Читать книгу 100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 1 - Erhard Heckmann - Страница 12
Die Inside Passage
ОглавлениеVor 12.000 Jahren noch völlig vergletschert, präsentiert sich die wilde, regenreiche und fast menschenleere Westküste von British Columbia und Alaska in unserer Zeit mit einer zerklüfteten Küste, 2.000 Meter hohe Bergen, grünen Hängen, Wasserfällen und Regenwäldern, in denen auch die weißen „Spiritbären“ noch zu finden sind. Mit den Straßen ist es ähnlich wie damals, als diese Gewässer schon den Eingeborenen als Wasserwege dienten und darüber noch nicht geschrieben wurde, es gibt so gut wie keine. In jenen frühen Jahren waren es Händler von den Aleuten, die hier ebenso entlang segelten wie Tlingits, Haida, Tsim Shian und andere Küstenstämme. Danach kamen Forschungsreisende wie Captain James Cook und andere aus England, Spanien, Russland und Frankreich an diese Küste, suchten nach der Nordwestpassage und kartographierten das Unbekannte. Auch Goldsucher, Pelzhändler und Holzfäller reihten sich ein wie später die U-Boote der Marine. Heute sind alle Schiffstypen unterwegs, vom Fiberglas-Kajak über Öltanker bis zum Luxusliner. Und zwischen ihnen allen ziehen die großen Fähren ihre Bahn, mit ganz gewöhnlichen Durchschnittsmenschen an Bord, jedoch auf einer ungewöhnlich schönen Reise.
Die Schiffe der BC Ferries und des Alaska Marine Highway Systems sind hier entlang einer Küstenlinie unterwegs, die man wahrscheinlich als die schönste der Welt bezeichnen kann. Auch wenn man weiß, dass sich die Postschiffe Norwegens ebenfalls in gigantischer Natur bewegen. Auf dem Neuen Kontinent ist jedoch alles eine Dimension gewaltiger. Hier wie dort kommen die Menschen aus aller Herren Länder und das Panorama erfüllt Tagesträume, ohne Internet und Fernsehen. Die Schiffe ziehen ihren Weg von den Regenwäldern des nördlichen British Columbias durch Südost-Alaska zu Gletschern und Fjorden des Prince William Sounds, und bis hin zu den Vulkanen der Aleuten. Sie sind durch stürmische, graue See unterwegs wie durch kristallklare, ruhige und geschützte Gewässer, in denen sich Wale und andere Meeressäuger tummeln. Und sie navigieren auch im Schritttempo durch schmale, gefährliche „Narrows“, die dem Kapitän und seiner Mannschaft alles abverlangen.
Das 1948 gegründete Alaska Marine Highway System, die „blauen Taxis Alaskas“, bedienen etwa 6.000 Kilometer etablierte Routen und erreichen dabei das südlichen Bellingham im Bundesstaat Washington, wie im äußersten Westen Dutch Harbor auf Unalaska. Die 1960 mit zwei Schiffen gestarteten BC Ferries steuern im 21 Jahrhundert mit etwa 40 Schiffen fast 50 Destinationen an und transportieren pro Jahr mehr als 21 Millionen Passagiere und 8,5 Millionen Fahrzeuge, wobei ihre größten Fähren 2.100 Reisende und 470 Fahrzeuge aufnehmen können. Und wie in Alaska, so schaffen auch kanadische Fähren nicht nur „Verbindungen“, sondern sind auch unterwegs um entlegene Orte zu versorgen, zu denen keine Straßen führen. Die Königsdisziplin ist aber auch hier das Zauberwort, das elektrisiert, die Inside Passage.
Unterwegs, gleich ob Luxusliner oder Fähre, werden verschiedene Häfen angelaufen und die Endstation heißt Skagway. An einigen Tagen im Monat weicht die M/V Kennicott jedoch vom Hauptkurs ab und kreuzt den Golf von Alaska, um Valdez und Seward anzusteuern, wo sich, wie zu Whittier, Eisenbahn und Straße anbieten. Andere Fähren verbinden auch Valdez, mit Cordova und Whittier. Auf der Kenai-Halbinsel, zu Homer und Seward, starten weitere nach Kodiak Island und von dort zu den Aleuten.
Das Konzept des Alaska-Fährsystem besteht aus drei Komponenten, die sich untereinander verbinden und ergänzen. Die Schiffe der Hauptroute verkehren zwischen dem amerikanischen Bellingham und Alaskas Skagway, wobei das von den Russen an der Westküste Alaskas gegründete Sitka nur an bestimmten Tagen einbezogen wird. Als Zubringer zu jener sind von Juni bis September die Fähren des Southeast- und Südzentral-Südwestsystem unterwegs. Ersteres steuert kleinere Ortschaften als auch die Hauptroutenhäfen Ketchigan, Wrangell, Petersburg und, über Kake, Sitka an, während die Südzentral-Südwest-Fähren im Prince Williams Sound und dem Golf von Alaska kreuzen und Seward, Whittier, Homer und Valdez bedienen. Auch von einigen Häfen an der Hauptroute gibt es Querverbindungen. Hollis (Prince of Wales Island) und Metlakata (Annette Island) sind ab Ketchigan erreichbar, und ab Juneau auch Pelican, Hoonah, Angoon, Kake oder Tenakee. Wie aber fast überall in Alaska bieten sich auch in dieser Gegend Wasserflugzeuge oder Charterboote an, um beispielsweise Admiralty Island (Bärenbeobachtungen) oder Gustavus und den Glacier Bay National Park zu erreichen. Straßenanschluss findet sich jedoch nur in zwei Alaska-Häfen, Haines und Skagway. Beide Straßen, der „Haines Cut-Off“ und der „Klondike“ führen auch zum berühmten Alaska Highway, und damit nicht nur in diesen amerikanischen Bundesstaat, sondern auch in den Yukon, die Northwest Territories, nach British Columbia und Alberta. Die Fähre gegen Asphalt tauschen lässt sich auch schon in Prince Ruppert, wo der Yellowhead Highway Richtung Rocky Mountains startet und der „Cassiar“ zum nördlichen Watson Lake am Alaska Highway zieht. Aber auch diejenigen Touristen, die diese Anschlüsse auf dem Festland gar nicht suchen sind hervorragend unterwegs, mit dem Schiff und all den vielen Urlaubszielen, die diese Fähren ansteuern. Auch für das BC Ferries System, das an den Küsten und zu vielen Inseln unterwegs ist, gilt als populärste Tour die auf der Inside Passage, von Port Hardy nach Prince Ruppert. Hier finden ihre Gäste den Anschluss an die Fähren nach Alaska, rollen von Bord oder wählen die Achtstundentour nach Skidegate auf den Queen Charlotte Islands, der Heimat der Haida-Indianer.
An nächsten Morgen steht der Shuttle Bus kurz nach 5 Uhr vor der Hoteltür. Fünfzehn Minuten später checken wir ein, und nach weiteren sechzig lichtet die Fähre ihren Anker. Die ersten fünfzehn Stunden der Inside Passage liegen nun endlich vor uns. Und was schrieb Sabine dazu in ihr Tagebuch?
„Noch immer hatten wir unsere zwei schweren Koffer, und jeder eine große Umhängetasche im Schlepptau. Wer im Auto auf die Fähre fuhr, hatte es natürlich bequemer. Wir schleppten und zogen dagegen alles hinter uns her. Erhard wuchtete die Lasten über enge Treppen nach oben bis ins Kabinendeck. Dann wurde ich in einer Ecke mit all der Bagage abgestellt, denn Erhard musste die Kofferschließfächer finden und von wenigstens zwei die Schlüssel abziehen, damit wir heute lastenfrei wurden. Er hatte darüber gelesen und wusste vom Prospekt, dass sie direkt am Treppenaufgang von den Autos kommend auf Deck fünf zu finden waren. 24 Stunden pro Fach für einen Dollar. Das war doch eine preiswerte Lösung. Kabinen gibt es natürlich auch, aber tagsüber wäre das überflüssig. Zehn Minuten später war er wieder da. Die großen Hartschalenkoffer passten haarscharf, und somit war es gut, dass er von allen drei noch freien Fächern die Schlüssel abgezogen hatte, um auch die schweren Taschen unterzubringen. In Prince Ruppert wiederholte sich die Prozedur. Nur, dort ging es um die Kabinenschlüssel. Wer am schnellsten ist, hat seine Bleibe zu erst. Auf alle Fälle gehörten wir auch dort zur Abteilung „Attacke“, denn irgendwie steckt das in uns. Und nach einem schnellen Check – Betten, WC, Dusche und Strom OK, Bullauge wasserdicht – ging die Erkundung sofort weiter. Bar (wichtig), Sicherheitsboote – wo und reichen sie aus –, Notausgänge, wie zu öffnen, und welche Pfeife pfeift wie viele Pfeiftöne, ehe man springen muss? So etwas weiß ich in kürzester Zeit, egal wo ich bin. Ein Auge und ein Ohr sind immer nach hinten gerichtet. Erst danach kommt alles andere. Jedenfalls wurde es eine gigantische Dreitagesfahrt in einer Landschaft aus Wald, Bergen mit Schneegipfeln, Gletschern und Inseln. Mit Sonne und Regen. Rechts und links Blicke der Superlative. Ein stilles Wasser, Wale. Ruhe und Frieden. Wir haben gefilmt, fotografiert, gestaunt und genossen. Allerdings rückte auch der Norden näher und die Kälte wurde spürbar. Eisschollen zogen vorüber, und beim Filmen froren mir am eiskalten Metall die Hände ein. Der Fahrtwind schnitt eisig, und ich dachte an Afrikas Sonne. Ab und an gab es einen heißen Tee. Auch alle Eitelkeiten flogen über Bord. Ich zog zwei Pullover unter die Windjacke, denn drinnen sitzen in der warmen Ecke ist bei dieser Landschaft keinesfalls eine Lösung. Man muss draußen stehen, um nichts zu verpassen. Und so sammelte ich auch erste Eindrücke von Alaskas Kälte und mochte derzeit an die vor mir liegenden Wochen nur mit Gänsehaut denken …“
Nun, es war zwar hin und wieder kalt. Direkt an den Gletschern auch saukalt. Regen gab es auch, und nicht nur entlang dieser Küstengebirge. Insgesamt war es aber einfach nur großartig. Am ersten Tag strahlte sogar die Sonne, und später hatten wir unser Wohnmobil, dessen Heizung morgendliche Frische auch an den kühlsten Tagen nichts anhaben konnte. Momentan aber ist Alaska noch weit und somit Zeit, nach der Ausfahrt von Port Hardy und dem Frühstück das Schiff zu erkunden. Danach stehen wir an der Reling und sind gespannt, was wir alles sehen werden. Ich hatte zwar auch gelesen, dass diese Fahrt nicht selten von Nebel und Regen beherrscht wird, doch heute ist es ein strahlender Samstagmorgen der hielt, was er versprach. Und vielleicht stimmt es ja doch, was eine Werbebroschüre zu British Columbia meint: „Es ist ein ganz spezieller Platz, den man zu Wasser und zu Land erkunden muss und, hast Du das getan, dann bist du ein anderer Mensch, wenn Du von deiner Reise zurückkommst“. Hier an dieser Stelle haben wir zwar erst wenige Meilen unter dem Kiel, doch nehme ich es vorweg, dass es „fast“ stimmt. Und warum diese kleine Einschränkung? Es trifft auch über diese zauberhafte Provinz hinaus zu. Uns zwei hat dieses Land, trotz aller Liebe zu Afrika, auch in seinen Bann gezogen und zugleich zu absoluten Wohnmobil-Fans gemacht. Und nach dieser Reise stand für mich auch fest, dass ich, obwohl die normale Lebensarbeitszeit schon überschritten war, noch einige weitere Jahre „im Geschirr“ bleiben werde, denn Reisefans sind wir inzwischen auch.
