guten Trinkgeld. Das Frühstück ließ er sich im Zimmer servieren, da er befürchtete, Morizet würde noch einmal aufkreuzen. Im Speisesaal könnte er ihn nicht gut abwimmeln. Bald darauf lobte sich Scheidemann ob dieser Vorsicht. Von der Rezeption kam ein Anruf, Monsieur Morizet wünsche Herrn Scheidemann zu sprechen, ob er heraufkommen dürfe. Blitzschnell überlegte Scheidemann und bat, Monsieur Morizet möge im Lesezimmer warten, er werde sich beeilen. Scheidemann beeilte sich wirklich. Der Koffer war schnell gepackt, das Zimmermädchen dankte mit einem anmutigen Knicks für die spendable Aufmerksamkeit und zauberte den Empfangschef mit der Rechnung herbei. Scheidemann bezahlte, bat, eine Autodroschke zur Gare du Nord zu bestellen, und fragte, ob dieser Monsieur Morizet im Lesezimmer Platz genommen habe.

Unbewegten Gesichts schüttelte der Befrackte den Kopf. "Non, Monsieur, er hat sich vor dem Lift postiert."

Für diese Auskunft schob Scheidemann schnell noch ein Francstück zu dem Geld auf dem silbernen Tablett. Er stieg ins Erdgeschoss hinab. In der Halle stand Morizet vor dem Lift, kehrte ihm den Rücken zu und starrte unverwandt auf die Aussteigenden.

Scheidemann stellte sich hinter eine Fächerpalme und schrieb auf seine Visitenkarte, er habe den Genossen Morizet im Lesezimmer nicht angetroffen. Leider konnte er nicht länger warten, um seinen Zug nicht zu versäumen. Tausend Dank für alles, in sozialistischer Verbundenheit, Ihr getreuer Ph. Scheidemann. In Druckbuchstaben malte er den Namen Morizet auf die Karte und gab sie, auf den Namen weisend, an der Reception ab. Ein verstohlener Blick zu Morizet, der noch immer vor dem Lift stand, und Scheidemann trat durch einen Seitenausgang auf die Straße. Aufatmend warf er sich ins Polster der Autodroschke. Es ist keine Lüge, was auf der Visitenkarte steht, bester Morizet, du warst wirklich nicht im Leseraum. Dass unser Gespräch nicht zustande kam, ist also deine Schuld, nicht die meine. Wer einen Ph. Scheidemann festnageln will, muss früher aufstehen. Gestern Abend sind dir deine beiden Genossen in die Parade gefahren, heute, allein mit mir, hofftest du mehr herauszuschlagen. Glücklicherweise seid ihr Apostel der Revolution uns nicht gewachsen. Solange wir da sind, wird euch euer Vabanquespiel nicht gelingen. Eure sogenannten Massenaktionen basieren auf Tollhäuslerlogik. Als ob man einen Staat zerstören kann, ohne dass Arbeiterpartei, Arbeitergewerkschaften, Arbeitereigentum zerstört werden. Generalstreik ist Generalunsinn. Ignaz Auer hatte recht. Er hätte es nur nicht aussprechen sollen. Je weniger Gelegenheiten man den Umstürzlern zum Aufheulen gibt, desto schwieriger wird ihr Gewerbe.

Die Autodroschke hielt am Bahnhof, ein Gepäckträger eilte herbei. Er erkannte den Ausländer und bugsierte ihn zum richtigen Fahrkartenschalter. Nachdem er Scheidemann den Koffer durchs Fenster des Abteils erster Klasse gehoben hatte, blickte er fast erschrocken auf die gute Belohnung. Dann legte er die Hand ans Mützenschild, "Merci beau coup, Monsieur - Bon voyage!"

Angenehm berührt nickte Scheidemann. Man ist nicht umsonst einer der bestangezogenen Sozialdemokraten, hat es als ehemaliger Buchdrucker weit gebracht. Einmal wird die Partei mitregieren. Dann werden Genossen gebraucht, die auf keinem Parkett ausrutschen.

