Читать книгу 100.000 km zwischen Anchorage, Neufundland, dem Pazifik und New Mexico - Teil 3 - Erhard Heckmann - Страница 7
Tracy Arm und Russisch Alaska
ОглавлениеDer Bus der White Pass & Yukon Route startete auf die Minute genau um 8 Uhr und brachte uns mit Gepäck für 74 Dollar nach Skagway. Genauer gesagt bis Frazer, denn dort wird der Pass kontrolliert und auf die Eisenbahn umgestiegen. Die allerletzten Kilometer im Ort überbrückt der kostenlose Van der kleinen Gold Rush Lodge, deren roter Holzbau einfach wirkt, sich aber als ordentlich und sauber erweist, und dessen Besitzer an viele kleine Annehmlichkeiten gedacht hat. Skagway ist für uns, wie auch morgen Juneau, nur kurze Zwischenstation. Das eigentliche Ziel an der Inside Passage heißt Prince Ruppert, und dorthin wird uns die „Taku“ bringen. Dieses Schiff haben wir ganz bewusst gewählt, denn es ist das einzige der Flotte, das derzeit Sitka – das ehemalige Paris des Nordens – am Tage anläuft. Während in Juneau noch eine Tour in den Tracy Arm ansteht, werden wir uns heute in Skagway nur unters Volk mischen und den Unabhängigkeitstag mit all denen feiern, die das auch tun. Und dazu ist der „Red Onion Saloon“ die richtige Destination; historisch, urig, und die Band mit Sängerin mischt ordentlich auf. Auf die Preise wirkt sich dieser Service aber nicht aus, denn für zwei Portionen Chilibohnen und sechs große dunkle Bier standen am Ende ganze neun Dollar auf der Rechnung, und das sind momentan weniger als fünfeinhalb Euro. Rechnerisch kann das eigentlich nicht stimmen, doch listet die Getränkekarte nur die Biersorten auf, aber keine Preise. Da bleibt also nur anzunehmen, dass es heute Freibier gibt, und lediglich die Bohnen zu bezahlen waren. Mysteriös ging es hinter diesen alten Holzwänden aber schon immer zu, und der Grund, weswegen der Red Onion Saloon heute als „National Historic Building“ geführt wird, ist dann auch eher ein schmunzelnder: 1897 aus Planken gebaut, die Skagways Gründer Capt.William Moore im Wald selbst geschlagen hatte, entwickelte sich das ein Jahr später eröffnete „Business“ zum exklusivsten Bordell des Ortes. Während im Parterre Alkohol ausgeschenkt wurde, hatten die zehn kleinen Räume der zweiten Etage neben drei Ausgängen – zwei davon in das jeweilige Nebenzimmer – auch je eine Kupferrohrverbindung vom Fußboden des Zimmers zum „Cash Register“ an der Bar, wo jeweils eine Puppe pro Zimmer signalisierte, welche der Damen Besuch hatte oder nicht. Wenn das Geschäft blühte, legte der Mann hinter dem Tresen die Figur solange auf den Rücken, bis das Geld durch das Kupferrohr an der Bar angekommen war und dem Minipüppchen wieder auf die Beine verhalf. Die Sicherheit des Honorars, üblicherweise fünf Dollar in Gold, garantierte der Barkeeper, der es solange verwahrte, bis Birdie Ash, Big Dessie, Popcorn Lil, The Oregon Mare, Babe Davenport, Pea Hull Annie, Kitty Faith, The Bell of Skagway – auch die berühmte Klondike Kate soll dabei gewesen sein – ihre Münze abholten. Als das Geschäft 1899 zu stagnieren begann, zogen die meisten der Damen nach Norden, wo sie in Dawson den Goldfeldern wesentlich näher waren und Casinos, Spiel- und Tanzhallen von erheblichem Aufwind beflügelt wurden. Der Red Onion Saloon selbst veränderte sich auch, denn die Eisenbahn begann das Geschäft in Skagway zu bestimmen, und viele der Geschäfte rückten nun näher an die Station heran. Auch der „Red Onion“, für den ein einziges Pferd genügt haben soll, um die Konstruktion von der 6th- / State Street zum heutigen Broadway-Standplatz zu ziehen, machte den Transport mit. Unglücklicherweise soll das um die letzte Ecke herum rückwärts erfolgt sein, so dass Front- und Rückseite demontiert und umgetauscht werden mussten, damit vorn wieder vorn war und nicht hinten. Zur Zeit des Zweiten Weltkrieges diente das Gebäude unterschiedlichen Zwecken. Es war Wäscherei, Bäckerei, Armeebaracke, Fernsehstation und Souvenir-Laden. Erst als Jan Warentmore 1980 eine „Liqueur-Licence“ erwarb, eröffnete es wieder als Saloon, in dem heute kaum ein Platz zu bekommen war. Immerhin ist uns nun auch das „Frontcover“ der Speisekarte klar, dass eine flotte Dame durch eine Sprechblase lächelnd sagen lässt: „ So you thought I was the only dish at the Red Onion Saloon“ …
Eine Institution war auch das „Pullen House“, das für ein halbes Jahrhundert den Ruf genoss, das beste Hotel in Alaska zu sein. Verdankt hat es diesen der unermüdlichen Harriett Pullen. Die vierfache Mutter kam im September 1897 nach Skagway, arbeitete im Zeltrestaurant und formte an den ersten Tagen Büchsen zu Pfannen, um darin „Dried Apple-Pie“ zu backen. Der Apfelkuchen schlug ein, sie holte ihre Kinder nach und ging mit deren Hilfe ins Horse-packing Geschäft. Auch damit verdiente sie gut, kaufte Captain William Moore’s großes Heim und änderte es in ein Hotel um, das sie fünfzig Jahre lang führte. Der Frau, die sich als Witwe ausgab und 1947 zu Skagway starb, hatte durch Courage und harte Arbeit sich sehr schnell Respekt und Ansehen verschafft, und überall dort, wo ihr Markenzeichen, der bespannte Landauer anhielt, öffneten sich ihr die Türen. Sie kaufte zu Dea die „Historic Townside“, hielt Milchkühe, schützte die Gold Rush Struktur und führte Gäste auf Touren nach dort. 1970 verkauften ihre Nachfahren diesen Besitz an den National Park Service, womit das Erbe dieser tapferen Frau in die richtigen Hände weitergegeben wurde.