Da standen wir nun an der Reling bei einer Hafenausfahrt, auf die wir uns so sehr gefreut hatten. Und sie gehörte zur „Queen of the North”, einer mächtigen Fähre für 600 Passagiere und mit allem Komfort. Speisesaal, Cafeterias, Aussichts-Lounge, Geschäfte, Touristeninfo, Schlafsessel und Kabinen inbegriffen. 1966 gebaut, verkehrt die 125 Meter lange „Königin des Nordens“ seit 1980 auf dieser Route. In ihrem Bauch verschwinden maximal 110 Fahrzeuge, und für den Antrieb sorgen 15.600 PS. Und auf diesem Schiff lassen wir uns inzwischen den frischen Wind auf dem obersten Deck um die Nase wehen. Die Blicke folgen der spektakulären Küstenlinie und hüpfen durch das Gewirr der Inseln. Sie alle gehören zu einem küstennahen Inselschild, das die Gewässer, und damit auch die Schiffe, vor den rauen Wellen des Nordpazifiks schützt. Was vorbeizieht ist pure Natur. Wasserfälle, kalbende Gletscher, auftauchende Wale und Seelöwen, kreisende Weißkopfseeadler, Gebirgszüge, die 2.000 Meter aufragen und Grizzlys an einsamen Ufern, die den massiven Regenwäldern dort Einhalt gebieten. Es scheint also zu stimmen, was die Autokennzeichen dieses Staates behaupten: „Beautifull British Columbia“. Eigentlich sollte dieser nur „Columbia“ heißen, doch weil bereits in Südamerika ein solcher existierte und auch die „Amerikaner“ ihr Land so nennen wollten entschied Queen Victoria, dass die neue Provinz den Zusatz „British“ erhält. Damit hatte sich auch der zweite Vorschlag - British Caledonia – erledigt, obwohl auch dieser eine Basis gehabt hätte. „Caledonia“ stand für Schottland und, sieht man vom Engländer James Cook einmal ab, waren es Schotten, die Kanadas Westküste erschlossen. An dieser Schiffsstraße dehnt sich auch die Zeit, denn die Landschaft ist das Ergebnis von 200 Millionen Jahren Erdgeschichte, die wir, mit der Sonne im Gesicht und zurückgelehnt, nun genießen dürfen.
In Prince Ruppert läuft die „Queen“ pünktlich um 22 Uhr 30 ein, aber dennoch bestätigt sich die gebuchte Übernachtung als richtig, denn als der Alaska-Anschluss nach vierzig Minuten seinen Anker lichtet warten wir noch immer und schauen zu, wie die Fahrzeuge aus dem Bauch unseres Schiffes rollen. Erst danach sind die Passagiere an der Reihe. Dass vierzig Minuten nicht reichen würden, hatte ich nicht geahnt, doch ich wusste, dass keines der beiden Fährsysteme seine Abfahrtszeiten zu Gunsten eines Anschlusses verschiebt, und hatte auch mit möglicher Verspätung gerechnet. Das nächste Warten war an der Shuttlebus-Haltestelle des Fährterminals vorprogrammiert, weil Samstagsnacht dieser Bus nicht fährt. Und wenn das die dort bereits „diskutierende Menge“ begriffen hat, dann wird die Schlange am Taxistand sehr schnell sehr lang. Also ziehen wir unsere Koffer schnellstens „Richtung Stadt“ und fangen vor dem Terminal ein Taxi ab. Zwanzig Minuten später zahlen wir 6.50 $ und sind für heute am Ziel. Das „Coast Prince Ruppert“, gezielt ausgesucht, bestätigte auch seine Internet-Beschreibung: Ordentlich, sauber und gleichzeitig eine Haltestelle der Fährbusse. Wir werden also keine Koffer schleppen müssen, wenn es weitergeht.
Prince Ruppert, am Ende des Yellowhead Highways, liegt an der Mündung des Skeena Rivers auf Kaien Island. Mit guter Infrastruktur und umgeben von bewaldeten Bergen, Inseln und fischreichen Gewässern lockt es jährlich mehr als 300.000 Besucher an. Innerhalb der Stadt spielt die Cow Bay eine Sonderrolle. Sie gilt als romantisch und gemütlich, und weil sie einer der ältesten Stadtteile ist, stehen auch viele der kleinen Gebäude noch auf Holzpfählen. Enttäuscht waren wir allerdings vom hochgelobten „Smile’s Seafood Cafe“, doch stand heute möglicherweise nur ein wenig begabter Aushilfskoch am Herd des rustikalen Ladens. Von „ausgezeichneten Fischgerichten“ somit keine Spur, aber alles auf einem Teller, voll bis über den Rand, durcheinander und ziemlich geschmacklos, das ja.
Entlang des lachsreichen Skeena Rivers verlässt der Yellowhead Highway die Stadt auf einem alten indianischen Handelsweg, erreicht nach knapp 750 Kilometer Prince George, überquert kurz vor Jasper die Rocky Mountains und macht nach 1.445 Kilometer zu Edmonton Rast. Nach 2.700 Kilometer erreicht er Portage la Prärie im Bundesstaat Manitoba. Viel früher aber – nach reichlich 150 Kilometer zu Kitwanga – schwingt sich von ihm schon der Cassiar Highway nach Norden und trifft kurz vor Watson Lake auf den Alaska Highway.
Prince Ruppert, ein Städtchen mit 15.000 Einwohnern auf altem Tsimshian-Gebiet, besitzt nach Vancouver Kanadas zweitgrößter Handels- und Fischereihafen an der Pazifikküste. Er ist gleichzeitig auch die Nummer Drei unter den tiefsten Naturhäfen der Welt. Geboren wurde Prince Ruppert durch den Visionär Charles Hays. Der Präsident des „Grand Trunk Pacific Railways“ wählte diesen Ort als Endstation für Kanadas zweite transkontinentale Eisenbahnlinie, um mit British Columbias erster geplanter Stadt Vancouver den Rang abzulaufen. Die Pläne waren bereits weit gediehen, als dieser Pionier 1912 mit der Titanic unterging. Mit seinem Tod, dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Eisenbahnära verlagerte die Stadt ihre Interessen jedoch wieder auf den Fischfang. Dieser florierte bereits seit 1876 und Lachs war reichlich vorhanden. Statt Eisenbahngleise boomten Dosenfabriken, und in einer solchen, im Vorort Port Edward, sind jene Tage der Nachwelt im „North Pacific Cannery Museum“ auch erhalten geblieben. Danach war bald alles ganz anders, denn während des Zweiten Weltkrieges war Prince Ruppert für Nordamerika eine strategische Militärbasis. Als dieser Wahnsinn zu Ende war schwang sich die Fischverarbeitung zu neuen Höhen auf, riesige Mengen Kohle und Getreide wurden, vornehmlich Richtung Asien, verladen und auch Holz und Papier spielten eine Rolle. Schließlich wurde auch der Tourismus ein wichtiges Standbein, denn Fähren und die Umgebung dieser Stadt sorgten dafür. Wale, das Khutzemateen Grizzly-Schutzgebiet, in dem auch Bergziegen, Wölfe oder Bieber anzutreffen sind, das Indianerzentrum Kitwanga-Hazelton, die „Geisterstadt“ Hyder mit ihren Bären am Fish Creek bieten dieser Branche zahlreiche Möglichkeiten. Und dann ist da noch der von üppiger Wildnis umgebene Douglas Channel, ein Fjord, der sich über mehr als 90 Kilometer in die majestätischen Küstengebiete hinein gebohrt hat. Seine blauen Wasser, in denen sich Schwertwale, gigantische Heilbutts, Snapper und Lachse tummeln, sind ein Paradies für Wasserfreunde und Angler, und in den angrenzenden Wäldern sprudeln heiße Quellen zu Weewanie, Bishop Bay und Shearwater Hot Springs. Über diesen Fjord und seinen Seitenarm „Gardener“ lässt sich auch der unerschlossene Regenwald im Kitlope Valley erreichen, doch verbindet auch der Trail vom Kitamaat Village nach Kemano zu diesem Seitenarm. Derartige Touren setzen allerdings einen ortskundigen Führer unbedingt voraus. Uns bot sich diese Gelegenheit auch erst einige Jahre später. In das Schutzgebiet der Bären fuhren wir mit einem Ausflugsboot, und das Kitlope Valley zeigte uns Harry mit seiner Chesna, als wir mehrere Tage in seinem Buschcamp gastierten. Aber darüber berichte ich an anderer Stelle. Lange Zeit hatte ich auch mit dem Gedanken gespielt, die etwa sechs Stunden Fährfahrt von Prince Ruppert auf die Queen Charlotte Islands als Schnupperausflug zu nutzen. Doch je mehr ich mich damit beschäftigte, desto stärker wurde die Überzeugung, dass ein oder zwei Tage für diesen Archipel mit seinen Adlern, Seelöwen, Vogelkolonien, seiner Wildnis und Indianergeschichte viel zu wenig sind. Unsere jetzige Reise hätte mehr aber nicht hergegeben. Vielleicht wird es uns aber irgendwann eine neue Reiseroute ermöglichen, die beiden größten der mehr als 150 felsigen Inseln in unser Programm aufzunehmen, das nördliche Graham Island mit Queen Charlotte City, und die südlich der schmalen Meeresenge „Skidegate Channel“ liegende Insel Moresby, das Gwaii Hanas, dessen englischer Name an General Fairfax Moresby erinnerte. 2009 wurden die Inseln in Haida Gwaii, Land der Haida, umbenannt, um der Geschichte gerecht zu werden. Die Queen, Ehefrau von King George III., war ohnehin nie hier, und die Inseln hatte Kapitän George Dixen nach seinem Schiff benannt als er 1778 vor Ort ankerte, während die Haida zu den ältesten ortsfesten Bevölkerungen der Welt zählen.
Dieser Archipel, zwischen dessen Westküste und Japan sich nur die unendliche Weite des Nordpazifiks ausbreitet, ist das Stammland der kriegerischen Haida Indianer, doch beeindrucken ihre seetüchtigen Kriegskanus aus den riesigen Lebensbäumen heute nur noch im Museum, während in den Dörfern die Crests der Zedernpoles von ihren Familienbanden berichten. Queen Charlotte City und das im Norden der Graham Insel gelegene Masset, wo die restlichen 138 Kilometer des Yellowhead Highways enden, der hier am Fährhafen Skidegate den Festlandasphalt fortsetzt, sind mit jeweils etwa 1.000 Einwohnern die größten Ortschaften auf British Columbias zweitgrößter Insel. Auf der drittgrößten Insel dieser Provinz, Moresby, leben fast alle Einwohner im kleinen nordöstlichen Sandspit (mit Flugplatz), denn der große Rest mit dem beliebten Touristenziel „Gwaii-Haanas-National Park“ ist fast völlig unerschlossen. Die Tier- und Pflanzenwelt hat sich auf diesen Inseln so abgeschieden entwickelt, dass sie auch als „Kanadas Galapagos“ bezeichnet werden. Steilufer im Westen, jungfräulicher Regenwald, Sand, Dünen, Feuchtgebiete, Strände, raue Berge, Flüsse, Bäche und Seen, der Archipel vereint sie alle. 25 Prozent aller Seevögel der Provinz brüten hier, und die Zugvögel der Pazifik-Flugroute lassen sich in jedem Frühjahr und Herbst zur Rast nieder. Die Hälfte aller B.C.-Seebären lebt in diesen Gewässern, Lachse garantieren während ihrer Laichzeit den Schwarzbären ein ziemlich sorgloses Leben, und die Vegetation des Regenwaldes sorgt auch dafür, dass Waschbären, Hirsche und andere Tiere nicht hungern müssen. Diese Inseln sind etwas für Naturliebhaber und solche, die die Abgeschiedenheit lieben und sich im Haida Gwaii Museum zu Skidegate (mit Longhouse, Schnitz-, Silber- und Goldarbeiten) Einblick in diese Kultur verschaffen, und vielleicht auch mit einem 15 Meter-Zedernkanu einen Ausflug unternehmen möchten. Golf, Camping, Air-Service, Geschäfte und Übernachtungen bietet vor allem Masset an, in dessen Nähe das 560 Hektar große „Delkatla Wildlife Sanctuary“ liegt, ein Schutzgebiet für Seevögel mit mehr als 140 Arten, darunter auch Adler und Trompeterschwäne.
