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4 Von Bienen und Menschen

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Nachdenklich legte Liebknecht die Briefblätter auf den Schreibtisch. Ihm wurde nicht bewusst, dass er selten so scheinbar untätig saß und wie auch Stille verschiedene Färbungen haben kann; in diesem mit Büchern, Mappen und Papieren vollgestopften Arbeitszimmer verschmolzen die vielfältigen Geräusche der Großstadt zu einem fernen Summen.

Liebknecht schreckte aus seinen Gedanken. Auf der Diele hörte er Sophie und Heli, den Ältesten, heftig flüstern. Die Freude über den vor ihm liegenden Brief verleitete Liebknecht zum Nachgeben. "Was gibt's?", rief er aufgeräumt. "Bringet den Streit vor den Kadi, auf dass er ein salomonisch Urteil fälle!"

Die Tür öffnete sich, ein wenig streng blickte Sophie auf den Zwölfjährigen. "Ich habe gesagt, er soll bis zum Abendessen warten. Er meinte, das kenne er schon, fast immer müsse der Papa gleich nach dem Essen fort."

Leider hat er recht, dachte Liebknecht, aber heute Abend kann ich einmal zu Haus bleiben. "Wenn es Helmi so eilig hat, wird es wohl sehr wichtig sein." Aufmunternd zwinkerte er dem Sohn zu. "Sprich, Filius, was bedrückt dich?"

So unvermittelt aufgefordert, fand Helmi nicht gleich den rechten Anfang. In dem großen Sessel wirkte er kleiner, als er war, nachdenkend starrte er auf seine Stiefelspitzen. Die waren grau gestoßen vom Fußballspiel mit einer Blechbüchse. Verstohlen klemmte er die Füße hinter die Vorderbeine des Sessels.

Leise zog sich Sophie zurück, im Gefühl, Helmi wolle mit dem Vater allein sein. Um ihren kleinen vollen Mund war ein leicht unzufriedener Zug. Beim nächsten Mal werde ich es schwer haben, Helmi vom Arbeitszimmer fernzuhalten. So unnachsichtig Karl in großen Fragen ist, so leicht gibt er in den kleinen Dingen nach. Nicht zuletzt wohl auch, weil er den Kindern nie genug Zeit widmen kann. Ich hatte nicht erwartet, es leicht zu haben mit den drei Kindern. Aber im Großen und Ganzen ist es besser gegangen, als ich geglaubt hatte. Es ist Karls Verdienst. Wen er liebt, den mögen sie ebenfalls. Vielleicht mögen sie mich auch deshalb, weil ich nicht versucht habe, mich bei ihnen einzuschmeicheln. Zuneigung muss langsam wachsen. Julia war lange krank, sie haben die Mutter über Gebühr entbehren müssen. Als Sophie daran dachte, wie herzlich sie von den Dreien begrüßt wurde, als Karl sie zum ersten Mal vorstellte, hellten sich ihre Züge auf. Sie sprach sich Mut zu, es wird schon weiter gut gehen, auch wenn ich Disziplinlosigkeiten nicht akzeptiere.

Liebknecht half dem Sohn mit der Frage: "Hat es Ärger in der Schule gegeben?"

Dankbar nickte Helmi. "Mit Studienrat Kreftich."

"Warst du vorlaut?"

Vorwurfsvoll sah Helmi den Vater von unten herauf an. "Schuld bist du, Papa."

Liebknecht unterdrückte ein Schmunzeln. "Da bin ich aber gespannt."

"Schuld hat auch unser Primus, Max Steinert, der immer mit seinen Einsen in Geschichte prahlt."

"Es wäre schön, wenn du in Geschichte auch Einsen hättest."

"Bei Kreftich? Da kann ich mich Kopfstellen. Bin doch der Sohn vom Liebknecht."

"Also weiter. Schuld bin ich, schuld hatte Max, nur mein lieber Helmi war unschuldig."