Skagway, Alaska –Anfang oder Ende der Inside Passage
Clever und fleißig war auch ein anderer Pionier: G. Brackett baute 1897 mit 250 bis 300 Arbeitern – Unqualifizierte verdienten am Tag 2.50 Dollar, Zimmerleute einen mehr – unterhalb der heutigen Eisenbahnschienen eine Wagenstraße, die bis zum White Pass führen sollte. Als sein Geld ein Jahr später alle war und die Eisenbahn Interesse zeigte, verkaufte er seine Straße für 100.000 Dollar. Danach hatten britische Geldgeber innerhalb von 26 Monaten den Wandel des Transportsystems vom primitiven Trail zur Moderne des 19. Jahrhunderts ermöglicht und J.Heney mit 2.000 Arbeitern in Handarbeit am 29.7.1900 umgesetzt, was er den Investoren vorher versprochen hatte: „ Geben Sie mir genug Geld und Dynamit, und ich baue auch eine Straße zur Hölle“. Heute ist Skagway einer der am meisten besuchten Orte der Welt. Sein alter Ortsteil vermittelt einen Hauch Goldgräberzeit und steht als „Klondike Goldrush National Historical Park“ unter Denkmalschutz. Und das Städtchen verbindet auch den Alaska Highway mit Südostalaska, denn es ist nördlichste Endstation der weltberühmten Inside Passage, und somit ein Bindeglied zwischen der Pionierzeit und dem 21.Jahrhundert.
Am nächsten Morgen fährt uns der Hotelbus zum Schiff, und dort bringen wir sofort unsere Koffer unter Verschluss, um uns während der etwa sechs Stunden bis Juneau frei bewegen zu können. Die meiste Zeit verbringen wir draußen an der Reling, lauschen zwischendurch aber auch einem Rancher, der in der Lounge seinen Gästen allerlei Interessantes erzählt. So auch, dass sich Mountain Goats von Dall Schafen – deren zirkuläres Horn 8 Jahre bis zur vollen Entwicklung benötigt – dadurch unterscheiden, dass ihre Haare länger, die Brust tiefer und die Hörner schwarz sind; ein Weißkopfseeadler erst mit sieben Jahren seine volle Federpracht entwickelt hat; Wölfe eine komplexe, soziale Hierarchie haben; Karibus mit 3.000 Meilen pro Jahr mehr wandern als jedes andere Landtier; Moschusochsen Mitte der 1800er Jahre fast ausgerottet waren und fast alle, der heute in Alaska lebenden 2.000 Tiere, auf 34 Exemplare zurückgehen, die zur Erhaltung der Art von Grönland eingeführt worden waren; Stachelschweine in Nordamerika seit 3 Millionen Jahren leben; ein Elchgeweih jährlich abgeworfen wird und bis zu 50 Pfund wiegt; Seeotter das dichteste und weichste Fell aller Säugetiere besitzen; ein Grizzly 900 Kilo wiegen kann; Kodiak Amerikas größte Insel vor Hawaii ist; Schamanen als Mittler zwischen Menschen und Göttern gelten, und Tlingit-Indianer nach der Hochzeit zur Sippe der Frau, nicht zum Clan des Mannes ziehen. Und der Ranger weiß auch, weshalb der Chilkat River im Bereich des Adlerschutzgebietes nicht zufriert: Der Flussboden ist felsig, das Gletscherwasser hat ihn über Millionen Jahre ausgewaschen und viele tiefe Stellen geschaffen, die das Wasser beruhigen und am Fels wieder hochtreiben. Zurückkommend in tieferes Gewässer ist es wärmer und verhindert die Eisbildung. Und das wissen neben dem Ranger auch die Lachse, Adler und neuerdings auch wir. Kurz bevor unsere Fähre vor der Nordspitze des Admiralty Islands einen Linksschwenk macht, um die Auke Bay anzusteuern, begleitet steuerbords ein Buckelwal unsere Fähre, die in den vergangenen Stunden durch wunderschöne Natur fuhr, mit Bergketten, weiß betupft, grün umhüllt oder felsig und von unterschiedlichen Farben geprägt. Zwischen Gletschern und Wasserfällen zeigten sich kleine und große Täler, Wald und grüne Uferstreifen. Und als das Schiff eindreht, taucht auch der Wal nochmals auf und bläst seine Atemluft als Fontänen mehrmals Richtung Himmel, während sein Rücken das ruhige Wasser ganz gemächlich durchpflügt. Dann wölbt der mächtige Säuger plötzlich den Rücken und zeigt seinen Reisepass: Für Bruchteile von Sekunden steht die mächtige Schwanzflosse, so einmalig wie ein Fingerabdruck, in voller Größe senkrecht über dem Wasser, lässt die Auslöser klicken und verschwindet Augenblicke später wieder in der Tiefe.