Unseren letzten Tag in Prince Ruppert beginnen wir bei Sonnenschein in einen Cafe-Shop der Park Avenue mit zwei Becher Schwarzem und vier Croissants. Die Backware ist gut, der Muntermacher knallheiß. Der Laden läuft. Die meisten Kunden setzen sich aber nicht, sondern nehmen ihren Kaffee mit. Auch wir verlieren nicht sehr viel Zeit, sondern marschieren bald mit dem Ziel „Walboot-Anleger“ durch die Stadt um die bestellten Tour-Tickets abzuholen und einen guten Platz an der Reling zu sichern, denn ein solcher ist für die Filmerei schon wichtig. Aber diese Vorsorge war aus doppeltem Grund unwichtig: Wir waren die zwei einzigen Gäste, und wo immer das offene, kleine Speed-Boot hinfuhr, von Walen war weit und breit nichts zu sehen. Diese „Privatfahrt“ hatte aber auch ihre guten Seiten. Bei bestem Kaiserwetter war sie eine großartige und wir hatten gelernt, dass man schon bei der Reiseplanung zu Hause wissen muss, wann und wo diese großen Meeressäuger anzutreffen sind, denn diese Küsten-Charters wollen selbstverständlich auch dann Geld verdienen, wenn die Wale längst weg, oder noch gar nicht da sind. Man kann auch Pech haben wenn die Zeit stimmt, aber heute hatten wir wirklich keine Chance. Ob den Bootsführer auf dem Rückweg das Gewissen plagte, oder er nur erleichtert war, dass wir die Angelegenheit locker nahmen, war nicht herauszuhören. Er wurde aber gesprächig wie nie zuvor. Er kurvte zwischen den Inseln, erklärte alles, zeigte uns Seeadler und andere Schönheiten und überzog die Zeit ganz gewaltig. Nur das Thema Wale klammerte er sorgfältig aus. Auch auf die Namensgebung seiner Heimatstadt, die damals eine landesweite Angelegenheit gewesen sei, kam er zurück und erklärte, dass am Ende der in Prag geborene Prince Ruppert gewonnen hätte, der ein Sohn von Frederick V., einem kurzfristiger „King of Bohemia“ und 1670 der erste Gouverneur der Hudson’s Bay Company gewesen sei. Und diese Stadt läge eigentlich auf der Kaien-Insel, die jedoch durch eine kleine, unauffällige Brücke mit dem Festland verbunden sei. Ob man die Brücke bemerkt oder nicht, diese Region sei schon vor mehr als zehntausend Jahren besiedelt worden, und noch bevor überhaupt ein Europäer ins Land gekommen wäre, zählte die Ansiedlung um den Inneren Hafen herum bereits als eine der am stärksten besiedelten Gegenden nördlich von Mexiko. Und wie zur Bestätigung nannte der Skipper Ortschaften wie Metlakatla, Lax Kw’alams, Gitkxaahla, Kitsumkal’um und andere lebendige Tsimshian-Dörfer, die noch von jenen Zeiten zeugen. Und wo die Fischerei beides ist, professioneller Job und Lieblingsbeschäftigung, dort ist es auch logisch, dass unser Skipper beim Abschied fragt, ob und wo wir denn auf unserer Reise noch fischen gehen würden? „Of course“ antworte ich ihm, „Salmons at Valdez“. Das war zwar gemogelt, aber ich hatte längst gemerkt, dass jemand ohne Angel hier ziemlich mitleidig beäugt wird. „A great place to go“ nickte er anerkennend, und wünschte gute Weiterreise. Einchecken müssen wir aber erst um 21 Uhr. Zeit also, uns von der Speisekarte unseres Hotels nochmals überreden zu lassen und die restlichen Stunden mit Blick auf das Meer und seine Schiffe, einem trockenen Weißen und köstlichen Meeresfrüchten zu genießen und auf das Kommende anzustoßen.
Der Bus zum Fährhafen war pünktlich, und als wir einchecken sind die maximal 80 Fahrzeuge längst im Bauch der 125 Meter langen und 28 Meter breiten M.V. Kennicot verstaut. Je zwei Nächte und Tage werden wir mit dieser Fähre unterwegs sein, die über vier Decks und 100 Kabinen verfügt, und 750 Passagieren Platz bietet. Beim „Purser“ ging aufgrund unserer Vorbuchung alles sehr schnell, und nach kaum zehn Minuten an Bord konnten wir schon in die 4-Bett-Außenkabine mit Dusche und WC, die wir allein nutzen, einziehen. Der 163 $-Aufschlag, der dafür zusätzlich neben den 260 $ Beförderungskosten auf der Rechnung stand, war absolut in Ordnung. Die Reise durch Alaskas südliche Insel-Küstenwelt mit maximal 17 Knoten Geschwindigkeit kann also beginnen.
Diese Route vor der grandiosen Kulisse der mit Schnee und Eis bedeckten Küstengebirge verlockt natürlich auch zu Abstechern, die rechts und links am Wegesrand liegen, weil die Fähren unterwegs mehrere Häfen anlaufen. Man muss sie aber vorher einkalkuliere und die Reise unterbrechen, weil die Zeit vor Anker nur selten für die angebotenen Ausflüge ausreicht. Wer wenig Zeit hat, wählt besser nur ein Teilstück, als durch weglassen zu straffen. Auch ein paar Schlechtwettertage muss man in Südwest-Alaska immer einkalkulieren, denn wer sie dann aussitzen kann, profitiert. Wir haben uns für die Version „Überblick verschaffen und vielleicht gezielt wiederkommen“ entschieden, denn wer weiß schon vorher ganz genau, wie ihm das alles gefallen wird? Natürlich hatten wir in unserer Reisekalkulation auch genügend Zeit für das eine oder andere Zufällige oder Unbekannte eingebaut, dass uns aber dieser Teil der Welt, bei aller Begeisterung für Afrika oder auch andere Regionen auf unserem Globus, so faszinieren sollte, davon hatten wir momentan wirklich noch keinen Schimmer.
Obwohl die Zeit der „Last Frontier“ längst vorüber ist, sind die 586.000 Quadratmeilen Alaskas noch immer das große, von Menschen kaum veränderte Land, um Wildnisse zumindest von Schotterstraßen aus zu erleben. Und zusammen mit dem Nordwesten Kanadas zählt dieses Gebiet zweifellos zu den großartigsten Landschaften unserer Erde. Und hier, nördlich des 60. Breitengrades und eingerahmt von Hudson Bay, Eismeer und der Beringsee wurden nicht nur Pioniergeschichten geschrieben. Hier lebt auch der Geist von Einsamkeit, Wildnis und „der letzten Grenze“ fort. Und wo zieht jene unsichtbare Linie ihre Bahn um dieser großen Weite ein Gesicht zu geben? Sie schneidet westlich von Alaska die Nordspitze der Kamtschatka Halbinsel, eilt durch Sibirien, tangiert St. Petersburg, Oslo, berührt die Südspitze von Grönland, halbiert in etwa die Hudson Bay, zieht zwischen Whitehorse und Juneau weiter nach Seward und trifft nach der Bering-See wieder auf die Nordostseite Kamtschatkas. Und zumindest für uns Europäer ist es eine Welt, die wir zu Hause, bei aller Schönheit unserer Heimat, nicht kennen. Weglose, unendliche Wälder, donnernde Wasserfälle und mehr als dreitausend Flüsse, von denen der Yukon als drittlängster nordamerikanischer Fluss über mehr als 2.000 Meilen durch das Land zieht. Hier gibt es mehr aktive Gletscher und Eisfelder als in der restlichen bewohnten Welt, und der Malaspinta ist mit 850 Quadratmeilen ihr größter. Mehr als drei Millionen glitzernden Seen, große und kleine, bekannte und namenlose, und siebzig aktive Vulkane sind hier zu finden. Der größte Ausbruch, der des Novarupta von 1912, kreierte das „Valley of Ten Thousand Smokes“, das heute Teil des „Katmai National Monuments“ ist. Im nördlichsten Bundesstaat der USA gipfeln 17 der 20 höchsten Berge des Kontinents in den Himmel, darunter auch der höchste, der 6.194 Meter hohe Mount McKinley. Und wer diesen, zu den „Seven Summits“ zählenden Eisriesen und seine Nachbarn bei strahlendem Sonnenschein im Kleinflugzeug umrundet und auf einem seiner Gletscher landet, wird dieses grandiose Erlebnis niemals wieder vergessen.
An den Küsten ragen steile, tiefe Fjorde aus dem Meer, und im Inneren strecken sich karge Tundra-Ebenen bis zum Horizont. Und dort, wo die Schotterstraßen in dieser einzigartigen Natur enden, setzt der Tourist seine Reise fort mit Fähren, Booten, Pferden oder einem Buschpiloten. Und jeder erschließt sich dieses Land auf seine Art. Mit Auto oder Wohnmobil, nützt rustikale Camps, Blockhütten oder Luxus-Lodges; geht wandern, klettern, reiten, fischen oder befährt weiß schäumende Wildwasserflüsse, besucht historische Farmen, restaurierte Pelzhandelsplätze, Pionierstationen und Indianersiedlungen. Und wenn seine Vorliebe den Tieren gilt, auch dann ist er in Alaska am richtigen Platz, weil in diesem großen Land, dessen Hauptstadt Juneau als einzige der amerikanischen Bundesländer keinen Straßenzugang hat, auch so großartige Geschöpfe wie Bären, Elche, Karibus, Moschusochsen oder Wale unterwegs sind.
In den großen Nationalparks geht man nicht direkt ins Hinterland, sondern wendet sich an Ranger, Boots- oder Trail-Führer. Das erspart genauere Orts- und Verhaltenskenntnisse und schützt vor unbedachten Unternehmungen. Die Landkarten sollte man nicht mit europäischen Augen betrachten, denn die Entfernungen können gewaltig sein, und viele Ortschaften sind oft nicht mehr als Service-Stationen. Tankstelle, Motel, ein paar Gewerbe und eine Handvoll Häuser. Gemütlich und schön sind die meisten sowieso nicht, doch Ausnahmen wie Dawson City, Skageway oder Ketchigan mit ihrem speziellen Flair, oder größere Zentren wie Anchorage oder Fairbanks finden sich natürlich auch. Was sich jedoch aneinanderreiht, das sind beeindruckende Landschaften. Und einen großen Teil davon erschließt der Alaska Highway, der heute asphaltiert von Dawson Creek bis nach Fairbanks zieht, obwohl es ab Delta Junction eigentlich der Richardson Highway ist, der die letzte Lücke schließt.
Und dort, wo die Berge auf das Meer treffen und sich der schmale Festlandstreifen Südostalaskas am Westhang der Küstengebirge ausbreitet, kommt auch der Schiffs-Tourist erstmals mit „Southeast“ in Kontakt. Von üppigem Pazifischen Regenwald überwuchert drängt sich das wegen seiner Pfannenstilform „Panhandle“ genannte Gebiet rund 800 Kilometer nordwärts und ringt, zusammen mit seinen unzähligen vorgelagerten Inseln dem Meer etwa 50 Kilometer Breite ab. Und die wichtigste Verkehrsader dieser Region ist die Inside Passage. Für die kleineren Boote der Fischer ebenso, wie für die strahlend weißen Kreuzfahrtschiffe oder die großen Fähren. Unterwegs schicken die Eisfelder der Bergzüge zahlreiche Gletscher hinunter zur fjorddurchfurchten Küste, wo der dunkle, dichte „Tongass National Forest“, der größte Regenwald dieser Art auf unserem Globus, an den Wassern des Ozeans sein Ende findet. In den Fluten tummeln sich Wale, Seelöwen, Seeotter und riesige Heilbutts, und von felsigen Inseln schwingen sich Adler, Reiher und viele Arten von Seevögeln in die Lüfte. Kühle, feuchte Sommer und milde, schneereiche Winter sorgen für gewaltige Zedern, Hemlocks, Fichten, Farne und Moose und verleihen diesen Wäldern ein märchenhaftes Flair.
Und nur dann, wenn kontinentale Eiseskälte aus dem Landesinneren durch die Fjorde weht und der Kuro-Shiwo-Strom kein warmes Meerwasser aus japanischen Gewässern heranspült, dann sinken auch in diesen fischreichen Gewässern die winterlichen Temperaturen unter den Gefrierpunkt. Unterwegs wird die Fahrrinne für die großen Fähren hier und dort sogar so eng, dass diese „Narrows“ nur bei Flut befahren werden können und jeder ihrer Meter haarscharf navigiert werden muss. Diese schmalen Passagen, ganz besonders die zwischen Wrangell und Petersburg als auch Juneau und Sitka, bestimmen auch die unterschiedlichen Abfahrtszeiten, denn die Fahrpläne müssen sich dem Wechsel zwischen Ebbe und Flut anpassen.