"Es war so!" Auf Helmis Jungenstirn bildeten sich Falten. Er wollte schon bei der Wahrheit bleiben, aber jede Geschichte lässt sich so und so erzählen. "Fritz Heimburger fragt den Alex Stibbek, ob er gestern Nachmittag im Park mit Käthchen Heiland über platonische Liebe debattiert hat. Da sagt Steinert, was wisst ihr Affen von Plato, dem größten Philosophen Griechenlands. Darauf ich: erstens heißt er Platon, weil er ein Grieche ist; zweitens lässt sich darüber streiten, ob er der größte war. - Steinert schreit, ob etwa die Idee vom Guten, der Schönheit, Tugend und Wahrheit nicht das Größte ist? Brülle nicht, sage ich, Platons Ideen sind ganz schön, aber bloß für die Aristokraten, weil er selbst einer war. Alles für die Reichen, nichts für die Sklaven. Es war ganz still geworden in der Klasse, und alle grinsen so verdächtig. Ich drehe mich um, Studienrat Kreftich steht hinter mir. Wo hast du denn diese Weisheit aufgegabelt? fragt er. - Bei meinem Vater, sage ich. - Hm, hm, sagt er, wenn dem so ist, müsste dein Herr Vater eigentlich wissen, dass etliche seiner Wolkenkuckucksideen von Platon stammen. - Und der hat viel von Sparta übernommen, sage ich schnell, mein Vater meint, etwas Gutes zu übernehmen ist keine Schande, nur darf man nicht vergessen ... - Schließ dein vorlautes Mundwerk, schnauzt er, ich kann deinem Vater nicht verbieten, dir seine Utopien einzutrichtern, doch hier in der Schule behalte den Schnickschnack für dich, verstanden? Der Steinert grinst mich so schadenfroh an, da zischele ich ihm zu, von dir lasse ich mir noch lange nicht den Mund verbieten. - Der Studienrat muss es gehört haben und verkündet: Helmut Liebknecht, wegen ungebührlichen Betragens schreibe ich dir einen Tadel ins Klassenbuch!" Aufgerichtet im Lehnsessel, hatte Helmi berichtet, nun sah er den Vater erwartungsvoll an.

Liebknecht wusste, der Älteste hoffte auf Freispruch, womöglich den Tadel umgewandelt in einen Orden Pour le Mérite. Er hatte sich wacker geschlagen. Und, für einen Zwölfjährigen erfreulich, er hatte Wesentliches von der Unterhaltung neulich behalten. Sie waren, den Ursprung des Wortes Akademie im Lexikon suchend, auf Platon gekommen. Die Jugend sieht alles absolut, zu differenzieren fällt ihr schwer. Wie macht man dem Bürschlein klar, dass es sich trotz seiner grundsätzlich richtigen Einstellung nicht eben geschickt verhalten hat? Selbstverständlich ist dieser Kreflich ein Reaktionär. Aber in welcher preußischen Schule gibt es schon sozialistische Lehrer?

Freundschaftlich sagte Liebknecht: "Besser wäre es natürlich gewesen, du hättest unsere Sache so vertreten, dass der Studienrat dir keinen Tadel geben konnte."

"Aber Kreflich hat nun mal einen Pik auf mich." Der Sohn ließ bekümmert die Unterlippe hängen.

"Da ist ein Bienenstock.", Liebknecht dachte belustigt über das Gleichnis nach, während er es langsam entwickelte. "Ich brauche den Honig zum Leben, außerdem schmeckt er süß.

Freiwillig geben ihn die Bienen nicht her, und Stiche schmerzen."

"Dann sollen sie ihren Honig behalten", folgerte Helmi.

Liebknecht lachte herzhaft, "Ich sagte doch, wir brauchen ihn zum Leben. Das ist vorausgesetzt. Bleibt also zu überlegen, wie man recht viel Honig ohne Stiche bekommt."

"Man muss eben die Bienen ausräuchern!"

Wieder lachte Liebknecht über die Jungenlogik. "Dann sind die Bienen weg und für immer der Honig."

"In Biologie haben wir gelernt, dass Imker nicht gestochen werden."

Jetzt hat er dich beinahe hereingelegt, dachte Liebknecht mit einigem Stolz auf den Sohn. "Wie stellt es der Imker an, damit er nicht gestochen wird? Er setzt einen Hut auf, schützt sein Gesicht mit Gaze und zieht sich Handschuhe an."

"Und was hat das alles mit Studienrat Kreflich zu tun?" Dem Gesicht Helmis war anzusehen, dass er sich ein wenig dumm stellte.