In Juneau holt uns der kostenlose Zubringerbus der Driftwood Lodge, unser Stadthotel für zwei Nächte, von der Auke Bay ab, denn das gehört zum Service. Der Rest des Tages verläuft ohne Programm, zum Teil aber wieder in einem „berühmten“ Saloon, dem „Red Dog“, denn auch ihn kann kein Tourist auslassen. Mit Sägespänen auf dem Fußboden, ordentlicher Lifemusik, Bieren wie Saloon Amber oder King’s Ale und Drinks, die unter den Namen „Cheap Shit (pretty good staff)“, „Regular Shit“, „Expensive Shit“ und „Realley Expensive Shit“ angeboten werden und zwischen fünf und sieben Dollar kosten, lässt sich schon erahnen, dass auch hier die raue Vergangenheit mitschwingt. Tanz und Unterhaltung soll der Saloon schon zu Juneaus „glorious mining heydays“ geboten haben, als „Ragtime Hattie“ mit weißen Handschuhen am Piano für Stimmung sorgte, oder Gordie Kanouse mit seinem Maultier an der Bootsanlegestelle stand und die ankommenden Besucher mit einem Schild an seinem Vierbeiner aufforderte „follow my ass to the Red Dog Saloon“. In den zeitigen Siebzigern des letzten Jahrhunderts kaufte die Harris-Familie das Gebäude und erweiterte es um eine dritte Etage, doch ist „der Laden“ viel weniger historisch, als er vorgibt zu sein. Originell ist dieser Country-Pup aber auf jeden Fall, und gejubelt und getanzt wird dort auch heute noch recht ordentlich. Größtenteils sind es Kreuzfahrt-Touristen, die ihre Shopping-Tour hinter sich haben und noch ein paar Stunden feiern möchten, ehe ihr elegantes Schiff wieder zur Rückkehr und Etikette auffordert. Der Saloon ist randvoll, doch finden wir Platz am Tisch zweier Schwestern, deren Mutter auf dem Schiff geblieben war. Der Grund für die Kreuzfahrt war Christin, die in Australien lebt, nach langen Jahren erstmals wieder in ihre kanadische Heimat gekommen war, um Schwester und Eltern in Vancouver zu besuchen. Es waren zwei lustige Erdenbürger, und als wir uns nach einigen Stunden Spaß und guter Laune von den etwa Vierzigjährigen mit dem üblichen „have a nice time and hope to see you again“ verabschieden, hatten wir auch die Adressen getauscht und uns gegenseitig eingeladen. Realisierbar ist das durchaus, denn Anne wohnt in Vancouver und Chris in Melbourne, Städte, in denen wir sicherlich erneut landen werden.
Tags darauf heißt unser Programm „Tracy Arm“. Um diesen Fjord aus den Küstengebirgen heraus zu hobeln brauchten Gletscher zweieinhalb Millionen Jahre, und was sie nach ihrem Rückzug siebzig Kilometer südlich von Juneau geschaffen hatten, war meisterhafte Arbeit: Vierzig Kilometer lang, 400 m tief und an beiden Seiten von bis zu eintausend Meter steilen Felswänden begrenzt, von denen Wasserfälle von Kante zu Kante über die Klippen springen. Am Ende des Tracy Arms setzt die 250 Meter hohe doppelzüngige Eiskante des Sawyer Gletschers eine endgültige Barriere, während der südliche Bruder, der mehr als eine halbe Meile bedeckt, fast immer kalbt und die zu Eis gefrorene Vergangenheit krachend in sich zusammenstürzen lässt. Eisig kalt, weiß bis mittelblau leuchtend und abweisend richtet sich die Abbruchkante des Gletschers auf. Davor schaukeln und treiben ungezählte Bruchstücke im Wasser, deren Tage gezählt sind und auf denen sich Hunderte von Harbour Seals wohlfühlen. Dieser, im Tongas National Forest an der Stephens Passage – einer Meerenge im Alexanderarchipel – liegende Tracy Arm wurde 1980, gemeinsam mit seinem parallelem Nachbar Endicott Arm und 2.640 Quadratkilometer Umgebung, zur „Tracy Arm-Fjords Wilderness Area“ erklärt, womit ihm die höchste Stufe amerikanischen Naturschutzes zuerkannt wurde.
Unterwegs nimmt unser Skipper auf der fast zehnstündigen Tour alles mit, was sich anbietet. Er fährt haarscharf an Wasserfälle heran, steuert zum Rand, wenn er dort Bergziegen oder Bären entdeckt, die auf dem Schwemmlandstreifen unterhalb der steilen Granitwände nach Muscheln suchen, stoppt unter Adlerhorsten oder nähert sich vorsichtig Robben und anderen Fotomotiven. An die beiden Gletscher schippert Steve Weber – auf seiner Brücke darf man Platz nehmen – seine 17 Meter lange „Adventure Bound“ nur so nahe heran, wie es die Sicherheit erlaubt. „Im Ziel“ schaltet der Steuermann dann die 625 PS-Motoren für eine Weile ab, damit seine Gäste dieses Stück Natur in aller Stille bestaunen können. Der Blick auf die beiden Gletscher ist ein großartiger und das Kalben wohl immer ein Erlebnis. Es beginnt mit Knistern und Knacken in der Wand des bläulich leuchtenden, zerklüfteten Eises, und wenn es wie Kanonendonner gewaltig knallt, dann hat sich bereits ein haushoher, zitternder Koloss von ihr abgelöst, reißt und platzt auseinander, in große und kleine Säulen, Platten oder kantige Gebilde. Diese ganze Masse fällt schließlich in sich zusammen und stürzt mit ungeheurer Wucht ins das grüne Wasser, das gewaltig und druckvoll nach oben ausweicht, an Kraft verliert und weiß schäumend wieder aufklatscht. Die Druckwellen, die sich schnell ausbreiten, lassen auch unser Schiff, auf dem die Motoren bereits wieder arbeiten, ordentlich schaukeln und spüren, wie viel Kraft in ihnen steckt. Mit dem Glacier Bay National Park steht dieser Fjord natürlich nicht auf gleicher Höhe, aber ein schlechter Ersatz ist er keinesfalls, sondern ein wunderschönes Erlebnis, das im Vergleich äußerst preiswert ist und auf das man in Juneau, neben den Bären auf Admiralty Island, keinesfalls verzichten sollte. Der Glacier Bay National Park, mit mehreren Gletschern, Regenwald mit riesigen Fichten, Wanderwegen, zahlreichen Tieren und von Gustavus aus zu erreichen, ist wesentlich größer und vielfältiger. Mit Standort Gustavus lässt sich auch gleichzeitig das grandiose Schauspiel in der Icy Strret ansteuern, wenn die Wale – die richtige Jahreszeit und etwas Glück vorausgesetzt – beim gemeinsamen Heringsfang mit offenen Mäulern aus dem Wasser schießen. Andererseits lässt sich der „Glacier“ auch mit einem Buschflugzeug ab Haines erkunden, und das kostet einen Bruchteil an Zeit und Geld dessen, was für eine Tour mit Standort Gustavus (sehr schöne Lodge) ab Juneau verlangt wird.