Südostalaska ist auch die Heimat der Bären, Indianer und deren Geschichten. Noch heute erhalten Zweige der Tlingit, Haida und Ts’imschian ihre Kultur durch Musik, Tanz und Kunst lebendig. Dass diese Ureinwohner ihre künstlerischen Fähigkeiten so verfeinern konnten, lag an der Fülle, mit der ihre Gewässer gesegnet waren. Robben, Seeottern, Heilbutt, Lachs, Krabben und Langusten versorgten die Indianer dieser Region so reichhaltig mit Nahrung, dass ihnen viel Zeit blieb, sich ihrer handwerklichen Kunst zu widmen. Und besonders dort, wo heute die großen Touristenschiffe anlegen, findet sich zwischen den üblichen Angeboten auch so manches großartige Stück, das allerdings auch nicht „verschenkt“ wird. Zu finden sind hier auch die Spuren skandinavischer, russischer und anderer Pioniere, oder die der Goldsucher, und sie alle haben ihren Einfluss hinterlassen. Ziemlich gründlich waren auch die Pelzjäger, denn sie hatten die Otter fast ausgerottet. Aber richtig, und ziemlich plötzlich, aufgewacht ist der nördliche Riese Alaska, der nach dem Kauf durch Amerika noch länger schlief, jedoch erst, als die Welt vom Ruf des Goldes aus seiner Wildnis erfuhr. Gleichzeitig entstanden auch unzählige Dosenfabriken, die den reichlich vorhandenen Fisch bis zur Gefährdung einzelner Arten verarbeiteten. Heute sind die beiden Hauptstandbeine – Holzschlag und Fischfang – kontrolliert, und neben Gas, Öl und andere Rohstoffe kam in den letzten Jahren ein drittes hinzu, die Wachstumsindustrie Tourismus. Gewaltige, weite und einsame Landschaften, wilde Tiere, die Geschichte der Indianer, Pelzhändler, Pioniere und das Gefühl von Freiheit und Eintauchen in das „Gestern“ ziehen inzwischen Tausende Menschen aus der ganzen Welt an, und nicht wenige von ihnen kommen über die Inside Passage ins Land.
Die Reise auf der Inside Passage, die den Seeweg vor der Küste Alaskas und British Columbias mit einer Küstenlänge von etwa 1.500 Meilen und 1.000 Inseln bezeichnet, ist allerdings auch Glückssache, denn nicht immer gewährt das Wetter Einblick in die ganze Schönheit ihrer Umgebung. Und auch bei unserer ersten Fahrt war es nicht anders. Sonne in den Gewässern von British Columbia, und die drei Grundfarben verhangener Sommertage, als die Fähre ihren Weg in Alaska fortsetzte: Verwaschenes Weiß, Grau und dunkles Grün, für Gletscher, Wasser und die Masse der Nadelwälder. Und diese müde Farbpalette erinnerte mich auch sofort an einen Tischnachbarn in Prince Ruppert, der die vier Jahreszeiten in Alaska mit Juni, Juli, August und Winter bezeichnete und anfügte, dass jeder Einheimische in den ersten drei sein Geschäft mit dem Tourismus gemacht haben müsse. Und weil die meisten Besucher im Juli Alaska und den benachbarten Yukon ansteuern, ist er auch der absolut teuerste Monat des ganzen Jahres. Wir haben diese Zeit ganz bewusst umgangen und sind Mitte August auf dem Weg nach Norden, denn auch ein nicht ganz so schöner Tag stört uns nicht wirklich, und jenseits der Küste herrschen ganz andere Bedingungen. Jede Reise ist immer auch ein Kompromiss, und das Wetter muss man nehmen wie es ist und hoffen, dass weltberühmte „Bilderbuchfotos“ nicht gerade dann verregnet und grau sind, wenn man selbst vor ihnen steht. Alaska und der kanadische Yukon sind auch das Land der Mitternachtssonne, des Nordlichtes und die letzte große Wildnis Nordamerikas. Für erstere war es schon zu spät, der Rest aber reicht aus, um hellauf begeistert zu sein. Es ist eben wie mit anderen Dingen auch. Man kann nicht immer alles haben, aber jede Zeit hat ihre eigenen Reize. Für das wunderschöne Bunt des Herbstes und die gewaltigen Geweihe der Elchbullen zahlt man mit früher Dunkelheit und gelegentlichen Nullgraden am frühen Morgen. Die Mitternachtssonne spendiert enorm lange Tage, und der Weg, den sie erhellt, führt durch zartes Grün und erste Frühlingsblumen, aber so manche Schotterstraße ist dann noch nicht geglättet oder so schlecht, dass das Ziel gestrichen werden muss. Dafür stehen die Chancen gut, um links und rechts des Weges auf neues Leben in der Tierwelt zu treffen. Also doch lieber den teuren Monat „schlucken“? Für das ganz große Schauspiel der Weißkopf-Seeadler nützt aber auch das nichts, denn es findet schon im Januar statt, wenn der Winter Alaska mit eisiger Hand regiert.
Gegen 5 Uhr morgens erreichen wir Ketchikan. Die Zeit, um den Ort zu erkunden ist zu kurz, aber entgehen lassen kann ich mir den ersten Hafen in Alaska auf keinen Fall. Und daher stehe ich, wenn auch etwas fröstelnd, schone einige Zeit an der Reling, ehe sich die große Fähre Zentimeter um Zentimeter längsseits an das Dock herantastet. Mehrfach drehen die Motoren kurz hoch, und jedes Mal geht ein leises Zittern durch das Schiff. Zwischendurch ein paar Zeichen vom Bodenpersonal hinauf zur Brücke oder ein paar Rufe, die ich aber nicht verstehe. Kurz darauf sind die Passagiere, die vorhin noch vor der Treppe zum Auto-Deck anstanden, verschwunden, der Anker rattert und starke Taue werden um kurze Eisenpfosten geschlungen. Das ganze Manöver läuft ab wie ein Uhrwerk. Präzise. Schnell. Unauffällig. Jeder Griff sitzt. Dann öffnet sich auch schon der Bauch des Schiffes und Sekunden später rollen die ersten Fahrzeuge an denen vorbei, die noch mitkommen möchten. An anderer Stelle werden inzwischen Kisten, Fässer, Paletten und übriges Frachtgut ein oder ausgeladen, und nach kurzer Zeit ist der ganze Spuk schon wieder vorbei und das Schiff macht sich fertig um auszulaufen. Das Wetter ist jetzt schlechtweg unangenehm, kalt und grau in grau mit leichtem Regen. Da empfiehlt es sich doch, die Bettdecke nochmals weit über die Ohren zu ziehen, um sich aufzuwärmen.
Das hiesige Land gehörte einst einem Flathead-Indianer. Er verkaufte es, und 1900 entstand ein Ort, der in der Sprache der Ureinwohner „Kitschkhin“, die donnernden Flügel des Adlers, hieß. Als sich Waldarbeiter, Goldsucher, Fischer, Dosenfabrikarbeiter und Prostituierte ansiedelten wurde daraus Ketchikan. Dreizehn Fischfabriken machten es schnell zur „Lachshauptstadt“ und, um 1930, zur größten Stadt Alaskas. Als der Lachs zehn Jahre später stark zurückging übernahm Holz die tragende Rolle, und etwa 200.000 laufende Kilometer verließen jährlich den Wald. 1956 wurden die Schlagrechte im Tongass National Forest gestoppt, und der Ort verdient inzwischen sein Geld mit der Kombination Holz-Fisch-Tourismus und der Tlingit Kultur. Diese findet sich im Ort reichlich, und ganz besonders hat sich das einstige Fisher-Camp dieser Indianer sein natives Erbe auch im „Totem Bight State Historical Park“ und im „Saxman Native Village“ bewahrt, mit vielen Totems, Beaver Clan House, den Fox-Dancers und einer Schnitzerhalle, während die „Great Alaska Lumberjack Show“ an die hohe Zeit der Holzfäller erinnert.
Die Ansiedlung selbst wirkt irgendwie eingeklemmt zwischen Meer und Küstengebirge. Mehrere Häuser stehen auf Stelzen, zu anderen am Berghang führen lange Treppen, und bei den Touristen gilt die „Creek Street“ als Anziehungspunkt. Früher befand sich hier der Rotlicht-Distrikt, den die Stadtväter den „sportlichen Damen“ 1903 zugestanden hatten, und der 1953 wieder geschlossen wurde. Heute windet sich der auf Stelzen gebaute Holzsteg um Häuser mit Souvenirläden, Galerien und Shops. Wir haben dieses Örtchen auch erst Jahre später abgebummelt, als wir in umgekehrter Richtung unterwegs waren und der Inside Passage mehr Zeit widmen konnten. Und wenn dann das Wetter stimmt, gibt es auch einige Möglichkeiten, die nähere Umgebung mit Boot oder Buschflugzeug zu erkunden. Eine davon ist der Flug in das 2,3 Millionen Acker große „Misty Fjord National Monument“, wo 1.000 Meter hohe Granitklippen, riesige Wasserfälle und Gletscher, Bären, Wölfe, Hirsche oder Fischadler um die Attraktivität im unerschlossener Regenwald konkurrieren. Alaskas südlichste Stadt hat allerdings auch viel von dem, was die Einheimischen scherzhaft „Liquid Sunshin“ nennen, jede Menge Regen, so dass man auch Zeit mitbringen muss, um ihn auszusitzen.
Auch „Prince of Wales Island“, nach Kodiak und Hawaii Amerikas drittgrößte Insel, liegt in Reichweite. 1793 von Captain George Vancouver nach dem ältesten Sohn von King George III. benannt, zeugen die Namen auf ihrer Landkarte von der geschichtlichen Vergangenheit, die Indianer, Russen, Spanier, Briten, Franzosen und Amerikaner prägten. Das traditionelle Tlingit-Gebiet namens Taan (Seelöwe), heute mit POW modern abkürzt, wurde auch zur Heimat der Kaighani Haida, die im späten 18. Jahrhundert hier ankamen und den Südteil beanspruchten.
Der erste Europäer, der in der Nähe der Insel an Land ging, war 1741 Alexi Chirikov, als er ein Schiff von Vitus Bering auf dessen zweiter Expedition kommandierte. Zwar erreichte Juan de Fuca schon 1592 die Strait of Georgia, doch stießen die Spanier erst 1775 weiter nach Norden vor und reklamierten das spätere Prince of Wales Island für sich. Auch Käpt’n Cook, der einen Großteil der Küste Alaskas kartographierte, kam fünf Jahre nach Vancouver auf der Suche nach der Südwestpassage hier vorbei. Und nach ihm, 1786, hatten auch die Franzosen den Weg in den Norden gefunden, wo Holz und Fisch, und im 19. Jahrhundert auch Gold, Kupfer und andere Metalle, die Begehrlichkeiten weckten. Der Fisch spielt auch heute noch eine Hauptrolle, doch haben sich Erholung und Outdoor-Aktivitäten an seine Seite gesellt, denn die 1.500 Kilometer lange Küstenlinie mit Buchten und Hunderten von Inselchen stets ganz in der Nähe ist ein Eldorado für Boote, Angler und Taucher. Schließlich können die mit der Fähre „Prince of Walses“ von Ketchikan angereisten Touristen auch rund 240 Kilometer Schotterstraßen nützen, die der Holzindustrie zu verdanken sind und in die Wildnis zu Schwarzbär, Wolf und Hirsch führen.
Gegen Mittag steuert unsere Fähre den ehemaligen russischen Stützpunkt Fort St. Dionysius an der Mündung des Stikine Rivers an. Diese traditionelle Handelsroute der Tlingit-Indianer sollte den Russen nicht nur den Zugang zu Nerz-, Seeotter- und Luchspelzen sichern, sondern auch den Aktionsradius der mächtigen Hudson’s Bay Company einschränken. Funktioniert hat das jedoch nicht, denn schon sechs Jahre später war hier die Konkurrenz aktiv. Sie benannte den Posten um in „Fort Stikine“ und zahlte den Russen eine Pacht, zweitausend Pelze pro Jahr.