Liebknecht drohte ihm lächelnd und fuhr fort: "Wir leben in einer Gesellschaft, die uns feindlicher gesonnen ist, als es die braven Bienen dem Imker sind. Aber ihren Honig, das Wissen, müssen wir ihr entreißen. Wissen ist Macht, eine berühmte Schrift deines Großvaters. - Ja, also, man reizt die Bienen nicht, genauso wenig wie Herrn Studienrat Kreflich. Und wenn man sich genügend geschützt hat, ich meine, innerlich gewappnet, dann kann einen auch ihr drohendes Summen nicht provozieren."

Helmi war nicht restlos überzeugt, seine Zähne kauten auf der Unterlippe. Plötzlich schaute er den Vater pfiffig an. "Du sagst doch auch, was manchen nicht gefällt. Hast viel Ärger davon und machst es immer wieder."

Liebknecht nickt ernst. "In Versammlungen, auf Parteitagen, Konferenzen, im Parlament. Immer dort, wo es gesagt werden muss. Was du nicht unbedingt, zumindest nicht gleich, zu sagen brauchtest, das hat dir den Tadel eingetragen."

Ein wenig kleinlaut kam die neue Frage aus Helmis Mund: "Und weshalb musst du es sagen?"

"Um die Menschen zu überzeugen, immer wieder und wieder."

Helmi blinzelte. "Aber ich soll den Studienrat nicht überzeugen?''

"Es wäre ein Novum, ließe sich ein preußischer Studienrat vom Schüler überzeugen." Liebknecht wurde impulsiv. "Spreche ich in einer Versammlung vor Arbeitern, warten sie darauf, etwas zu erfahren, es erklärt zu bekommen, mit neuem Wissen nach Hause zu gehen."

"Und wenn du im Reichstag vom Leder ziehst?" Den Ausdruck hatte Helmi neulich aufgeschnappt, und es machte ihm Spaß, ihn jetzt an den Mann zu bringen.

Liebknecht freute sich über die Frage. "Spreche ich da nicht auch für die Arbeiter? Sie lesen es am anderen Tag. Viel mehr Menschen lesen es, als in die größte Massenversammlung kommen könnten. Bebel und dein Großvater haben es hundertmal ausprobiert, es ist eine gute Methode."

"Sie sind aber auch schlimm dafür gestochen worden."

Schatten huschten über Liebknechts Gesicht. "Sogar ihre Familien, ihre Kinder, auch ich, obwohl ich eben erst geboren war. Aber die Sozialdemokratie wäre nicht in dem Maße gewachsen, hätte das Sozialistengesetz nicht so ungeschlagen überwunden, hätten die beiden nicht bei jeder möglichen Gelegenheit zu denen im Lande gesprochen. Dass sie dafür büßen mussten, dankten ihnen die Arbeiter mit unbeirrbarer Treue zur Idee."

Helmi seufzte. "Mir wird keiner den Tadel danken."

Angerührt von des Jungen Kummer, hätte Liebknecht den Ältesten am liebsten an sich gezogen. Doch das war schon eine Weile nicht mehr üblich, passte nicht zu dem Verhältnis von Mann zu Mann, wie es die Jungen in dem Alter mögen. Er stand auf und fuhr Helmi verstohlen übers Haar. Dozierend wanderte er auf und ab in jener Art, die nicht steif und professoral wirkt, der Zuhörende hat eher das Gefühl, zu diesem beweglichen Geist gehört die Bewegung. "Nimm die Kreflichs einfach nur als Wissensübermittler. Natürlich könntest du dem Herrn Studienrat ständig Charakterfehler nachweisen. Was kommt am Ende dabei heraus? Nicht nur schlechte Zensuren. Schlimmeres, vor lauter Kritteln kommst du nicht zum Lernen. Doch nur wer Wissen besitzt, kann Wissen abgeben. Als Bebel deinen Großvater kennengelernt hatte, äußerte er sich zu Freunden: Donnerwetter, das ist ein Kerl, von dem kann man was lernen. - Ich habe versucht, mit den Pfunden zu wuchern, die ich vom Vater mitbekam. Möchtest du es anders halten? Ist es nicht großartig, geistigen Hunger stillen zu können? Hat das Leben einen schöneren Sinn, als Blinde sehend zu machen? - Übrigens, es ist der einzige Weg zum Sozialismus."