Für uns wird es auch Zeit, uns vom lustigen Leben in „Little San Francisco of the North“ zu verabschieden und die Lodge anzusteuern. Das „Wake-Up Call“ wird uns viertel nach ein Uhr schon wieder wecken, um rechtzeitig auf der Taku zu sein, die um vier Uhr morgens in Auke Bay ausläuft. Juneau kennen wir sehr gut, und deshalb fällt der Abschied von diesem hübschen 3.000-Einwohner-Ort, zu dem keine Straßen führen, auch nicht schwer. Wir haben hier schon alles abmarschiert, die viktorianischen und historischen Häuser oder die achteckige Kirche, die in Sibirien gebaut und 1894 hier wieder zusammengesetzt wurde. Wir kennen auch jene Straßen, die für Autos zu steil sind oder an Treppenstufen enden und haben seinen Gletscher wie den Hausberg Mt.Roberts besucht, zu dem sich die gleichnamige Seilbahn müht. Juneau hat vor der Haustür auch den schmalen Gastineau Channel mit den Kreuzfahrtschiffen fast im Zentrum, Elche in den Wäldern, 80 Kilometer Wanderwege, auf Admiralty Island die weltbekannten Bären und im Sommer, wenn Touristen aus aller Welt hier unterwegs sind, lockt das Eisfeld auch mit Hundeschlittenfahrten und Helikopterflügen auf das eiskalte Dach von Alaskas Hauptstadt. Gold legte einst den Grundstein. 1963 stieß das Alaska Marine Highway System die Tür in ein neues Zeitalter auf. Als das Öl 1977 durch die Trans-Alaska-Pipeline floss, wurde die Staatskasse gefüllt. Schließlich konnte die Steuerstruktur reformiert werden, und das Alaska Native Land Claims Gesetz zahlte den Eingeborenen fast eine Milliarde Dollar und gab ihnen 44 Millionen Acker Land zurück. In Juneau wurde die Nugget Mall eröffnet, der Egan Drive gebaut und das Mendenhall Valley entwickelt. Der Büro- und Hausbau boomte, das lokale Geschäft wuchs und internationale Handelsketten zogen ein. Ab 1990 hatten auch die Touristen die Stadt am Wasser entdeckt, und seit 2000 bringen Fähren und Kreuzfahrt-Luxusliner jährlich mindestens 600.000 davon auch nach Juneau. Eine einzige Sache müssen wir auf dem Weg zur Lodge aber doch noch erledigen: Einer Institution Adieu zu sagen, die, in Bronze gegossen, noch immer die Luxusliner an den Juneau Docks begrüßt, „Patsy Ann“. Der Terrier, der im Alter von 14 Jahren an Rheuma und Übergewicht starb, war der Liebling der Einheimischen. Sie fütterten ihn mit allem was es gab, und die Zeitungen druckten viele Geschichten über diesen Hund. Von den 1930er Jahren bis zu ihrem Tod 1942 hat die Hündin alle Schiffe begrüßt, die anlegten. Fuhren sie vorbei, soll sie nachgeschwommen sein, um ihr Ritual dennoch zu vollziehen. Auch im Dog hat sie sich angeblich niemals geirrt, höchstens die Menschen. Notfalls wartete Patzy Ann auch ganz allein, aber eben dort, wo das Schiff wirklich anlegte. Und vor dieser Legende, die in Juneau noch immer „lebendig“ ist, wollten wir ganz bewusst einen Augenblick verweilen.
Nach unserer kurzen Nacht gab’s gleich richtig Ärger, denn der Fahrer des Hotelbusses war zum Dienst nicht erschienen, das Ersatz-Taxi viel zu klein, und als endlich der gerufene Kleintransporter eintraf schlief ein dreimal von seiner Familie geweckter Sechszehnjähriger noch immer. Glücklicherweise war der Fahrer ein handfester Typ, der das „Please- Wait-Gejammere“ abwinkte und mit den übrigen Gästen Gas gab. Somit waren wir, wie später auch die Fähre, absolut pünktlich, und während sie in einen wunderschönen Morgen startet, richten wir uns in der Kabine 24 B ein. Neun Stunden bis Sitka, 30 bis Prince Ruppert wird das 107 Meter lange und 23 Meter breite Motorschiff brauchen, um 2.624 Tonnen Gesamtlast – 370 Personen und 420 Fahrzeuge inklusive – an sein Ziel zu bringen. Getrieben wird die in Seattle gebaute und 1963 in Dienst gestellte Taku von zwei 4.000 PS starken Mak-Dieselaggregaten. Die Fähre, die 18 Jahre später renoviert wurde, ist eins von neun Schiffen, die das Alaska Marine Highway System auf seiner 3.500 Meilen-Route im Dienst hat, um 33 Häfen anzulaufen. Was 1963 mit der kleinen M/V Chilkat zwischen Skagway / Haines und Prince Ruppert im Süden begann, schließt heute auch Kodiak Island, Kenai Peninsula, Prince Williams Sound und die Aleuten-Inseln ein, wie auch die Versorgung der Dörfer in Südost-Alaska. Die Inside Passage und die Süd-Ost-Routen verbinden aber nicht nur die Häfen, sondern auch das kontinentale Straßensystem, und in knapp 61 Stunden wird über Wasser auch das amerikanische Bellingham erreicht, von dem es nur noch ein Katzensprung bis nach Seattle ist. Wenn auch der Luxus eines Kreuzfahrtschiffes auf diesen Fähren nicht geboten werden kann – es ist ein öffentliches Transportsystem – und die Liegezeiten in den Häfen limitiert sind, so reist man doch recht angenehm und äußerst preiswert. Von Skagway (über Sitka) bis Prince Ruppert sind die 438 US-Dollar, die wir inklusive der Vierbettkabine, die unabhängig von der Personenzahl mit 114 Dollar enthalten ist, für zwei Personen keine teure Angelegenheit. Auch für alles andere bietet das Schiff mit Auto-, Kabinen-, Passagier- und Sonnendeck, was gebraucht wird: Lounges, Bar, Selbstbedienungs- und Bordrestaurant (hier wird auch das Frühstück serviert) mit Menüauswahl, Cafeteria, Snack Bars, Kinosaal, Duschen für Passagiere ohne Kabine, verschließbare Kofferfächer oder Souvenirladen.