Die Fahrt nach hier war leider nicht berauschend. Regen und tiefhängende Wolken ließen von der Schönheit der Küste kaum etwas erkennen, sodass es ganz angebracht war, dass der Bord-Ranger unterwegs eine Menge von Alaska zu erzählte hatte. Bei der Hafeneinfahrt in Wrangell, so heißt das einstige Fort heute, bietet sich auf den ersten Blick mit Dockanlagen, Lagergebäuden und Geschäftshäusern ein ähnliches Bild wie im ersten Hafen. Auch hier steht einiges davon auf Pfählen über dem Wasser, und hinter der Straße, die irgendwo im dichten Grün verschwindet, klammern sich ebenfalls kleine Häuser an die bewaldeten Hänge. Darüber verdeckt dichtes Grau die große Kulisse, und aus jener regnet es intensiv. Anschließend wiederholt sich, was beim Anlegen der Fähre Routine ist. Ein paar Zurufe und Kommandos, das Festmachen der schweren Taue und dann rattern schon die mächtigen Ketten über ihre Rollen und legen die schweren, von ihnen gehaltenen Eisenplatten bei der Öffnung des Schiffsbauches quietschend und mit dumpfem knallen punktgenau auf die Metallplanken der Hafenanlage. Sekunden später rollt der erste LKW über sie hinweg aufs Festland, Gabelstapler laden ein oder aus, und auf dem Parkplatz wartet eine Handvoll Autos auf das Zeichen zum verladen.
Wrangell ist eine der ältesten „None-Native-Settlements“. Unter verschiedenen Fahnen boomte es mit Holz, Gold, Fisch und der Jagd, und das kleine Chief Shakes Island mit seinem Tlingit-Klanhaus mitten im Bootshafen liegend, ist sein Markenzeichen. Zwei Feuer, 1906 und 1952, vernichteten fast das gesamte Zentrum, doch blieb der Ort auch danach, was er immer schon war, eine „logging town“. Und so lange es Bäume zu fällen und Bohlen zu verladen gab, war die Zukunft so sicher wie die Vergangenheit. Diese Ära ging jedoch 1994 zu Ende, als das Sägewerk, das etwa einhundert Jahre lang ein Drittel aller Löhne dieses Ortes gezahlt hatte, aus wirtschaftlichen und Umweltgründen schloss. Ganz gingen die Lichter jedoch niemals aus. Selbst das Jahr 2003, als nur noch drei neue Häuser gebaut und 2.113 Einwohner gezählt wurden, war für den Ort kein Grund zum Pessimismus. Die Stadt wuchs nur langsamer, veränderte und besann sich auf ihre positiven Qualitäten und förderte diese. Der Ökotourismusgalt dabei als die wichtigste. Kajak, Kanu, wandern, klettern, fischen, Flightseeing, Jet- und Ausflugsboote, Gletscher- und Bärentouren oder Hütten im Hinterland, in das vom US-Forest-Service unterhaltene Schotterstraßen führen, zählen heute zu den wichtigsten Angeboten. Mit Abfällen aus dem alten Sägewerk wurde ein Feuchtgebiet trockengelegt und zu einem modernen Golfplatz umfunktioniert. Das Städtchen, zu dem keine Straßen führen und das seine Anbindung an die Außenwelt den Fähren und der Alaska Airline verdankt, liegt nur elf Kilometer vom wilden Stikine River entfernt. Und diesen, etwa 650 Kilometer langen Fluss, nutzt das moderne Wrangell auch auf moderne Art. Touristisch, mit Jetbooten über etwa 160 Meilen bis hinauf nach Telegraph Creek, das mit dem Fahrzeug nur über den Cassiar Highway zu erreichen ist. Über diesen Fluss, der der schnellste befahrbare Strom in Nordamerika und einer der wenigen Transportkorridore zum Pazifik durch die Küstengebirge ist, schrieb einst der Naturforscher John Muir, dass der Grand Canyon des Stikine „ein hundert Meilen langer Yosemite“ sei. Und wer diesen Park kennt weiß, was ihn hier erwartet. Dazu Fahrspaß, dichter Regenwald mit uralten Zedern, Fichten und Hemlocktannen, Gletscher, Wasserfälle, Weißkopf-Seeadler, Bären, Elche und Bergziegen. Flussabwärts sind auch Kanus, Kajaks und Flöße unterwegs, und im April, wenn das schäumende Gewässer in einem 25 Kilometer breiten Delta auf das Meer trifft, ist dieses auch ein guter Ort um Orcas und Seelöwen zu sehen. Auch Zugvögel, mehr als 120 Arten, gönnen sich auf ihrer jährlichen Reise hier eine Pause.
Südlich von Wrangell, wo der Anan Creek kaskadenartig über seine Stromschnellen springt und ab Juli die Pink Salmons eintreffen, wird das „Anan Bear and Wildlife Observatory“ für sechs Wochen zu einem der bärenreichsten Gewässer in Alaska. Touristenboote und eine Plattform sorgen dann auch dafür, dass Besucher die Braun- und Schwarzbären in ihrer natürlichen Umgebung ziemlich nahe und bequem beobachten können.
Ab Ketchikan ist das mit dem Wasserflugzeug ebenfalls möglich, und für die beste Lösung gilt dann das preisgünstige Paket „Misty Fjord, Leconte Gletscher und Anan Creek“. Als wir einige Jahre später dafür Zeit hatten, standen für diese Tagestour knappe 600 US$ pro Person auf der Rechnung. Die Wandlung vom Holzfällerdorf ist also gelungen, und Wrangell heute eines der neueren Urlaubsziele für Outdoor-Fans in Alaska.
Nach dem Verladen legt die Fähre gleich wieder ab, und als Notiz schrieb ich ins Tagebuch „möglichst zwei Tage wiederkommen“. Die M.V. Kennicot sucht nun ihren Weg durch die Summer Strait nach Petersburg, das gegen 16 Uhr erreicht werden soll. Unsere Begleiter sind Regen, zahlreiche Inseln und der riesige boreale Regenwald, dem kalte Temperaturen und spärlicher, leicht saurer Boden ein Limit für sein Wachstum setzen. Unterhalb der Berge dominieren Sitka-Fichten (Rottannen), Western Hemlocks und Zederngebiete, am südlichen Ende des Lynn-Kanals auch Jack-Pinien. In offenen Gebieten wachsen vorzugsweise Pappeln, Erlen, Birken und Ahorn, dem die Einheimischen schmackhaften Sirup abgewinnen. Räuchert man Lachs über seinem Rauch, bekommt dieser eine delikate Süße und ist in leicht warmen Zustand ein ausgesprochener Hochgenuss! Die Waldränder gehören den Beerensammlern, Vögeln, Zwei- und Vierbeinern. Heidelbeeren von beträchtlicher Größe, rote Huckleberries und Preiselbeeren locken im Herbst, während die an mannshohen Sträuchern wachsenden himbeergroßen, orange-goldenen Salmon-Berries schon im Frühsommer reifen. Aber Vorsicht, denn wegen ihres verlockenden Geschmacks gelten sie auch bei den Bären als Leckerbissen.
So unangenehm der Regen auch ist, wir müssen raus, denn heute passieren wir mit den „Wrangell-Narrows“ eine der kritischsten Stellen dieser Route. Sie trennt Mitkof Island von ihrem nahen Nachbarn Kupreanof Island, und diese 36 Kilometer zwischen den beiden Inseln muss man an der Reling erleben. Am besten ganz vorn am Schiff, egal bei welchem Wetter. Diese Engstellen, wo die Gezeiten zwischen zehn und 480 Zentimeter schwanken, sind für ihre vielen Navigationszeichen berühmt, und wenn das Wasser hier durchschießt, ist das Navigieren kein Kinderspiel. Der Fahrplan ist auf die Flut abgestimmt, denn nur bei dieser reicht die Wassertiefe aus, um im Slalom und Schritttempo die Felsriffe zu umgehen. Und wenn sich die Fahrrinne fast auf Schiffsbreite verengt, dann stehen neben den vielen Seezeichen, die jene markieren, Untiefen oder Felsen anzeigen, auch Männer mit langen Stangen am Ufer und rufen denen, die auf dem Vordeck zu ihnen die Verbindung halten lautstarke Worte zu, um bei der Navigation der großen Fähre zu helfen. Es ist unglaublich, wie der Kapitän hier „rangieren“ muss. Links, rechts, nochmals rechts und wieder links. Meter für Meter schiebt sich der Riese hier am Ufer entlang bis er wieder freies Wasser erreicht. Schade, dass es gerade auf diesem Stück des Weges in Strömen regnet und die Videokamera in der Kabine bleiben musste. Mit oder ohne, wir halten durch. Und zwar solange, bis die Schiffsmotoren wieder in ihren regulären Takt verfallen und dieses Spektakel hinter uns liegt. Danach bleibt gerade noch genügend Zeit, um die nassen Schuhe und Anoraks zu wechseln, und mit einem Hochprozentigen an der Bar innerlich aufzuwärmen, ehe die Dieselmotoren am späten Nachmittag die Fähre mit leichtem Zittern ihres Rumpfes an das Dog von Petersburg manövrieren.
Petersburg ist ein geschäftiges Örtchen am Nordende des Mitkof-Islands mit dem Spitznamen „Little Norway“, 1897 von Peter Buschmann gegründet, Fischereihafen mit etwa 3.000 Einwohnern, Hotel, Lodge, B&B’s, Restaurants und Touren, wie es sich für diese Gegend gehört, zu Bären, Gletschern und Walen. Bis zum südlichen Ketchikan sind es 110 Meilen, nach Juneau im Norden zehn mehr. Die Insel ist bergig und dicht bewaldet wie die meisten anderen auch, und der Crystall Mountain mit 1.011 Meter die höchste örtliche Erhebung. Wäre der Blick heute frei, dann läge das winzige Städtchen mit seinem Hafen, den die großen Kreuzfahrtschiffe nicht anlaufen können, vor einer schönen Kulisse aus Wasser, Wald und verschneiten Bergen am nahen Horizont, aus denen die Spitze des Devils Thumb herausragen würde. Uns zeigt sich leider nur der nasse Beton der Anlegestelle, das historische, weiße Gebäude der „Sons of Norway Hall“ und die Idylle von verwitterten Bootshäusern an der Waterfront. Selbst ein schneller Marsch zu den frischeren Farben am Nordic Drive und der Sing Lee Alley, Zentrum des Ortes und größtenteils auf Pfählen über dem Hammer Slough ruhend, ist uns nicht vergönnt. Die Liegezeit hätte ausgereicht, aber was derzeit an Regen aus den Wolken fällt, das ist mehr als das, was auf die berühmte Kuhhaut geht. Was bleibt ist Zuschauen, unter Lederhut und Regenumhang, wie ein paar LKW und drei Wohnmobile über den Landesteg poltern, während einige mehr aufs Einladen warten. Hier und dort wird noch andere Fracht bewegt, und dann macht sich die Fähre auch schon wieder für die Ausfahrt fertig aus einem Hafen, der über die größte Heilbutt-Fangflotte verfügt, und in dessen zugehörenden Fischfabriken aus den Früchten des Meeres jährlich etwa 40 Millionen Dollar erwirtschaften werden. Ob ich wiederkommen möchte? Wahrscheinlich nicht. Fern vom Touristenrummel gibt es zwar einige schöne Unternehmungen an frischer Luft, doch ob nicht vielleicht doch das romantische Foto vom Hammer Slough mit seinen kleinen Stelzenhäusern vor verschneiter Bergkulisse das „Schönste“ an Petersburg ist, ich vermag es nicht zu sagen. Das Foto jedoch, das auf allen Alaska-Kalendern prangt, das hätte ich schon sehr gern gehabt.