Mit sich zufrieden, nahm Scheidemann eine Importe aus der Zigarettentasche und paffte blaue Wölkchen in die Luft des Abteils. Hoffentlich steigt niemand mehr zu. Es ist erholsam, in weichen Polstern turbulente Tage zu überdenken. Botschafter des Friedens aus Berlin; Abgesandter der stärksten Sektion der Internationale. So etwas animiert die Pariser Arbeiter. Aber wenn einer sich ans Rednerpult stellt, ohne die Mentalität des kleinen Mannes zu kennen, dann verblasst die glänzendste Aureole. Man muss nicht nur reden können, man muss immer wissen, zu wem man spricht. - Idiotie der deutsch-französischen Erbfeindschaft - wenn solch Satz die französischen Sozialisten nicht von den Stühlen reißt, dann bin ich kein Volksredner. Natürlich gibt es immer einige Querulanten wie diesen Morizet, die nach dem Haar in der Suppe fischen. Kein Zufall, dass er sich mehrmals auf Liebknecht berief. Wie mag der abgeschnitten haben in Budapest? Er erinnert mich immer an ein ofenheißes Gebäck, das unsere klugen Dummen vom Parteivorstand am liebsten verschlängen, um es los zu sein. Dabei verbrennen sie sich den Mund und mehr. Den besänftigt man mit Zustimmung und tut das Gegenteil. Fanatiker sind weder mit Argumenten noch mit Postenangeboten zu bekehren. Man muss den Leuten nicht unbedingt sagen, was sie eigentlich hören müssten, sondern was sie hören wollen. Liebknecht ist zu ehrgeizig. Aus falsch verstandener Familientradition überfordert er ständig sich und andere. Patenkind von Marx und Engels, Sohn des berühmten Wilhelm Liebknecht. Mit solchem Anfangskapital hätte unsereiner Besseres anzufangen gewusst, als ständig zu stänkern. Diese ungestüme Unruhe im Uhrwerk der Partei verbraucht viel Kraft des Apparats zur Hemmung. Aber weshalb über die Dialektik des Lebens trauern? Wozu wäre eine Riesenpartei nützlicher, als die Zügellosen zu zügeln? Es sollte mich wundern, wenn der Ausflug nach Ungarn Liebknecht nicht wieder zu irgendetwas stimuliert hat. Bin gespannt, was er uns diesmal auf den Tisch legen wird.

Leider stiegen noch mehr Mitreisende ins Coupe. Das gerümpfte Näschen einer Dame trieb Scheidemann mit seiner Zigarre auf den Gang des D-Zuges. Er tröstete sich mit dem Gedanken, im Speisewagen werde ich mir einen Armagnac genehmigen, vielleicht finde ich eine nette Reisebekanntschaft, Die Zeit bis Chemnitz vergeht auch, das Umsteigen ist das einzig Unbequeme. Noskes Telegramm deutet Neuigkeiten an. Gute Idee von ihm, mein Zwischenaufenthalt erspart ihm oder mir eine lästige Hin- und Rückreise. Persönliche Gespräche sind ergiebiger als Briefe oder Telegramme - und sicherer. Ich darf nicht vergessen, Kinkel zu telegrafieren, dass er mich morgen in Berlin abholt.

Als Scheidemann am nächsten Abend bei seiner Ankunft in Berlin Kinkel weder auf dem Bahnsteig noch in der Bahnhofshalle entdecken konnte, war er mehr als verwundert. Er war es gewöhnt, dass der strebsame junge Mann seine Telegramme ernst nahm. Kinkel, Sekretär-Aspirant im Fraktionsvorstand, bewunderte Scheidemann und gab dies durch kleine und große Aufmerksamkeiten zu erkennen. Er funktionierte zuverlässig wie ein Kammerdiener, stenografierte flüssig und hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis. Immer informiert über offizielle Parteidinge und inoffiziellen Parteiklatsch, teilte er beides stets sachlich mit. Seine Bewunderung für mich ist echt, dachte Scheidemann, außerdem weiß er nur zu gut, dass man eine Parteikarriere nicht besser beginnen kann, als wenn man sich einem der führenden Männer bedingungslos anschließt. Es ist angenehm, einen diskreten, dienstbaren Geist um sich zu wissen, er spart einem Zeit und Kraft. Mit siebenundvierzig ist man kein Springinsfeld mehr, die brauseköpfige Jugendzeit in Kassel ist fast schon Legende.

Ärgerlich über Kinkels überraschende Unzuverlässigkeit, ging Scheidemann neben dem Gepäckträger her. Angesichts des leeren Halteplatzes für Autodroschken wuchs der Unmut des Herrn Reichstagsabgeordneten.