Nach dem Erkundungsgang geht’s mit einem Becher heißen Kaffee an die Reling des Sonnendecks, wo uns frische Morgenluft empfängt, zarte Nebelschleier über dem glatten Wasser schweben und sich die Sonne am Horizont bemüht, der Berge unter sich zu lassen. Hinter der Taku schwingt ein breiter, weiß gekräuselter Streifen aufgewühlten Wassers in Dreiecksform auf und ab, eilt seitwärts weg und verliert sich, wie der Hafen von Juneau, in der Ferne. Unser Schiff stampft dabei gemächlich nordwärts, denn es muss dort, wo der einsame Leuchtturm am Point Retreat den Weg weist, um die Spitze von Admiralty Island herum, ehe es in südlicher Richtung durch das klare Wasser des Chatham Channels gleiten kann. Nach einigen Stunden wird die Fähre abrupt nach Westen drehen, sich von Bergen bedrängt durch die Perilstrait schleichen, danach, mit plötzlicher Kursänderung, wieder nach Süden schwingen und sich im Schritttempo durch die Sergius Narrows tasten. Nach einem Moment des freien Blicks auf den Pazifischen Ozean werden die Whitestone Narrows die Fahrrinne erneut in ein enges Korsett zwängen, ehe hinter einem Schärengürtel an der Westküste von Baranof Island Sitka „in Russisch Alaska“ auftaucht. Auf der weiteren Fahrt nach Süden muss die Fähre dann erst wieder zurück in die Chatham Strait und dabei die, zwischen den Inseln Chigagof und Baranof gelegenen gefährlich schmalen Narrows, als auch die Tongas-Enge erneut passieren. Erst dann kann sie über die südliche Chatham Strait und den Frederick Sound Petersburg anlaufen. Vor Wrangell zwingen die gleichnamigen Engen dann erneut zu behutsamer Navigation, und danach wartet Ketchikan auf das Schiff. Sechs Stunden wird es nach dem letzten Auslaufen dann noch dauern, bis die Taku den Revillagigedo Channel und Chatham Sound hinter sich gebracht und Prince Ruppert, wo für Sabine und mich diese Schiffsreise zu Ende gehen wird, erreicht hat.
Für uns ist es, nur entgegengesetzt, die zweite Reise auf dieser Route und eine mehr auf der Inside Passage, doch die erste bei richtig gutem Sonntagswetter. Und das ist in Alaskas Regengürtel niemals eine Garantie. Heute jedenfalls stimmt alles, um den Liegestuhl in Position zu rücken und die Situation zu genießen: Große Kreuzfahrtschiffe, Segler, Fischerboote, Schlepper, die unten auf dem Meer ausschauen, als würden sie ihre riesigen Baumstamm-Flöße durch ein Spielzeugland ziehen oder Berge, Wälder, Inselchen und herrlich klares Wasser. Es ist, als würde vor den Augen ein Film ablaufen, unbeschreiblich schön, dreidimensional und ohne Kunstgriffe. Und mit den Buckelwalen, die unterwegs ihre Bahn ziehen und mit ihrer warmen Atemluft ganz persönliche „Rauchzeichen“ setzen, ehe sie beim Abtauchen ihre gewaltigen Schwanzflossen aus dem Meer wippen lassen, wird die Choreographie perfekt. Zwei von ihnen schienen unterwegs zusammen zu spielen, wuchteten sich zweimal aus dem Wasser heraus, drehten sich und schlugen dann mit voller Wucht ins nasse Element zurück. „Erwischt“ haben wir sie leider nicht, weder mit der Kamera noch mit dem Foto. Aber irgendwann wird die große Flosse auf dem Foto schon einmal unten, statt oben erscheinen, denn es ist auch hierbei ein wenig wie mit den Elchen auch. Ein Bulle ist erst im Herbst, wenn er seine gewaltigen Schaufeln trägt, so richtig fotogen. Was nützt es dann, ihn im Sommer ganz nahe vor der Linse zu haben?
Meine Frühstücksbestellung im Café-Shop – Hash Browns mit Eier und Speck – war die falsche Wahl, denn die mit den Schweizer Rösti und dem deutschen Kartoffelpuffer verwandten Fladen sind ein matschiger Reinfall, und das wabbelige Graubrot lässt sich auch auf Walnussgröße zusammendrücken. Morgen gibt’s die gekürzte Version – Kaffee, Butter, Marmelade und Toast für 2.70 Dollar, mit der Sabine schon heute zufrieden ist, sich aber ein Grinsen wegen meiner „Habgier“ nicht verkneifen kann. Natürlich lasse ich mir nichts anmerken, aber das Unpassende „enjoy your meal“ wurmt mich schon, und das weiß sie. Kurz darauf muss ich aber lachen, und aus Sabines triumphierendem Blick wird ein fragender, denn jetzt bin ich es, der grinst und anfügt „schau mal nach rechts hinten“. Dort saßen zwei Damen, unter dreißig, aber sicher über 95, wenn man an Kilos denkt, die heute Morgen mit der Wasserflasche in der Hand 15 bis 20 Runden an der Reling entlang dackelten, und über die wir uns ein wenig lustig gemacht hatten. Jetzt aber gab es für die Sportlichen die Belohnung, und zwar im klassischen Stil. Mit aufgestützten Ellenbogen wird ein „Dreifach-Burger“ von den Fingern beider Hände jeweils bissgerecht zusammengedrückt, bevor die Zunge absolutes Wohlbefinden signalisiert und die Gesichter tiefe Zufriedenheit ausstrahlen. Der mit Ketchup beträufelte Weichling scheint aber nur die Ouvertüre zu sein, denn neben einer großen Portion Pommes wartet auf jedem Tablett auch noch ein doppelter Sandwich. Und weil Seeluft auch durstig macht, dürfen zwei halbe Liter Cola nicht fehlen. Der „Marsch“ heute Morgen war wohl doch sehr anstrengend, und der Tag ist noch lang …
Die Fähre hat längst ihren Kurs geändert, und die Inseln in der Fahrrinne, bewaldet oder reiner Fels, sind zahlreicher geworden. Berge, Klippen und Ufer scheinen ebenfalls nach dem Schiff greifen zu wollen und lassen ihm kaum noch Platz. Unten am Bug gibt ein Crewmitglied Zeichen nach oben zum Steuermann, der Schritttempo anschlägt und die Taku immer wieder um etliche Grad hin und her drehen muss, um dem Inselgewirr in den Sergius Narrows auszuweichen. In dieser sehr engen Passage, in der man die Äste der großen Uferfichten fast mit den Händen greifen kann, erreicht der Gezeitenstrom mit 12 Kilometer Geschwindigkeit eine erheblich Strömung, sodass der Fahrplan den Gezeitenwechsel berücksichtigt. Und genau das ist der Grund, weswegen die Taku diesen Abschnitt durchfährt, wenn die Strömung ihre Richtung ändert und dadurch an Kraft verliert. Langsam, leise, aber zügig tastet und drängt sich die Fähre hier vorwärts, und als der Kurs Süd-West verkündet und sie wieder an Fahrt gewinnt, begleiten uns beiderseits bewaldete Berge, kugel- oder keilförmig, oder langgezogen und allmählich ins Meer eintauchend.