Unser nächster Hafen ist Sitka, und der Weg an die Westküste des Baranof Islands ist ebenfalls wieder „steinig.“ Zweimal, hin und zurück, muss die Fähre durch die enge Peril Strait und die Sergius Narrows, die die Baranof Insel von Chigagof Island trennen. Bei der Hinfahrt wird es Nacht sein, denn unser Schiff legt morgen früh 2.30 Uhr n Sitka an und gegen 5 Uhr wieder ab. Dass dennoch Taxifahrer zur Fähre kommen, um Durchreisenden während der wenigen Nachtstunden wenigstens die alte russische Kirche und einige andere Dinge zu zeigen, ist mir bekannt. Es ist auch nicht die Frage, ob sich das lohnt oder nicht, sondern, ob wir jemals wieder einen Fuß in den russisch geprägten Ort setzen werden. Normalerweise nicht, doch mit diesem Land scheint alles anders zu sein, denn es zieht uns jetzt schon an wie ein Magnet. Momentan ist mir jedoch der Becher mit dem heißen Kaffee, den Sabine aus der Kombüse geholt hat, wichtiger. Er verkürzt uns beim Auslaufen unter dem überdachten Heck die Zeit und lässt Petersburg im kalten Regen immer kleiner werden.
In den kommenden Stunden wird unser Schiff um Kupreanof Island einen Bogen schlagen, dann, für etwa 60 Kilometer, nordwärts steuern und dabei die „Bäreninsel“ Admiralty Islands zu seiner Rechten haben, ehe sich der Kapitän wieder westwärts orientieren muss. Kake, am Nordende der Kupreanof Insel, wird von diesen Fähren nicht angelaufen. Wer die Pools aller Tlingit-Klans sehen möchte, die dort neben Alaskas höchstem Totem Pool (46 Meter) präsent sind, muss eine andere Fähre wählen. Bekannt ist der kleine Ort, wo Wasser und Wald bis an die Haustür reichen, auch bei den Kajakfahrern, weil dort die Touren in die Kuiu-Wildnis starten. Bei diesem Wetter kein besonders guter Gedanke. Wir suchen uns lieber in einem der Salons ein schönes Plätzchen am Fenster und lassen die Welt aus Inseln, Wasser, Wald und Bergen bei einem Drink vorüberziehen.
So intensiv die tief hängende Wolken, Regen und Nebelschleier Alaskas wunderschöne Küste bisher vor uns verbargen, so ähnlich muss die Bettdecke heute Nacht meine Ohren vor dem Reisewecker versteckt haben. Erst jetzt, als lautes Kettenrasseln, schrille Stimmen und aufheulende Motorengeräusche zu vernehmen sind bin ich hellwach und ruckzuck an der Reling. Wir waren in Sitka, und die Crew beim ausladen. LKWs, Wohnmobile, Lieferwagen und PKWs verließen schon rumpelnd ihr Deck, und jenseits der lichtspendenden Lampen war es um 2.45 Uhr noch ziemlich dunkel. Von der Stadt war sowieso nichts zu sehen, denn zwischen ihr und dem Fähranleger liegen etwa elf Kilometer. Und der gestrige Gedanke mit dem Taxi? Der war sofort gestorben, weil auch hier kalter Wind und peitschender Regen alles im Griff haben. Also ab ins Warme, den Wecker auf 4 Uhr 45 stellen und vor dem Ablegen wieder unter die Bettdecke huschen. „Gefühlt“ war diese warme Zeit nicht mehr als zehn Minuten, doch brachten uns die schrecklichen Klingeltöne dennoch wie geölte Blitze auf die Beine. Der Grund: Vor dem Schiff lagen erneut die engen Passagen, die es in der Nacht schon einmal durchfahren hatte, denn mit dem Ziel Juneau geht das nicht anders. Und das wollen wir keineswegs verpassen. Das Wetter lässt sich zwar auch jetzt noch nicht wirklich definieren, aber immerhin ist es trocken.
Sitka hat eine lange, eine russische Geschichte. Vor etwa 8.000 Jahren war der Vulkan Edgecumbe, dessen kegelförmige Silhouette sich im Westen erhebt, ausgebrochen, und auf den Fox-Inseln lebten Aleuten-Jäger. Später war im heutigen Sitka der Kiksadi-Klan der Tlingit-Indianer zu Hause und nannte seine Ansiedlung Shee Atika. 1741 ging der Däne Vitus Bering auf seiner Forschungsreise durch den Nordpazifik als erster Europäer in Alaska an Land und nahm es für seine Heimat in Besitz. Achtundfünfzig Jahre später ließ sich, auf der Suche nach Pelzen, Alexander Baranof sechs Meilen nordwestlich der heutigen Stadt, zu Old Sitka, nieder, und das Fort St. Michael, das die Russen hier erbauten, vernichteten die Indianer 1802 aus Protest gegen ihre Unterdrückung. Baranof, der „Lord of Alaska“, rächte sich grausam. Er brannte die Häuser der Indianer umgehend nieder, übernahm ihren „Castle Hill“, baute zwei Jahre später ein neues Fort und etablierte Sitka, das damals noch Novo Archangelsk hieß. Das Fort fungierte als Zentrale des russischen Pelzhandels und als Hauptstadt von Russisch-Amerika, dessen Bereich sich damals von den Aleuten bis hin zu Fort Ross nördlich von San Francisco zog. Von 1804 bis 1867 war die Russisch-Amerikanische-Company, die in diesem Gebiet das Monopol besaß, die profitabelste Pelzhandelsgesellschaft der Welt und Sitka das „Paris am Pazifik“. Nachdem die Amerikaner am 18.10.1867 den Russen Alaska für 7,2 Millionen US-Dollar abgekauft hatten, wurde es ziemlich still um jenen Ort. Es fand sich zwar noch etwas Gold, kurz später aber nur noch eine Geisterstadt, so das auch die Hauptstadtwürde der Provinz 1900 offiziell von Sitka nach Juneau wanderte, das die Goldsucher Joe Juneau und Richard Harris 1880 gegründet hatten. Während des Zweiten Weltkrieges waren zu Sitka neben 7.000 Zivilisten auch 30.000 Militärs stationiert und danach, 1959, wurde Alaska zum 49. Bundesstaat der USA. Die Russen hatten vor Sitka den Seeotter fast ausgerottet, und Amerikaner und Japaner „ernteten“ vor allem Wale. 1905 bis 1965 sollen es allein hier 28.000 Exemplare gewesen sein. Inzwischen ist von der einstigen Buckelwal-Population weltweit nur noch ein Fünftel verblieben, und die mit 20.000 Tieren gefährdete Art geschützt.
Zurück zur Gegenwart: Mit verhaltener Kraft drücken die Dieselmotoren am frühen Morgen unser Fährschiff aus dem Hafen von Sitka, der als einziger Südostalaskas aufs offene Meer blickt. Und in diese 9.000 Einwohner-Stadt sollten wir tatsächlich Jahre später, und „in umgekehrter Richtung“, nochmals zurückkehren. Heute aber zeigt der Kompass „Nord-Ost“ um in etwa neun Stunden Alaskas Hauptstadt zu erreichen. Weit davor muss die Kennicot zwischen dem Salisbury Sound im Westen und der Peril Strait im Osten wieder durch die „Sergius-Narrows“, die so eng erscheinen, dass man glaubt, die Zweige der Bäume auf Chichagof Island im Norden, und Baranof Island im Süden mit der Hand ergreifen zu können. Ausgefeilte Navigation und exakte Einhaltung des Fahrplanes sind dabei unerlässlich, weil die durch Ebbe und Flut ausgelösten starken Strömungen von 6 bis 8 Knoten selbst die PS-starken Aggregate der Fähren in Bedrängnis bringen könnten. Und deswegen muss das Schiff beim Gezeitenwechsel passieren, weil dann die Strömung durch Umkehr für kurze Zeit ihre Wucht verliert. Aber so weit sind wir noch nicht. Entlang der Westküste der Baranof-Insel zieht das Schiff nach Norden durch die Whitestone-Engen zum Salisbury Sound, wo der Blick nach dem Kruzof-Island auf den Ozean wieder frei wird. Unmittelbar danach dreht die Fähre nach Nordwesten, drosselt ihre Geschwindigkeit und hat die gefährliche Passage vor sich. Rechterhand, nur ein paar Meter entfernt, das Festland der Baranof-Insel an deren Waldesrand ein paar kleine Häuser mit meist roten Dächern wie verlorenes Spielzeug wirken. Einen Bootssteg, an dem weiße und farbige Schiffchen auf den Wellen schaukeln, haben sie aber alle. Scharf links nähert sich eine der vielen kleinen, felsig-schroffen Inseln der Bordwand. Größer als dreißig bis vierzig m2 wird sie kaum sein, doch scheint sich die etwa sechs Meter hohe Solitärtanne, die in ihrer Mitte sattgrün dominiert, als „Platzhirsch“ recht wohl zu fühlen. Und direkt vor jenem Winzling ragt ein Betonpfeiler weit aus dem Wasser. Am freien Ende seines einbetonierten Eisenstabes umrahmt Metall zwei nach links und rechts abgewinkelte „grüne Fenster“, auf denen die Zahl 37 steht. Minimale Wassertiefe, Entfernung oder Streckenabschnitt? Viele ähnliche Seezeichen – mit und ohne Sockel, geradeaus, nach links, rechts oder auf Zick-Zack verweisend – deren Bedeutung wir nicht verstehen, auch links und rechts, vor und hinter dem Schiff. Befestigt an Bojen, herausschauenden Klippen, Landenden und anderen schwimmenden oder festen Konstruktionen. In einer Kurve mit zwei Felsvorsprüngen wird das Schiff noch zusätzlich vom „Ufer“ aus dirigiert, wo mehrere Männer mit langen Stangen hantieren und Kommandos oder Informationen nach oben rufen. Erst muss der schwimmende Koloss nach links, dann rechts herum. Vorsichtig, mal etwas schneller, dann wieder ganz langsam, selten ruckartig tastet sich das Schiff mit hin und her pendelnder Nase und ruhig drehenden Motoren Schritt für Schritt vorwärts bis die Ufer sich wieder langsam entfernen, die Peril Strait erreicht ist und die Fähre nach Südost dreht. Auch hier sieht das Ganze mit seinen hohen Bergen, Felsklippen und Inseln noch eher aus wie eine Sackgasse, doch hat unsere Fähre nun etwas mehr „Luft“ und kann ihre Gangart wieder erhöhen. Was hinter uns liegt war eine kunstvolle Navigation, die die wenigen Gäste an der Reling des Vorschiffes fesselte, und die immerhin 125 Meter Länge durch das felsige Labyrinth bugsieren musste, die mit vier Decks ausgestattet sind. Ganz unten die Fahrzeuge, darüber die Kabinen und der Bereich des „Zahlmeisters“. Eine Etage höher bieten Lounges, Bar und Selbstbedienungsrestaurant ihren Service im Vorschiff an, während das Bordrestaurant entgegengesetzt serviert. Ganz oben lockt schließlich das teils überdachte Sonnendeck mit der besten Aussicht. Und wer als Rucksacktourist vom Anfang bis zum Ende dabei ist, der darf während dieser vier Nächte auf diesem sogar sein kleines Zelt unter Wärmestrahlern aufschlagen.