Der Träger fragte Scheidemann, ob er nicht eine Pferdedroschke nehmen wolle. In einer Art Trotzstimmung erklärte Scheidemann, er werde warten. Der Mann mit der grünen Schürze setzte den Koffer ab. Scheidemann zahlte in genau abgezählten Sechsern. Tiefsinnig betrachtete der Träger das Geld auf der flachen Hand. Dann lüftete er, mit ausgestrecktem Zeigefinger den Mützenschirm hebend, die Kopfbedeckung und grinste philosophisch. "Schön Dank ooch, Herr Jraf."

Flaps, dachte Scheidemann und tat, als habe er es nicht gehört. Angesichts solcher Musterexemplare braucht sich niemand zu wundern, wenn die Bürger von proletarischem Plebs sprechen. In seiner Verärgerung merkte Scheidemann nicht, dass ihn ein langaufgeschossener junger Mann aus einiger Entfernung betrachtete. Dessen grüner Lodenmantel schien schon Generationen gedient zu haben. Der Beobachter war barhäuptig, und wie zum Ausgleich dafür trug er das Arbeiter-Chemisett, eine Art Achtel-Oberhemd, in Berlin "Schmiesken" genannt.

Scheidemann und auch der im Lodenmantel wurden aufmerksam, als eilig ein gut angezogener junger Mann über den Platz kam. Das Licht der hohen Gaskandelaber ließ sein blasses Gesicht noch fahler erscheinen. Er tat sehr zerknirscht. "Bitte tausendmal um Entschuldigung, Genosse Scheidemann, hatte kaum noch Hoffnung, Sie zu finden."

Schon ein wenig versöhnt, erwiderte Scheidemann, Kinkel möge Gott danken, dass es in Berlin weniger Autodroschken gebe als in Paris.

"Es ist nämlich wieder einmal Hochbetrieb, schwierig gewesen, mich frei zu machen. Da kommt jetzt einiges auf uns zu, zum Beispiel die Auswertung der internationalen Veranstaltungen ... Genosse Molkenbuhr hat interessante Einzelheiten aus Amsterdam mitgebracht, und ..."

"Aus Amsterdam?" Scheidemann wunderte sich. "In der Partei der Niederlande lief es bisher eigentlich immer recht zufriedenstellend."

"Weniger in Amsterdam, sondern in Brüssel und Paris ist die Opposition in letzter Zeit sehr mobil geworden."

Von Paris könnte ich es bekräftigen, dachte Scheidemann, aber ich werde es nicht ausplauschen wie der alte Esel Molkenbuhr. Ungeduldig schaute er nach einer Autodroschke aus, langsam wurde ihm kühl. Das Wetter in Berlin war auf leichten Novemberfrost umgeschlagen.

Eifrig wollte Kinkel den Lagebericht fortsetzen, doch mit einer, Kopfbewegung zum Halteplatz der Pferdedroschken hemmte Scheidemann seinen Redefluss und bemerkte seufzend, er werde nun doch mit einem Hafermotor vorliebnehmen. Eilfertig packte Kinkel den Koffer am Griff und ließ ihn erschrocken wieder sinken. An Muskelkraft hatte er nicht halb soviel zu bieten wie an guten Manieren.

"Lassense mich mal, das mach ich seit meinem zwölften Lebensjahr." Geübt schwang der im Lodenmantel das schwere Gepäckstück auf die Schulter, marschierte los und setzte den Koffer auf den Bock der ersten Pferdedroschke in der wartenden Reihe. Erleichtert und kopfschüttelnd folgten die beiden dem Hilfsbereiten. Man könnte denken, der erste Windstoß pustet den langen schmalen Körper um, dachte Scheidemann, aber der Bursche hat mehr Kraft, als man ihm zutraut. "Was bin ich Ihnen schuldig?", fragte er, und seine Hand fuhr in die Tasche des gehrockartigen Mantels.

"Nö, nö, Genosse Scheidemann, so war's nicht gemeint. Bodo Eckstein is mein Name, wohne in Pankow, bin dort im Jugendausschuss der Partei."

"Und Sie sind sich ganz sicher, dass ich wirklich der bin, für den Sie mich ..."

"Na klar, Genosse Scheidemann, gleich hab ich Sie erkannt. Hatte bloß nich den Mumm, Sie anzusprechen. Aber jetzt, wo sich nun die Jelejenheit so ergibt, hätt ich schon 'ne Bitte."