In Sitkas zerklüfteter Bucht ist es windstill, herrlich warm wie im besten deutschen Hochsommer, und der Himmel über dem einstigen „Paris des Nordens“ ist blitzblank geputzt. Grüne Kegelberge kennzeichnen den Vordergrund, dahinter erheben sich die weißen Spitzen ihrer großen Brüder. Von der Anlegestelle bis in die Stadt sind es 11 km, und es erscheint praktisch, von den 4 Stunden Liegezeit die gute Hälfte für eine angebotene Rundtour zu verwenden, um die wichtigsten Sehenswürdigkeiten gezielt ansteuern zu können. Sehr viel davon hat der Ort, der als Indianerdorf Shee Attika begann ehe russische Pelzjäger 1799 in der Nachbarschaft ihr Fort St.Michael erbauten, ohnehin nicht zu bieten. Das Schönste ist eigentlich seine landschaftliche Lage, mit Booten, die in der Bucht schaukeln, den Bergen des Tongass-Waldes, dem Vulkankegel Mount Edgecumbe, 3.271 Meter hoch und vor 8.000 Jahren letztmalig ausgebrochen, und den goldenen Kreuzen der St.Michaels Kathedrale. Der Ort selbst macht einen sehr angenehmen, freundlichen Eindruck, und die meisten Geschäfte im Zentrum dienen dem Tourismus, wobei das angebotene indianische Kunsthandwerk auch hier hohe Qualität besitzt und entsprechend ausgepreist ist. Das absolute Muss in der Stadt ist natürlich die Kathedrale – ein echter Nachbau des 1966 abgebrannten orthodoxen Originals -, das 1844 bis 1848 hier entstanden war. Die erste Kirche ihrer Art in Nordamerika war sie allerdings nicht, denn die wurde bereits 1774 auf Kodiak Island erbaut. Der Stolz des Sitka-Gotteshauses sind seine wertvollen Ikonen, gegen die sich das Äußere des Holzbaues mit seinem Grau-Weiß und den beiden grünen Türmen, auf denen zwei goldene Kreuze glänzen, eher bescheiden darstellt, und die kleine St.Peter’s By the Sea Episcopal Church verträumter und romantischer wirkt. Historisch sind unweit der Cathedrale der alte russische Friedhof – die Frau des letzten russischen Gouverneurs, Prinzessin Maksutov ruht hier – und der Castle Hill. Auf diesem stand einst die Residenz des russischen Gouverneurs Baranof, dessen Einzugsgebiet von den Aleuten-Inseln bis in die Gegend von San Francisco reichte, wo sich die Russen nördlich davon im Fort Ross etabliert hatten. In dessen Mauern wurde 1867 auch der Verkauf Alaskas an die USA zelebriert, nachdem William Seward den amerikanischen Kongress vom Erwerb hatte überzeugen können, und die 7,2 Millionen Dollar für „Sewards-Icebox“ bei den Russen eingegangen waren.
Heute hält der Tourbus auf dem Hügel nur noch wegen der guten Aussicht, und für mehr Vergangenheit muss man sich im Visitor Center des Sitka National Historical Parks den dort gezeigten Displays zuwenden. An gleicher Stelle kann man in den zugehörenden Werkstätten auch den Künstlern – Schnitzer, Silberschmieden, Schneidern – bei ihren traditionellen Arbeiten über die Schulter schauen. Pflicht sind auch die Totempfähle der Tlingit und Haida, die über einen Wiesenweg im Regenwald zu erreichen sind und dort in der Gesellschaft von gewaltigen Zedern und Sitkafichten wie Geister wirken. Ihr Blick geht in Richtung der ankommenden Kreuzfahrtliner und bewirkt vielleicht auch, dass die New Archangel Dancers in der Harigan Centennial Hall von diesen Touristen genug Zuspruch erhalten, wenn jene ihre russischen Volkstänze darbieten. Am Ende der kleinen Halbinsel verdient auch noch der „Battle Ground“ – eine Wiese im Wald – einen Gedanken, denn hier wurde 1804 die letzte Schlacht zwischen Baranof und den Kiksadi-Tlingit Indianern geschlagen, die schon 1802 das Fort zerstört hatten und die Russen zurückschlugen. Nach einer Woche Beschuss durch die Fregatte Neva blieb aber auch diesen Eingeborenen letztlich nur noch der Rückzug. Sehenswert ist auch das 1842 erbaute Russian Bishop’s House, das als Zentrum der russisch orthodoxen Kirche fungierte und 1969 geschlossen wurde. 48 Monate später begann bereits eine 16 Jahre andauernde Rekonstruktion, um das Gebäude wieder so herzustellen, wie es sich 1853 darbot. Heute ist es eins von vier verbliebenen russischen Colonial-Architekturen in Nordamerika und verkörpert die dominierende Herrschaft der Russen im Nordpazifik für mehr als 125 Jahre. Und was hat die 9.000-Einwohnerstadt, deren Hafen als der geschäftigste an der Ostseite des Pazifiks in Alaska gilt, als größte des Alexander Archipels noch anzubieten? Je drei Häfen, Campingplätze, Flugplatz und Alaskas einzige, zur Universität gehörende Bowling Akademie. Im Sheldon Museum wird Völkerkunde geboten und, in dessen Shop, sehr gutes Kunsthandwerk verkauft. Gefeiert wird auch hier: Im Juni musizieren etwa 25 Künstler aus Asien, Europa und Nordamerika beim Musik Festival, und Anfang November werden die etwa 80 Buckelwale bejubelt, die alljährlich von Mitte September bis Mitte Januar im Haven „parken“, um anschließend ihre Reise in die Tropen fortzusetzen, wo sie ihre Jungen gebären und sich paaren. Stars in Südostalaska sind auch Bären, Otter und andere Vierbeiner, denn ein reichhaltiges Nahrungsangebot und niedrige Bevölkerungszahlen machen diesen Landstrich zu einem der besten Plätze für diese Tiere. Auch