Und was hält hier der Wettergott für uns bereit? In der Regel unten graues, wogendes Wasser, darüber das bläuliche Schwarz des Küstenwaldes. Zwischen diesem und einem hohen, zurückversetztem Kamm, aus denen verschneite Bergspitzen ragen, ein tief hängendes, zerfetztes Wolkenband, das vor dem Wind zu fliehen scheint. Und dort, wo der verhangene Himmel für kurze Momente ein paar Sonnenstrahlen gewähren lässt, bekommt die Umgebung sofort richtig Farbe. Auf der rechten Seite, aber etwas entfernt, ist das im Moment ein Gletscher, der sich glitzernd vom dunklen Grün abhebt und uns eine Winzigkeit vom wirklichen Alaska gewährt. Und, als hätte es die Regie so vorgesehen, kommt von der Brücke noch die Information, dass sich steuerbords auf 11 Uhr Wale nähern. Es sind drei oder vier Buckelwale, die uns mehrfach ihre Schwanzflosse zeigen. Nahrung finden sie in diesen Gewässern reichlich, doch braucht jeder dieser Vierzig-Tonner davon eintausend Kilo täglich. Nach dem Frühstück sind wir gerade wieder rechtzeitig an der Reling um der Peril-Stait noch einen letzten Blick zu schenken und um dabei zu sein, als unser Schiff ziemlich rechtwinklig nach Norden in Chatham Strait einbiegt. Die ersten, die uns auf diesem Seeweg entgegenkommen und an Alaska erinnern sind zwei Schlepper, die jeweils ein Floß aus einer Menge Baumstämmen hinter sich herziehen. Auch Fischerboote tuckern vorbei und ein weißes Kreuzfahrtschiff steuert südwärts. Rechterhand begleitet uns die Westküste von, Admiralty Island, das im Osten und Norden von der Stephens Passage, im Süden vom Fredericks Sound begrenzt wird. Hügel, dichter Wald, kleine Sumpfgebiete und, oberhalb 600 Meter, alpine Tundra mit Felsnasen und Eisfeldern kennzeichnen das 3.822 Quadratkilometer umfassende Gebiet. Der Ort Angoon, an dessen Hintertür die Wildnis beginnt, wird größtenteils von einem Tlingit-Stamm bewohnt. Admiralty ist, zusammen mit Baranof und Chichagof, die dritte im Bunde der „A-B-C Inseln“, die gleichzeitig auch echtes Bärenland sind, und die Zahl ihrer Braunbären (der Grizzly ist eine Unterart) verführt die Insel dazu, sich der größten Braunbärendichte in der Welt zu rühmen. Genetisch sollen diese Vierbeiner mit keinem anderen Bär in der Welt übereinstimmen, und der Polarbär ihnen am nächsten kommen. Bei den Fressgewohnheiten gibt es allerdings keine Unterschiede. Beeren, Gräser, Lachse, Elch- und Hirschkälber, kleine Säugetieren, Vogeleier und Insekten, das alles steht auch auf ihrer Speisekarte.
Alaska hat etwa 30.000 Braunbären und damit rund 98 Prozent der Nordamerika-Population, die um das Jahr 1800 herum mit 100.000 beschrieben wurde. Als wesentlichste Unterschiede zu den schwarzen Vettern gelten ein größerer Körper, Schulterbuckel, längere Klauen und kleinere Ohren. Im Herbst, richtig fett geworden, können sie bis 700 Kilogramm auf die Waage bringen und messen, auf den Hinterbeinen aufgerichtet, mehr als 270 Zentimeter. Der Schwarzbär hingegen, Nordamerikas kleinster Bär, die Wälder bevorzugend und von schwarz über zimtfarben bis hin zum cremig-weißen Kermote Bär in Erscheinung tretend, ist schon mit 300 Kilogramm ein Koloss. Im Pack-Creek auf Admiralty Island kann man die Braunen im Sommer beobachten, mit einem Tour-Veranstalter oder auf eigene Faust. Für Letzteres ist jedoch ein Permit vom „Forest Service Information Center in Juneau“ notwendig. Die Ausstellung dieser Tickets für die vom 1. Juni bis zum 10. September laufende Saison beginnt ab 1. März, und der maximale Aufenthalt auf der Insel sind drei Tage. Wer in der besten Zeit (5.7. bis 25.8.) die Bären besuchen möchte muss, auch wegen der knappen Unterkünfte, zeitig reservieren und wissen, dass Poststempel oder E-Maildatum für eine Übersee-Antragstellung den 10., und örtliche Anträge den 20. Februar des jeweiligen Jahres nicht unterschreiten dürfen. In der Hauptsaison fallen dafür pro Tag und Person etwa 36 $ Gebühren an, Rentner und Jugendliche zahlen die Hälfte. Wer selbst organisiert braucht noch ein Wasserflugzeug. Diese Charters (privat oder Reisebüro), die ihre Gäste morgens zum Pack Creek fliegen und abends wieder abholen, kosten als dreisitzige Maschine und ab Juneau etwa 500 Dollar. Mit professionellen Vor-Ort-Veranstaltern oder Bootsdienst wird es billiger, doch hat man mit dem „Buschflieger“ einen kompletten Tag im Bärengebiet und ist unabhängig. Außerdem, im Seymur Canal, der größten Einbuchtung auf der Ostseite der Insel, in den auch der Pack Creek entwässert, ist eine der größten Konzentrationen an Weißkopf-Seeadlern von Südostalaska zu Hause, für die dann auch noch etwas Zeit übrig bleiben könnte.
Die letzte Stunde hatten wir einem Ranger gelauscht, dessen Vortrag „Welcome to Alaska“ recht interessant war, doch nun pfeift uns der Seewind wieder ins Gesicht. Wir gleiten vorüber an der nach Westen abzweigenden Icy Street – Futtergrund der Buckelwale, Seeweg nach Gustavus (Glacier Bay National Park) und, durch den Golf von Alaska, hinüber nach Whittier –, dann am weißen Leuchtturm von Point Retreat, der das Nordende von Admiralty Island markiert, und weiter nach Auke Bay, dem Fährterminal von Alaskas Hauptstadt Juneau. Doch lange bevor wir es erreichen, grüßt bereits aus der Ferne das Wahrzeichen der Provinzhauptstadt, der grünblau schimmernde 12 Kilometer lange Mendenhall Gletscher, dessen Eis links und rechts von Waldgürteln eingerahmt, und im Hintergrund von verschneiten Bergen bewacht wird. Vorn erweckt das Meer für einen Moment den optischen Eindruck, als würde es direkt bis an seine Abbruchkante reichen, doch sind es von der Anlegestelle bis zu ihm immerhin noch zwölf Meilen, und neunzehn bis zur Hauptstadt dieser nördlichen Provinz. Und zwischen allen drei Punkten breiten sich viel Wald und der Auke Lake aus.
Wir werden ihn natürlich noch erwandern, aber nicht heute, denn in einer knappen Stunde legt die Fähre schon wieder ab und wir reisen mit ihr bis ans Ende der Inside Passage. Auch die Stadt, die zu Füßen des Mount Roberts am Gastineau-Kanal liegt, wo die Luxusliner mitten in der Stadt festmachen, werden wir noch erleben. Es sollte nur noch etwas dauern, bis wir zum Gletscher marschieren, durch Juneau bummeln und ihre Drahtseilbahn nutzen können, um auch von oben auf dieses touristische Hauptziel mit 31.000 Einwohnern, Shopping-Meile, Boots-, Hundeschlitten- und Helikopter-Touren schauen zu können. Heute ahnten wir das natürlich noch nicht, aber schon drei Jahre später waren wir wieder auf dieser Schiffsroute unterwegs, in umgekehrter Richtung und auch mit Zeit für die Bären im Pack Creek und einige andere Ziele entlang dieses Wasserweges.
Gegründet wurde die heutige Hauptstadt Alaskas, die vorher den Namen Harrisburg trug, in den 1880er Jahren durch die Goldsucher Joe Juneau und Richard Harris, und das Edelmetall beschleunigte auch ihren Aufstieg, doch der eigentliche „Gründer“ war der Häuptling des Auke-Zweiges der Tlingit-Indianer, Chief Kowee, denn er war es, der Joe Juneau einige Nuggets von der Goldader im nahen Silver Bow Basin zeigte und damit den Goldrausch in Gang brachte. Anschließend förderten hier, zu einer Zeit, als die Unze mit zwanzig bis dreißig Dollar bezahlt wurde, drei der größten Minen der Welt Gold im Wert von insgesamt 158 Millionen Dollar. Als das Edelmetall den Aufwand nicht mehr lohnte, zog Joe Juneau 1897 weiter zum Klonike, starb dort 1903 in Dawson City und fand, wie Richard Harris, der 1907 in einem Sanatorium im amerikanischen Staat Oregon die Augen schloss, seine letzte Ruhe auf dem Evergreen Friedhof in Juneau. Dort findet sich am Eingang auch die Bronzeplakette, die an den eingeäscherten Häuptling Kowee erinnert. Er hatte am Reichtum keinen Anteil und verstarb in seinem Heim 1892.
Als wir Haines, vorletzte Station auf unserer Schiffsroute, gegen 19 Uhr 30 ansteuern, hat auch der Wettergott eingesehen, dass es nun endlich an der Zeit ist, seine bessere Seite zu zeigen. Und er tut das auch gleich mit aller Eleganz, holt die Sonne hervor und setzt das kleine Örtchen, das aus einer Missionsstation entstanden und nach deren Geldgeberin benannt worden ist, in bestes Fotolicht. Vor gewaltiger Bergkulisse liegend, deren verschneite Spitzen von der Sonne in goldgelbes Licht getaucht werden, bietet es vom Meer aus ein grandioses Panorama, das die grauen Regenstunden unterwegs schnell vergessen lässt und auf Kommendes so richtig einstimmt!
Haines, am nördlichen Ende des Lynn-Kanals auf einer schmalen Halbinsel zwischen den beiden Flüssen Chilkoot und Chilkat liegend, und das die Eingeborenen „Deishu“ (Ende des Trails) nannten, ist nicht nur ein wichtiges Tor zur Inside Passage, sondern auch zum Inneren Alaskas und dem Yukon. Der im Zweiten Weltkrieg erbaute, und sich über 254 Kilometer streckende Haines Highway, mit Anschluss an den Alaska Highway, hat damit für die moderne Geschichte eine ähnliche Bedeutung wie der uralte Handelspfad der Tlingit’s, dem er, ausgebaut und asphaltiert, folgt. Zu Haines gehört auch das Tal der Fischadler, in dem sich alljährlich, vom späten Oktober bis Mitte Dezember, etwa 3.500 dieser majestätischen Vögel einfinden, weil der Tisch vor dem harten Winter nochmals reichlich gedeckt wird, wenn mehr als 70.000 Chum-Lachse in ihre Laichgewässer ziehen. Vögel und Lachse sind dann aber keineswegs unter sich, weil am Rande der „Alaska Bald Eagle Reserve“ dann auch Hunderte von Fotographen aus aller Welt warten, um mit riesigen Objektiven Karriere-Fotos zu schießen. Haines, an Nordamerikas längstem Fjord gelegen, umgeben von spektakulären Gipfeln, Gletschern, Seen und Flüssen, Wildtieren und Wiesenhängen voller bunter Wildblumen, ist sicherlich ein Fleckchen Erde, wie man sich Alaska im fernen Europa vorträumt. Zusätzlich befindet sich auch der berühmte Glacier Bay National Park ganz in der Nähe, den nur die Fairweather/St. Elias Mountain Range von dem sympathischen Ort trennt, die zu den höchsten Küstengebirgen der Welt zählt. Und diese Wildnis aus Wasser, Fels, Eis und dichtem Wald ist ein weiteres Reiseziel, das Sehnsucht weckt. Die Gezeitengletscher haben sich dort zwar so schnell zurückgezogen wie nirgendwo in der Welt, doch zeigen sich immer noch Eisgiganten, die das Meer aus drei Meilen Höhe erreichen. Solche wie der „Margerie Gletscher“, der seine kalte Fracht vom 4.671 Meter hohen Mount Fairweather zu Tal schiebt, oder der „Grand Pacific“, ein anderer Star dieser Bucht, der sich am schnellsten zurückzog. Als Georg Vancouver 1794 hier vorbeikam, blockierte der weise Koloss noch die „Icy Street“, war 85 Jahre später schon 48 Meilen von ihr entfernt und hatte sich 1916 um siebzehn weitere zurückgezogen. Damit war die Glacier Bay von heute eisfrei und nicht mehr das, was Vancouver sah und notierte:
„Ein kompakter Berg aus Eis bis zum Wasserrand, zwanzig Meilen breit und 4.000 Fuß dick …“ Dieser „Berg voller Eis“ ist heute nur noch ein Monument. Es ist der größte Nationalpark in Südost-Alaska, der Welt größter Marinepark und Weltkulturerbe. Diese 1,3 Millionen Hektar eisige Wildnis voller Schönheit vereint 12 Gezeitenwasser-, 30 alpine und wenigstens ein Dutzend weitere namenlose Gletscher, die aus den Saint Elias Bergen in die beiden Arme der Glacier Bay fließen. Das Eis, das sich am Mount Fairweather auftürmt, der an der Grenze zu Alaska aber noch zu British Columbia gehört, stürzt pro Meile etwa 300 Meter nach unten, wo der Margerie Gletscher 25 Stockwerke hohe Eisbrocken in die Bucht kalbt. Der Ausflug in diesen Park, mit Schiff oder Buschpilot, ist gleichzeitig auch eine Reise durch zwei Jahrhunderte. Eine vielfältige Vogelwelt bevölkert hier die Felsen, an den Ufern schlendern Bären entlang und die lautlos auftauchenden Wale hinterlassen den Eindruck, als ginge es ihnen um einen flüchtigen Blick auf die Welt oberhalb ihres Lebens. In Wirklichkeit sind sie nur hier um zu fressen, nachdem sie in Hawaiis Gewässern ihre Jungen gebaren und eine langen Reise hinter sich haben. Und es ist hier in der Icy Street, wo der Naturliebhaber am ehesten das große Glück haben kann, sie beim gemeinsamen fischen zu erleben. In der Tiefe unterhalb eines Fischschwarmes kreisförmig versammelt, lassen diese gewaltigen Meeressäuger Luftblasen aufsteigen, um anschließend die Panik der Fische zu nutzen und mit weit geöffneten Mäulern senkrecht nach oben zu schießen, wo der eingekreiste Schwarm wie in großen Trichtern verschwindet.