"Entschuldigen Sie, bester Genosse Ecken ..., äh, Ecksteiner", Kinkel hatte sich beflissen eingeschaltet, "vielleicht können Sie das schriftlich ... Genosse Scheidemann ist abgespannt von der Reise, möchte sicherlich ..."

Nichts Dümmeres als diesen Burschen jetzt abzuschieben, dachte Scheidemann gereizt, ohne es zu zeigen, der erzählt seinen Jugendlichen womöglich, dass an den arroganten Scheidemann kein Herankommen sei. Jovial legte er Eckstein die Hand auf die Schulter und tat, als sei Kinkel nicht vorhanden. "Steigen Sie mit ein, reden Sie frei von der Leber weg, so kommen wir beide zu unserm Recht."

Unter Dankesworten nahm Eckstein in der Droschke Platz.

Mit zusammengepressten Lippen drückte sich Kinkel in die Ecke des Rücksitzes. "Es ist so", begann Eckstein, "wenn man den Jungens nicht öfter was Aufmunterndes bietet, dann lahmt das Gruppenleben. Nu hab ich den Bericht über Ihre Pariser Rede im Vorwärts gelesen und dachte, Mann, so was brauchen wir. Sozusagen 'n historischer Abriss über die antimilitaristischen Traditionen unserer Partei. Wenn Sie in der Linie mal als Redner, Genosse Scheidemann …, die öffentliche Jugendversammlung würden wir schon organisieren. Natürlich mit 'nem ganz neutralen Thema."

Neuerdings avanciere ich zum Magneten für radikale Elemente, ging es Scheidemann durch den Kopf. Der ist halb so alt wie Morizet, doch zehn Jahre weiter, dann hat er nicht weniger Haare auf den Zähnen als sein französischer Kumpan. Er kommt aus den untersten Schichten, erstaunlich, wie er sich um ein einigermaßen gutes Deutsch bemüht. Ohne das Wohlwollen in seiner Miene zu mindern, fragte Scheidemann:

"Sagen Sie, Genosse ..., Genosse ..."

"Eckstein, Bodo Eckstein is mein Name, aber sagense ruhig Botte zu mir. War lange genug Bottkeule, ehe ich mich zum Laboranten raufgestrampelt habe."

"Einverstanden", Scheidemann war belustigt über diese Mischung von offenherziger Naivität und vitaler Pfiffigkeit. "Was ich Sie also fragen wollte, Genosse Botte: Ist nicht neulich erst eine Jugendversammlung polizeilich aufgelöst worden?"

Gelassen winkte Botte ab. "Eine? Es ist schon mehr die Regel. Mit dem verschärften Gesetz über Jugendvereine haben die gehofft, die Jugendarbeit kaputtzumachen. Aber wir sind ja nich janz so dämlich wie die Blauen."

Die beste Gelegenheit, aus erster Hand etwas Konkretes über die Methoden der Polizei zu erfahren, dachte Scheidemann und sagte: "Entschuldigen Sie, Genosse Botte, wenn ich ein bisschen dumm frage, aber Jugendarbeit ist - ist gewissermaßen nicht mein Ressort, der Genosse Ebert wäre zuständiger. Vor Überlastung kann man sich leider zu wenig um diesen wichtigen Abschnitt der Parteiarbeit kümmern. Wie ging das in Ihrem Fall vonstatten?"

Nachdenkend hob Botte den länglichen Kopf mit der großen Nase, seine Stirn bekam kleine Falten, als er sich bemühte, die Vorgänge zu rekonstruieren. "Das erste Mal haben sie aufjelöst wejen des politischen Themas. Weil, das Jesetz verbietet Jugendlichen unter einundzwanzich politische Betätigung. Also machten wir die nächste Versammlung mit 'm unpolitischen Thema. Die Pickelhaube hat erst ziemlich spät jemerkt, dass wir sie vereiert hatten. Nu kamen sie damit, der Referent muss 'nen schriftlichen Ausweis über eine pädagogische Praxis vorweisen. Holten wir uns einfach 'nen Genossen Stadtverordneten. Der ersetzt keinen Ausweis, sagte der von der Polente. Da haben wir 'ne ganze Stunde über Geschäftsordnungsanträge diskutiert. War natürlich 'n Dreh. So konnten wir schon allerhand unterbringen von dem, was jesagt werden sollte. Leider hat der Blaue den Braten dann doch jerochen und uns aus dem Saal jagen lassen."