Helmi hatte mit großen, erschrocken-begeisterten Augen zugehört. Er war der Letzte, der sich der Suggestion dieser Stimme hätte entziehen können. Den Vater liebte er wie die meisten Jungen ihre Väter, in solchen Minuten bewunderte er ihn. Ohne dessen Worte im letzten Sinn schon durchdenken zu können, spürte er doch die Verantwortung vor der Zukunft darin, die einem Jungen das Herz bedrücken konnte. Er sprang aus dem Sessel, umschlang den Vater mit beiden Armen und drückte seinen Kopf an dessen Brust. "Ach, Papa, mit dir hat man es schon schwer."

Bei diesem Gefühlsausbruch wurde Liebknecht bewusst, wie er dem Jungen zugesetzt haben musste. Besänftigend streichelte er dessen Schultern. Um die eigene Rührung zu verbergen, nahm er den Brief vom Schreibtisch. "Lies mal, dann wird dir manches leichter fallen."

Freudig überrascht von des Vaters Mitteilsamkeit nahm Helmi das Blatt und las:

"Sehr geehrter Genosse Doktor Liebknecht!

Mein Name ist Bodo Eckstein, in bin Mitglied des Jugendausschusses unserer Partei in Pankow. Kurz nach meinem Eintritt haben sie mich gewählt, denn für den Jugendverein war ich schon zu alt, zwanzig Jahre. Es herrschte eine ganz schöne Lotterwirtschaft, als ich hinkam. Alle paar Wochen mal ein Vortrag in Kneipenhinterzimmern. Wie soll Jugend sich da wohlfühlen? Hab erst mal gesammelt und einen Fußball gekauft. Gleich war mehr Schwung drin, und es sind auch noch welche dazugekommen. Doch im Winter nützt kein Fußball was. Wenigstens hatte ich die mit Mumm im Herzen erkannt, vielleicht ein Dutzend. Sie hatten den gleichen Rochus auf die Salbaderer vom Christlichen Verein junger Männer wie ich. Also machten wir eine öffentliche Versammlung im Feldschlösschen mit dem Thema: Das Fünfte Gebot und die Jugend. Sie wurde genehmigt. Alle Pfarrer von Pankow eingeladen und ihre Leute. Der Saal war überfüllt. Mir war nun doch ein bisschen schwummrig. Aber Genosse Eichhorn hat es so gut angepackt, wie ich's nicht für möglich gehalten hätte. Du sollst nicht töten, vier Bibelwörter, aber was man damit alles anfangen kann. Ein Pfarrer hat in der Diskussion gesprochen. Leider nichts zum Referat. Das haben wir ihm zugerufen. Da hat er die Versammlung verlassen. Von uns haben dann mehrere ihr Herz ausgeschüttet über Lehrlingsausbeutung und dergleichen. Mir hat die Pickelhaube verboten, über Steuern zu sprechen. Zum Schluss mit Gesang raus und kurze Demonstration. Ehe die Polizei kam, waren wir weg. Eine Bombenstimmung, endlich der Zusammenhalt. Leider kann man nicht immerzu öffentliche Versammlungen machen. Was uns fehlte, war ein eigenes Heim. Wir gingen zum Ortsgruppenvorstand, meistens Krankenkassenonkels und Gewerkschaftsfritzen. Habt ihr Geld für ein Heim? Eine Stinkwut hatten wir. Aber denen werden wir's schon zeigen. Der Genosse Doktor Rosenfeld hat mir den Tipp gegeben. Wir gründeten einen Verein Arbeiterjugendheim. Monatsbeitrag zwischen zehn und dreißig Pfennig. Sonntags in aller Herrgottsfrühe hin zur Vorwärts-Expedition, in die Zeitungen unsern abgezogenen Aufruf gesteckt. Und dann Sammellisten angelegt, rote Mai-Nelken verkauft und lauter so Pfennig-Verdienste. Aber viele Pfennige werden zu Märkern. Im Spätsommer haben wir dann unser Heim in der Maximilianstraße eingeweiht. Alles selbst gemalert, mit gestifteten Möbeln und kleiner Bibliothek aus privaten Bücherschenkungen. Jetzt ist das 'ne feine Gruppe, und der Stamm wird immer größer. Jede Woche Heimabend, meistens Spielen und Singen, ab und zu Vortrag. Für die Fortgeschrittenen alle vierzehn Tage Kursus, 'ne kleine Kapelle übt auch öfters. Weil es mit Musik besser geht. Im Sommer fast jeden Sonntag Wanderfahrt.