die Lachse und der Regenwald gehören zu den lokalen Attraktionen wie die Charterboote, die die dortigen Hütten erschließen. Für uns reicht die Zeit aber nur noch für ein paar schnelle Schritte zur O’Connell Brücke, um das Foto von der Waterfront und dem Hafen mit nach Hause nehmen zu können, denn dann heißt es, sicherlich auch für immer, Abschied zu nehmen von dem Städtchen mit dem freundlichen Flair, das heute vom Tourismus, der Holzverarbeitung und der Fischerei lebt. Es ist auch ein Abschied vom Herz der Geschichte Alaskas, denn hier unterhielt die Russian-American-Company schon eine geschäftige Ansiedlung, baute Schiffe und trieb mit den Indianern Pelzhandel, als Chicago nur ein Blockhaus, und San Francisco nicht mehr als eine Missionsstation waren.
Wenn wir morgen früh Petersburg, das auf den Norweger Peter Buschmann zurückgeht, der 1897 mit Sägewerk und Fischkonservenfabrik den Grundstein legte, gegen drei Uhr erreichen, werden wir sicherlich noch schlafen, denn der Ort ist ohnehin nicht aufregend. Es sei denn, man begeistert sich für seine große Kutterflotte, die mit etwa 400 Booten nicht nur Heilbutt anlandet, oder man möchte unbedingt das wunderschöne Panoramafoto vom „Hammer Slough“ haben. Lohnenswert ist Letzteres auf alle Fälle, doch braucht es auch die passende Tages- und Liegezeit. Jetzt werden wir vom Rest des wunderschönen Tages noch etwas an der Reling verbringen und die an uns vorüberziehende Natur genießen, in der das Bergmassiv der Coast Mountains mit seinen schneebedeckten Gipfeln und eisblauen Gletschern den Blick weit in die Ferne lenkt. Aber auch das Schiff selbst, seine Fahrt durch das klare Wasser unter uns und der bezaubernde Abendhimmel, dessen Färbung von Türkis bis zu hellem, klarem Blau ganz oben reicht, fesseln Gedanken und Blick. Dazwischen glänzen, von der tief stehenden Sonne angestrahlte, vereinzelte hohe Wolken in zartem Gelb-Rosa. Die leichte Brise, das eintönige Rauschen des durchpflügten Wassers und die fast greifbare Ruhe und Unendlichkeit fesseln ebenfalls. Derartige Momente beeindrucken, machen zufrieden aber auch nachdenklich und lassen vermuten, was die Suquamish-Indianer mit ihrem Sprichwort „ die Erde haben wir nicht von unseren Eltern geerbt, sondern von unseren Kindern geliehen“, gemeint haben könnten.
Gestern Abend habe ich meinen Wecker doch noch auf drei Uhr dreißig gestellt, denn die 37 Kilometer der kritischen Wrangell Narrows, die die Taku in den nächsten eineinhalb Stunden zwischen den Inseln Kupreanof und Mitkof passieren muss, wollte ich doch nochmals erleben. Die Passage wird sehr schnell gewaltig eng, und eine ganze Armada von Seezeichen weist den Weg. Oft bleiben nur eine schiffsbreite Rinne oder ein Slalom übrig, bei dem Bootsführer Kommandos schreien, mit langen Stangen hantieren oder Kuttersirenen aufheulen, um sich unserem Koloss gegenüber bemerkbar zu machen. Ich persönlich finde es grandios, wie sich die Taku „Schritt für Schritt“ durch dieses Gewirr aus Inseln und Stein windet, und danach sehr schön, dass ich mir nach der erheblichen Frische an der Reling die Bettdecke nochmals über die Ohren ziehen kann.
In Wrangell gehen nur wenige Leute von Bord, wir zum Frühstück, die drei oder vier LKW sind schnell verstaut, und nach kurzem Tuten drehen die Motoren der Taku schon wieder hoch. Für uns heißt das Fensterplatz, vor uns ein ordentliches Frühstück und sechs Stunden gemütliche Fahrt, mit Wald, Wasser und Inseln. Die Clarence Strait wirkt hier zwar wie offenes Meer, doch ist es immer noch die Inside Passage, und die hat heute zur Rechten das Prince of Wales Island, ein Paradies für Fischer und Wanderer, und hält kurz vor Ketchikan die Tongass Narrows bereit. Ketchikan, das sich auf schmalem Streifen zwischen Meer und Dear Mountain ausbreitet, hat im Zentrum neben Häusern auch „Straßen“ auf Stelzen, besitzt viele Totempfähle und kann sich über Regenmangel nicht beklagen. Nach wie vor lebt der langgezogene Ort von Fisch und Holz, und der Regenwald beginnt direkt hinter der Haustür. Das dritte Standbein, der Tourismus, hat sich aber schon gewaltig bemerkbar gemacht. Mit dem Flieger lässt sich auch von hier aus alles und schnell erreichen, von Anchorage bis Seattle, mit Haines, Juneau, Skagway oder ganz speziellen Attraktionen dazwischen. Ketchikan zeigt sich auch mit seinen Wasserflugzeugen, die ihre Rundfluggäste auch direkt abholen und längsseits der Kreuzfahrtschiffe landen, sehr geschäftig. Für uns spielen diese Möglichkeiten heute jedoch keine Rolle. Wir waren schon hier, wollen direkt weiter. Die eine Stunde Liegezeit reicht gerade aus, um von dem im Zentrum gelegenen Fährterminel 300 Meter über die Straße zum Supermarkt zu sprinten und für die nächsten beiden Tage Proviant einzukaufen. Was wir dort für fünfzehn Dollar bekommen – Wurst, Käse, Baguette, Croissants, Tomaten, Paprika, knackige Schwarzkirschen, Bananen und einen 6er-Pack Budweiser – war äußerst billig. Eintopf und Gebratenes zum Mitnehmen wurde auch angeboten, doch kostet eine Schüssel Chilibohnen mit viel Fleisch auf der Fähre auch nur 1.75 Dollar.