Der Glacier Bay Nationalpark ist ein majestätischer, mystischer Ort und Gustavus dafür der Ausgangspunkt. Wir werden ihn auf unserer Reise nicht erleben, aber ich glaube schon, dass wir das noch irgendwann nachholen. Heute können wir uns von diesem riesigen Land noch gar kein Urteil erlauben, denn unterwegs gab das Wetter von Alaskas Kulisse nur wenig frei, und unser wirkliches Abenteuer beginnt erst, wenn wir dieses Schiff verlassen. Andererseits habe ich das Gefühl, dass es uns schon längst „gepackt“ hat. Warten wir ab ob es wirklich so wird, wie es das Gefühl verspricht: Die große Freiheit auf vier oder sechs Rädern inmitten einer gigantischen Landschaft, in der einhundert Kilometer gleich um die Ecke bedeuten? Ich denke schon …
Kurz nach 21 Uhr legt unsere Fähre in Haines auch schon wieder ab und eine gute Stunde später stehen wir mit beiden Füßen im Hafen einer Stadt, deren Keimzelle ein einziges Blockhaus eines weißen Siedlers war, in Skagway. Die Hütte gehörte William Moore, der zusammen mit dem Indianer Skookum Jim Mason die Route über den White Pass etablierte, als 1897 die Kunde vom „Gold im Yukon“ ihren Lauf nahm und Tausende Schürfer, Unternehmungslustige, Risikobereite und Gauner die Inside Passage herauf kamen, um den Weg nach Dawson, tief im kanadischen Yukon, fortzusetzen. Sie alle mussten sich über den Chilkoot- oder White Pass quälen, und so mancher „Miner“ bis zu fünfunddreißigmal. Erst dann hatten er, seine Ausrüstung und Habseligkeiten die erste Klippe gemeistert. Doch bevor sie sich auf den qualvollen Weg machten wurden sie mit einer „Stadt“ konfrontiert, die innerhalb weniger Monate zwanzigtausend Goldsucher zum Ziel hatten. Hier und im benachbarten Dyea, das auf dem Land eines indianischen Dorfes entstand, wuchsen urplötzlich Zelte, Hütten und Holzhäuser empor, die aus dem Nichts zwei Städte mit unglaublicher Geschäftigkeit entstehen ließen. Mitten drinnen auch achtzig Saloons, grell geschminkte Damen, Spieler, Betrüger, Gauner jeder Art und die flinken Finger der Diebe. Berüchtigt war damals ganz besonders Jefferson R. „Soapy“ Smith. Mit seiner erbarmungslosen Gang erpresste er Schutzgelder, kontrollierte etwa 200 Ganoven und kassierte für Telegramme, obwohl gar keine Telegrafenleitung existierte. Der heutige Tourist findet sein Grab auf dem „Goldrush Grave Yard“ in der Nähe der Stadt und kann auch sein Ende, eine Schießerei vom 8.7.1898 nacherleben, in der abendlichen Show „The Days of ’98“, die die Eagles Hall präsentiert. Außerdem: An jedem 8. Juli wird zu Skagway auch der „Soapy Smith’s Wake“ zelebriert. Die Erinnerung an jene wilden Tage wird auch in einem Teil des Stadtzentrums als „Klondyke Gold Rush National Historical Park“ weitergelebt und die vergangene Zeit angehalten. Was sonst noch für die Stadt wichtig ist, darüber informiert eine Broschüre des Visitor Centers: „Skageway hat fünf Kirchen, eine Bibliothek, eine Bank, und neben B&B decken die 382 Hotel- und Motel-Zimmer in 12 Unterkünften von modern bis historisch alles ab. In der 12-klassige Schule mit 17 Klassen-Zimmern unterrichten 12 Lehrern und ein Direktor durchschnittlich 125 Schüler; The Skagway News erscheint zweimal wöchentlich, eine Mittel- und Kurzwellenstation stellt der Nachbarort Haines bereit und die Fernsehversorgung stellt das ARC System sicher. Der Kabelserve mit 14 weiteren Programmen kostet monatlich 46.84 $ zusätzlich. Zwei Parks, ein Spielplatz, Museum, Bowlingbahn, Zelt- und Wohnmobilplätze ergänzen Freizeitmöglichkeiten wie wandern, angeln, campen oder Ski und Snowmobil im Winter.“ Soweit das kleine Faltblatt im Jahr 2000, in dem mindestens 600.000 Besucher erwartet wurden. Für einen Rundgang ist eher die Rückseite des Faltblattes interessant, denn dort ist unter der Überschrift „Skagway, Gateway to the Klondyke“ die schachbrettartige Stadt fein säuberlich skizziert. Rechts liegen die Dogs, links verlässt der Klondyke Highway das Städtchen in Richtung Carcross, während der Skagway River die Skizze im Vordergrund begrenzt. Parallel dahinter der Airstrip, der in Alaska nicht fehlen darf. 23 Avenues kreuzen vier Parallelstraßen rechtwinklig, wobei aus der dritten, der State-Street, der Klondyke Highway hervorgeht und die Eisenbahn am oberen Rand den Stadtplan abschließt.
Unser Hotel, das Westmark-Inn, liegt in der Nähe der Ferry-Dogs, 3rd Ave/Broadway Street, und für fünf Taxidollar ist die Entfernung in wenigen Minuten überbrückt. Seine vier Sterne stehen für eine solide und saubere Herberge mit geräumigem Zimmer und Bad, TV, Radio und Mini-Bar. Mit einem Burbon aus ihrem Inneren stoßen wir auf das Ende unserer erste Etappe an und stiefeln dann sofort ins Zentrum, um einen Überblick zu gewinnen. Kurz vor Mitternacht lassen wir uns noch im hellrot gestrichenem „Mascot-Saloon“ nieder, denn ein Bier in einem solchen ist hier schlichtweg ein Muss. In der alten Zeit soll er einer der übelsten gewesen sein, doch scheint die rustikale, gut besuchte Einkehr, in der Country-Musiker für Stimmung sorgen, auch heute noch sehr beliebt zu sein. Verständlich, dass auch wir schnell Kontakt finden und uns nach dem zweiten Bier aus dieser lustige Runde gar nicht so gern verabschieden. Wir müssen aber unbedingt ins Bett, denn morgen früh 8 Uhr startet unser Zug nach Whitehorse, und vorher möchten wir den Ort noch kurz bei Tageslicht erkunden.
Vom Hotel bis zum Broadway sind es am nächsten Morgen nur wenige Schritte, und damit sind wir auch schon im Freilichtmuseum der Goldrauschzeit, dem denkmalgeschützten Teil, angekommen. Inmitten geschichtsträchtiger Gebäude, falscher Fassaden und Holzstege lässt sich jene alte Zeit schon ein wenig erahnen, doch ist das Überleben dieser Atmosphäre auch der Tatsache zu danken, dass die Stadt von den Feuern verschont blieb, die so viele andere Orte jener Zeit ganz oder teilweise vernichteten. Schwerer vorstellbar allerdings, dass Skagway damals die größte Stadt Alaskas war und eine Gruppe britischer Finanziers in der Erschließung des Yukons schon recht früh eine lukrative Zukunft voraussah, und im Juli 1898 mit der Konstruktion einer Schmalspurbahn über den White Pass begann. Zwei Jahre später war der Schienenstrang bis Whitehorse gelegt, das regionale Dampfschiffsystem angebunden und von der White Pass Corporation ein Transportnetz auf den Weg gebracht, das noch heute existiert. Während des Goldrausches boomte Skagway, und dank seines eisfreien Hafens zusätzlich auch als Warenumschlagsplatz und Tor zum Landesinneren. 1899, als sich die Goldgier nach Nome verlagerte, erschlaffte die Stadt, und während der Jahrhundertwende wurden viele Geschäfte aus den Straßen an den Broadway verlagert, auf dem damals auch die Gleise der Eisenbahn durch den Ort zogen. Skagway hatte begonnen, sich in seiner weniger dramatischen Rolle als Hafenstadt für den Yukon zu etablieren. Während des Zweiten Weltkrieges verschaffte der Bau des Alaska Highways dem Ort neue Impulse, denn das ankommende Baumaterial musste von den Schiffen auf die Eisenbahn umgeladen und transportiert werden. Beide Transportmittel lassen auch heute noch die Kassen klingeln, wenn die großen Kreuzfahrtschiffe Touristen aus aller Welt für einen Kurzbesuch anlanden. Viel kürzer, als die der betuchten Weltenbummler war auch unsere Visite in dieser Stadt nicht, doch haben wir dennoch in der berühmten und beliebten Kneipe „Red Onion Salon“, die zu Goldgräberzeiten das exklusivste Bordell der Stadt gewesen ist, noch einmal kräftig bei Lifemusik gefeiert: Drei Jahre später, am Vorabend des amerikanischen Unabhängigkeitstages.
Unsere per Internet bestellten Tickets nach Whitehorse hat der Schaffner im Bahnhof sehr schnell zur Hand. Name und Land genügen, und schon liegt der 190 $ teure Umschlag auf dem Tresen. In der Bahnhofshalle rattert auf schmalem Sims die „White Pass & Yukon Rail“ im Miniformat, und die Bänke haben „Räder“ statt Beine. Aber so bequem, wie wir die Hauptstadt des Yukons heute erreichen können, so schwierig war es damals für jene, die noch vor der Eisenbahn ankamen und sich im Winter mit ihrer Ausrüstung über die Berge quälen mussten. Zwei Trails standen dafür zur Auswahl. Der längere, aber weniger steile über den White Pass, oder der Chilkoot. Mörderisch waren sie beide. Als jedoch das erste Gleisstück bis zum Bennett Lake, einem der Quellseen des Yukon Rivers, seinen Dienst aufnahm, hatten beide Trails und auch Dyea ausgedient, und der letzte Nagel, der am 29.7.1900 zu Carcross eingeschlagen wurde, verband Skagway auch mit Whitehorse. Es war eine Meisterleistung der Ingenieure und des Eisenbahnbaus, denn diese Linie galt vorher als unrealisierbar.
Innerhalb von 26 Monaten hatten zehntausend Männer und 450 Tonnen Sprengstoff das Gleisbett aus den Küstengebirgen herausgesprengt, sich gegen Geographie und härteste Klimaverhältnisse aufgebäumt und den „Railway build of gold“ kreiert. Steigungen bis zu 9,3 Prozent, Kurven, die sich mit 16 Grad Biegung an überhängende Klippen krallten, zwei Tunnel und mehrere, über Bockgerüste führende Brücken gehörten dazu wie die stählerne Auslegerbrücke, die bei ihrem Bau 1901 die höchste ihrer Art in der Welt war. Es war eine Leistung, die ein ähnliches internationales Ansehen errang wie der Panamakanal, der Eifelturm oder die Freiheitsstatue. Heute schnauft die Eisenbahn für den Tourismus wieder über den White Pass (1.003 Meter). Täglich bis nach Fraser, und von Mitte Juni bis Ende August samstags auch auf einer 130 Kilometer-Rundtour bis zum Bennett Lake, dem Ende des Chilkoot Trails. Mit Lunchpaket, geführter Tour und gezogen von der 1947 gebauten Baldwin-Dampflock Nummer 73.