Lieber Genosse Liebknecht, manche älteren Genossen sind wie Väter zu uns, doch die meisten wollen nicht, dass die Jungen sich auch schon mit Politik befassen. Aber es muss sein. Wer so gehungert und geschuftet hat wie ich, der kann nicht anders. Deshalb halte ich was von Vorträgen, wenn sie so spannend sind wie der vom Genossen Eichhorn. Die so was können, haben leider immer wenig Zeit. Genosse Scheidemann habe ich persönlich gefragt, aber der scheint nicht zu wollen. Ich habe Ihre Broschüre gelesen über Antimilitarismus und Jugend. Mir ist ein Seifensieder aufgegangen, weshalb man Sie zu Festung verknackt hat. Indirekt sind Sie schuld, dass ich neulich Kriegsberichter gespielt habe. Als im Herbst die Jugendwehren, Pfadfinder, Deutsche Turnerschaft und ähnliche Vögel auf dem Truppenübungsplatz Döberitz ihre Kriegsspiele runtergeklopft haben, bin ich hin mit meinem Kumpel Frido, der hat einen Fotokasten. Ich habe alles aufgeschrieben, wie sich die Herren Offiziere vom Gardekorps bei der Abschlussparade in die Brust geschmissen haben. Fridolin sind ein paar Fotos ziemlich gelungen. Die Arbeiterjugend hat meinen Artikel abgedruckt (mit Bild). Nun wollte ich Sie fragen, ob Sie nicht zu uns kommen wollen. Bitte, sagen Sie zu, vielleicht gleich, wann es geht.

Mit Dank im Voraus und Kampfesgrüßen. Ihr Bodo Eckstein, genannt Botte."

Mit Interesse, ja einiger Spannung, hatte Helmi gelesen, und er hätte nicht bestritten, dass er beeindruckt war. Dieser Bodo, fast doppelt so alt wie er, wusste wenig von Syntax und Grammatik. Doch er hatte das Herz auf dem rechten Fleck. Aber da war das Andere, das Unbehagen bereitete. Stöße von Post bekam Vater jeden Tag. In nicht wenigen Briefen standen ähnliche Bitten. Viel zu oft sagte Vater zu. Und deshalb waren Gespräche wie heute so selten. Hatten denn er, Bobbi und Verotschka weniger Recht auf ihren Vater als alle die andern?

Von zwiespältigen Gefühlen bedrängt, legte Helmi den Brief auf den Schreibtisch. Er wusste genau, Vater würde zusagen, trotzdem fragte er: "Gehst du hin?"

Liebknecht schaute ihn verwundert an. "Solche wackeren Kerle zu enttäuschen, wäre Hochverrat an unserer Sache."

"Und woher nimmst du die Zeit?"

Liebknecht entging nicht die Enttäuschung im Gesicht seines Ältesten. "Ich muss mal meinen Terminplan durchpflügen, irgendwo werden sich die zwei, drei Stunden noch unterbringen lassen." Während er suchend im Taschenkalender blätterte, beschäftigte ihn der unausgesprochene Vorwurf des Sohnes. "Zu schade", murmelte er, "dass Winter ist, sonst hätte ich dem Bodo eine gemeinsame Sonntagswanderung vorgeschlagen, und du wärst mitgekommen."

Das soll eine Entschuldigung sein, dachte Helmi, und nun werde ich ihn festnageln. Besser, den Vater mit anderen teilen müssen, als ihn gar nicht haben. "Er hat doch geschrieben, dass sie keine Angsthasen sind. Eine Winterwanderung ist gesund. Und wenn Schnee liegt, wird es erst recht fein."