Im Schritttempo legt unser Schiff rückwärts wieder ab und wird in etwa sechs Stunden Prinz Ruppert erreichen. Momentan scheint Ebbe zu herrschen, denn die nassen Steine am Rand, über denen hohen Fichten wie Frontsoldaten zwischen Meer und Land in Reihe und Glied dem Wind trotzen, signalisieren, dass der Wasserstand in der letzten Stunde erheblich gesunken sein muss. Eine Rolle spielt das hier, wo uns im Revillagigedo Channel rechterhand die Inseln Anette und Duke als größere Gebilde begegnen, aber nicht. Auf der Westseite des Chatham Sounds wird sich uns noch Dundas Island zeigen und linkerhand auch der Südzipfel der im Tongass National Forest liegenden Misty Fjords National Monument Wilderness, deren 2,3 Millionen Acker völlig unerschlossen sind. Ab Ketchikan starten allerdings Wasserflugzeuge und zeigen Touristen, was unter ihnen zu sehen ist: Bis zu 300 Meter tiefe Fjorde, Granitwände, 1.000 Meter hoch und senkrecht abfallend, von Gletschern rund geschliffenen Berge der Boundary Ranges und Regenwald, in dem Sitkafichten und Hemlocks dominieren. In das Herz des Wildnisgebietes zieht auch ein langer und tiefer, von Tourbooten genutzter Wasserweg, während für die Benutzung der von der Forstverwaltung im Schutzgebiet unterhaltenen Hütten Führer und Seekajak unbedingte Voraussetzungen sind, um die mit Grizzlys, Schwarzbären, Maultierhirschen, Bergziegen, Elchen und Wölfen bestückte Wildnis sicher zu erleben.
Unterwegs hat es heute Nachmittag fast immer leicht geregnet, doch könnte der helle Himmel im Süden signalisieren, dass es morgen wieder besser wird. Mit dieser Hoffnung verdrücken wir uns in die Snack-Bar und bestellen zwei große Schüsseln Chilibohnen, die wir mit der Creme Fresh aus dem Supermarkt noch etwas aufwerten. Es ist letztlich ein guter Eintopf mit viel Fleisch und zwei Scheiben Toastbrot für jeweils 1.76 Dollar. Kostenlos ist allerdings das „Amüsement“ am Tisch gegenüber. Dort sitzen „zwei Vierecke“, die uns später erzählen, dass sie Mutter und Tochter sind, aus Manitoba kommen, und die Jüngere Lehrerin in Yellowknive bei den Eskimos ist. Beide haben sehr hübsche Gesichter, aber auch – ist man gnädig – jeweils etwa fünfzig Kilo zu viel. Das drückt die Kürnote und bestätigt den uralten Spruch, dass von Nichts auch Nichts kommt. Was das Essen angeht, so hat „das Kind“ ordentlich aufgeladen: Einen großen Nudelsalat, zwei doppelte Burger und eine große Portion Pommes, auf die noch ordentlich Ketchup kommt. Beim abschließenden roten Wackelpudding scheint das Girl dann recht zufrieden zu sein, denn sie nickt uns lächelnd zu, tippt mit dem Löffel auf die Süßspeise und meint „it’s great, you should try it“. Dass so viel Futter auch durstig macht, war zu vermuten, dass Frau Lehrerin aber neben dem Halben-Liter-Kaffeebecher auch noch ein Stück Kuchen zum Tisch mitbringt, eher nicht. Schnauf, schnauf. Auf den letzten Meilen verliert sich der Eindruck vom offenen Meer. An seine Stelle treten kleine Inseln, und die Fähre steuert direkt auf eine „grüne Wand“ aus bewaldeten Bergen zu. Kurz vorher, dort wo die Grain-Mill steht, dreht sie 90 Grad nach links und tastet sich im ausgesteckten Gewässer zwischen zwei Inseln langsam vorwärts, ehe sie nach rechts zum Dock abbiegt und rückwärts anlegen muss. Eine Meisterleistung, denn der trichterförmige Liegeplatz passt auf Anhieb haargenau.
Wieder festen Boden unter den Füßen streichen wir kurzerhand den Hotelbus und sind fünf Minuten später für sechs „Taxi-Dollar“ im „Howard Johnson“, dass uns für insgesamt 73 Dollar ein ordentliches Doppelzimmer für zwei Nächte reserviert hat. Dieses Hotel hatten wir gezielt gewählt, weil „National Car Rentals“ dort ein Büro hat, und damit unser „MG Impala Full Size“ morgen früh sieben Uhr auf dem Hotelparkplatz abholbereit steht. Damit wollen wir dann erst in die Stadt zu Adventure Tours, denn bei Dough und Debbie Davis haben wir für 240 Dollar eine Bootstour ins Grizzly-Schutzgebiet Khutzeymateen Valley gebucht, und am späten Nachmittag weiter nach Terrace, wo wir „Harry“ treffen, um mit ihm in sein einsames Camp zu fliegen.
Mit Harry‘s Guide im Bärenland
Für Schneeziegen ist das Fernrohr nötig
La Basilique Notre Dame, Montreal