"Sie haben Humor", Scheidemann lachte amüsiert, "unter solchen Umständen soll ich also meine knapp bemessene Zeit ..."

"Nö, nö." Botte blieb unbeirrt. "Da sagt eben der Versammlungsleiter, der polizeilichen Anweisung müsse nachgekommen werden. Er bitte den Saal zu verlassen, aber Interessenten könnten zum Jugendheim kommen, um bei Jesellschaftsspielen, Volksliedern und Volkstänzen wenigstens noch etwas von dem Abend zu haben. Gegen die Pfleje deutschen Volksgutes dürfte wohl selbst der Herr Polizeipräsident nichts einzuwenden haben. Je nach Umstände jehn wir einzeln oder jeschlossen zum Heim. Wir stellen Posten auf, und dann steigt der Vortrag. So bis zu fünfzig kommen schon. Is zwar nich so viel wie 'n paar Hundert im Saal, aber besser als nischt."

"Sozusagen illegal." Scheidemann tat bedenklich, war gespannt auf die Antwort und beobachtete aufmerksam das Gesicht Bottes, in dem sich keine Miene verzog. "Wat sonst? Wenn die uns so kommen? - Aber wenn Sie anjekündigt sind, als Reichstagsabjeordneter, mit Immunität, da werden wir nich nötich haben, ins Heim zu ziehn."

Scheidemann stellte befriedigt fest, dass er gleich zu Hause sein werde. Langsam wurde der Bursche lästig. Scheidemann als Stützpfeiler illegaler Jugendarbeit! Witz oder Unverschämtheit? Ich muss ihn loswerden. "Wacker, wacker, Ihr unermüdliches Eintreten für die Partei, Genosse Botte. Ich denke, es wird sich mal machen lassen. Senden Sie mir bitte ein Konzept zu, mit Thema, Terminvorschlag und Versammlungsort. Ich schaue dann auf meinen Zeitplan und schreibe Ihnen, wann es geht."

"Na großartig!" Botte schlug sich vor Begeisterung auf die Schenkel. "Spätestens übermorgen haben Sie das Konzept."

"Wir sind da", sagte Scheidemann, und der Kutscher drehte die Bremse an. Behände sprang Botte aus der Droschke und hob den Koffer heraus. "Ist schon gut", wehrte Scheidemann lachend ab, "der Kollege Kutscher wird ihn mir hinauftragen, wer verdient sich nicht gern eine Kleinigkeit." Er zückte sein Portemonnaie. "Sie, Genosse Botte, steigen wieder ein und lassen sich nach Hause fahren. Ich mache es glatt."

Bottes tief liegende braune Augen glänzten wie polierte Metallknöpfe. "Ick? Droschkefahren mit so schöne lange Beene?" Schnell fragte er den Kutscher nach dem Preis bis Pankow. Treuherzig bat er dann: "Aber wenn Sie mir den Betrag jeben würden, Genosse Scheidemann? Nicht für mich. Bloß - in unsrer Gruppenkasse is meist Ebbe."

Etwas betreten gab Scheidemann Botte das Geld und drückte ihm die Hand. "Machen Sie es gut, und grüßen Sie die Genossen von mir."

"Danke schön, vielen Dank, Genosse Scheidemann", stieß Botte hervor und stürmte davon, Kinkel völlig übersehend, der reserviert "Adieu" gemurmelt hatte.

Während der Kutscher den Koffer nach oben trug, standen die beiden und schauten dem in der Dunkelheit verschwindenden Botte nach. Verwundert fragte Kinkel: "Wollen Sie wirklich in Pankow referieren, Genosse Scheidemann?"

Der Gefragte sah seinen Adlatus mit einem mitleidigen Blick an.

"Tscha, aber ..."

"Gehen wir hinauf", bremste ihn Scheidemann, "eine kleine Lektion über die Kunst des Dilatorischen scheint mir angebracht zu sein. Schlägt man mit zwingenden Gründen mehrmals Terminänderungen vor, werden es die Antragsteller bald leid. Wenn nicht, bleibt als letzte Möglichkeit ein Wink an die Partei in Pankow, die Versammlung abzulehnen. Schließlich sitzen dort im Jugendausschuss auch noch reifere Genossen als dieser Botte, nicht wahr?"

Ehrlich verblüfft über die Klugheit seines Meisters, gestand Kinkel: "Ich muss noch viel lernen, Genosse Scheidemann."

Der anonyme Brief

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