Beinahe erschrocken schaute Liebknecht auf. Da hatte er etwas angerichtet. Sieben, acht Sonntage waren schon besetzt, zumindest die Vormittage. Aus Velten, Paretz, Werder und einigen anderen Orten seines Reichstagswahlkreises Potsdam-Spandau-Osthavelland lagen dringliche Bitten vor. Hinter jedem Ortsnamen standen Schicksale, Menschengesichter. Genossen wie Bodo Eckstein, meist älter als der und ebenso der Partei ergeben. Wenn er nur an den unermüdlichen August Paris dachte. Wie viel Versammlungen mochte der seit der Jahrhundertwende organisiert haben? Trotz der ständigen Saalabtreibereien, der Verbote von Veranstaltungen auf öffentlichen Plätzen. Paris hatte immer wieder Auswege gefunden, hatte manchmal völlig indifferente Menschen überzeugt, sodass sie ihre Grundstücke zur Verfügung stellten. Da war die Frau Eckhardt, alleinstehende Witwe und Büdnerin in Pausin. Im Frühjahr 1903 muss es gewesen sein. August Paris hatte die Versammlung, die auf ihrem Hof stattfinden sollte, angemeldet. Der Amtsvorsteher verbot sie mit der unsinnigen Begründung, sie könnte zu einer Verkehrsstörung führen. Da gewann die erst bänglich gewesene Frau Resolutheit. Mit Zittern und Zagen hatte sie zugestimmt, nur weil August Paris ihr einmal ein Gesuch aufgesetzt hatte. Angesichts der hanebüchenen Begründung des Amtsvorstehers erklärte sie ihren Eintritt in die Partei und war seitdem eine der zuverlässigsten Genossinnen. Derartige Menschen vertröstete man nicht, ließ sie nicht warten. Sonntags gab es also vorerst keine Möglichkeit, er musste an einem Wochentag abends nach Pankow fahren.

Helmi tat geduldig, als sei er überzeugt, der Vater würde schon einen Sonntag ausfindig machen. Liebknecht sah ihn nicht an, als er das Büchlein zuklappte. "Ich habe noch eine Lücke gefunden, leider keinen Sonntag."

Helmi schwieg verbittert.

"Schau, wir waren doch erst kürzlich im Botanischen. War es nicht schön?"

"Bestimmt vergeht ein Jahr, und wir kommen vielleicht, womöglich, unter Umständen wieder mal hin."

Wie treibe ich ihm den Kinderegoismus aus, dachte Liebknecht und war sich zugleich bewusst, dass dies eine harte Bezeichnung für die der Sohnesliebe entspringenden Wünsche war. "Versetz dich doch mal in die Haut des Bodo. Er schreibt so begeistert, und ich soll ihm die kalte Dusche verabreichen, kann leider nicht kommen, mein Sohn Helmi ist dagegen?"

"Ich kann ja auch nicht an seinen Vater schreiben, kommen Sie her und reden Sie mal. Was Ihr Sohn derweile macht, ist mir schnuppe."

Liebknecht war bestürzt. "Das hat er nicht geschrieben. Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass ich Kinder habe. Und du weißt nicht, ob er überhaupt einen Vater hat."

"Ich habe auch kaum einen."

Zwischen Zorn und Mitleid schwankend, war Liebknecht plötzlich müde und verzweifelt. Ich kann mich doch nicht teilen. Weshalb gibt es Menschen, die Langeweile haben, während andere ihre Zeit verdreifachen müssten? Plötzlich waren seine Gedanken bei dem Krupp-Material. Wie wird die Fraktion auf meinen Vorschlag reagieren, es an den Kriegsminister zu geben? Je näher diese Entscheidung rückt, desto unruhiger werde ich. Ich muss sie erzwingen, und dieses Muss erzeugt Nervosität. Bewusst habe ich vorhin abgeschaltet, denn was macht gelöster als die Beschäftigung mit den eigenen Kindern? Statt dessen nun dieser Konflikt. Ich darf nicht ungerecht werden, Helmi ahnt nichts von dieser Sorge.

Er legte den Kneifer auf die Tischplatte und rieb sich die Augen. Langsam wurde er ruhiger. Man kapituliert nicht, erst recht nicht vor dem eigenen Sohn. "Mach es mir bitte nicht so schwer. Du siehst jetzt nur deinen Kummer, dabei lebst du glücklicher als der Bodo. Wir wohnen nicht in einem düsteren Hinterhaus, ihr werdet stets satt, und das Wertvollste, du kannst ein Gymnasium besuchen."

"Woher willst du wissen, dass er nicht immer satt wird?"

Mehr wie für sich antwortete Liebknecht: "Es steht in seinem Brief. Furchtbar, öfter hungrig als satt zu sein. In meiner Kindheit hat oft das Brot auf dem Tisch gefehlt. Ein Erlebnis werde ich nicht vergessen. Ich war damals zehn Jahre alt, Vater saß im Gefängnis in Leipzig. Sein Genosse Kautsky, den du ja kennst, war auf der Durchreise und wollte ihn besuchen. Er nahm Theodor, Wilhelm und mich mit. Der Jüngste von uns Dreien, Wilhelm, hatte an dem Tag Geburtstag. Die Freude unsres Vaters, seine drei Bengels zu sehen, war herzbewegend. Mit vor Rührung enger Kehle sagte er, leider habe er kein Geburtstagsgeschenk für Wilhelm. Aber er wolle ihm wenigstens geben, was er gerade habe. Es war ein halber Laib Brot und ein Stück billige Gefängniswurst. Wilhelm hat redlich geteilt, und für lange Zeit war jenes Wiegenfest das für uns denkwürdigste, weil wir uns an diesem Tag einmal satt essen konnten."

Helmi bedauerte den Großvater, der nun selbst hatte tüchtig hungern müssen.

"Es hungert sich für einen Vater leichter, wenn er seine Kinder satt weiß", bemerkte Liebknecht sachlich. "Übel gehungert habe ich dann beim Beginn der Festungshaft in Glatz. Es ist erniedrigend, dauernd an den knurrenden Magen denken zu müssen. Ich wünsche es dir nicht - nie."

Die eindringlichen Schilderungen des Vaters verursachten in Helmut Reue über seine unüberlegten Worte. Er wollte es nicht zugeben und lenkte ab. "Du hast dir gefallen lassen, dass man dich hungern ließ?"

"Es war die Umstellung in den ersten Tagen. Das kraftlose Mittagessen und ein minderwertiges Brot zeigten mir so recht, wie gehaltvoll wir eigentlich essen."

"Später ist das Essen besser geworden?"

"In den Strafanstalten gibt es nur preußischen Einheitsfraß. Dann erhielt ich Pakete. Bei Festungshaft gibt es diese Möglichkeit, die Ernährung aufzubessern. Doch in den ersten Tagen schlug ich mich mit einem komischen Solidaritätsbegriff herum. Ich wollte nicht besser leben als die meisten armen Schlucker und gab ihnen alles. Bald erkannte ich diesen falschen Heroismus. Wenn ich geschwächt und krank die Festung verließ, hülfe das niemandem. Ich habe dann im Rahmen des üblichen mit meinen Leidensgefährten geteilt."

"Ich könnte das nicht durchmachen, Papa."

Liebknecht wurde weich ums Herz. "Es ist bestimmt nicht der Sinn des Lebens, zu hungern. Aber die eigene Sättigung bereitet mir Unbehagen, solange viele nicht satt werden. Für eure ganze Generation soll Hunger einst nur noch graue Legende sein."

"Gibt es nicht welche, die zu faul zum Arbeiten sind und deshalb hungern?"

"So ungefähr argumentieren die Reaktionäre aller Schattierungen. Und sie scheuen sich nicht, im gleichen Atemzug mit deutscher Tüchtigkeit, deutschem Werkfleiß zu renommieren. Was stimmt nun? Nimm beispielsweise den Bodo. Ist allein dieser Brief nicht eine Leistung? Hätte er sich das alles aufgeladen, wenn er faul wäre? Unsere moderne Gesellschaft ist heute schon reich genug, dass jeder satt werden könnte. Nur wenn das Volk alles Parasitenpack hinwegfegt, wird es gerechter auf der Welt zugehen."

"Und bis dahin muss man noch hier und da Ungerechtigkeiten in Kauf nehmen?"

Liebknecht sah den Schalk in den Augen Helmis. Er packte den Sohn bei den Armen. "Sogar vom eigenen Vater, der den Gymnasiasten Helmi vernachlässigt zugunsten wissensdurstiger Proletarierjungen."

Helmi trollte sich, zog die Tür hinter sich zu. Dann öffnete er sie noch einmal und drohte vom Türspalt her: "Um eine Sonntagswanderung im Frühjahr kommst du trotzdem nicht herum."

Der anonyme Brief

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