Читать книгу DIE ERMORDUNG MEINER FRAU - Erhard Schümmelfeder - Страница 3
DIE FLIEGE DES BISCHOFS
ОглавлениеDas Füttern der Hühner war für die alte Mary die erste Arbeit eines neuen Tages. Auch an ihrem zweiundachtzigsten Geburtstag schlurfte sie im morgendlichen Sonnenschein über die Terrasse ihres Hauses, überquerte den noch taufeuchten Rasen und öffnete die knarrende Tür des Hühnerstalls. Aus den Futtertonnen unter dem Fenster gab sie den Hühnern heute nur eine Handvoll Maiskörner, eine Schaufel Fischmehl und füllte frisches Wasser in den Trog. Danach schloss sie die Stalltür hinter sich und ging zum Haus zurück. Erst später wollte sie die Tiere im Freien laufen lassen.
Ihr Blick in den blauen Himmel wurde getrübt durch das Wissen, dass die am Horizont erkennbaren Schönwetterwolken sich leicht in Gewitterwolken verwandeln konnten. Aus den Obstbäumen, die das Haus umstanden, tönte jubilierender Vogelgesang. Fred hatte den Klang der trillernden Stimmen immer als „himmlisch“ bezeichnet. Auf den naheliegenden Einfall, ein Netz über das Gemüsebeet zu spannen, weil die gefiederten Spatzenteufel die Samen aus der lockeren Erde herauspickten, war er nie gekommen. Noch heute schüttelte sie den Kopf über seine Gedankenlosigkeit. Die Vogelscheuche mit dem grotesken Hut und dem struppigen Besen in der Gartenmitte, Freds letzte Tat auf Erden, hatte ihre abschreckende Wirkung längst verloren.
Fast hastig nahm sie anschließend am Küchentisch ihr Frühstück ein, räumte das Geschirr auf die Spüle und begann mit den Vorbereitungen für das Mittagessen. Ein Blick auf die Wanduhr über der Sitzbank verriet ihr, dass es keinen Grund für übertriebene Eile gab, denn bis zwölf Uhr waren es noch drei Stunden Zeit. Dennoch verspürte sie eine stärker werdende Unruhe, die sie veranlasste, ihre Bewegungen zu beschleunigen. Als Mutter von fünf Kindern hatte sie früher für eine siebenköpfige Familie gekocht, den gesamten Haushalt erledigt, den Garten, die Hühner und die Schweine versorgt. Ihre Söhne und Töchter hatten das Haus längst verlassen. Nach dem Tod von Fred waren ihr nur die Hühner und der schwarze Kater geblieben. Ein Treffen der Familie war immer verbunden mit Aufregung, gegen die sich nicht zu wehren vermochte. Der Kater, dachte sie – ja, auch ihn musste sie noch füttern. Aus dem Kühlschrank holte sie die Dose mit Pansen hervor und füllte auf der Terrasse den Fressnapf. Als sie den zweiten Teelöffel mit Futter am Rand des Napfes abstreife, vernahm sie das Miauen des Katers, der vom Dach des Holzschuppens herunterkletterte und zu seiner Mahlzeit lief. Gierig verschlang er das Fleisch und blickte erwartungsvoll zu ihr auf.
Etwas hatte sich in Marys Leben in den zurückliegenden Jahren nie verändert: Zu Mittag wurde pünktlich um zwölf gegessen. Pünktlichkeit war nicht nur ein Wort. Wer zu spät erschien, musste seinen Hunger bis zum Abendbrot ertragen. In diesem Punkt ließ sie nie mit sich verhandeln. Alle Kinder hielten sich bis heute an das ungeschriebene Gesetz. Von ihrem Küchenfenster blickte Mary zur Einfahrt des Grundstückes. Ein Auto näherte sich ihrem Anwesen. Das Motorengeräusch wurde lauter. So klangen nur die Autos, die aus Paderborn kamen: störend, frech und überheblich. Nein, vor zwölf würde niemand zum Essen erscheinen. Der für den Bruchteil einer Sekunde erkennbare grüne Wagen, der nun auf der Straße an ihrem Garten vorbeifuhr, bestätigte ihre Einschätzung.
Zuerst rührte sie den Nachtisch an: Weincreme, die sie in die langstieligen Blütenkelchschalen verteilte, stellte sie in den Kühlschrank. Als Nächstes schnitt sie die abends zuvor geschälten sechs Kartoffeln in schmale Spelten, verteilte sie auf dem Backblech und überstrich sie mit einer pikanten Gewürzsoße. In den vorgeheizten Backofen schob sie das Blech mit dem, was sie insgeheim „Hauptspeise“ nannte. Bald schmurgelten die halbierten Champignonpilze in der Pfanne, wobei sich in der Küche ein appetitanregender Duft verbreitete. Vor der Terrassentür miaute der Kater. Er hatte seine Tagesration bekommen. Nun sollte er zufrieden sein.
Da Mary ihren Gästen nie Fleisch anbieten würde, entschloss sie sich, auch diesmal zu den Kartoffeln einen sättigenden Salat anzubieten: Tomaten, Gurkenscheiben, Mais, Paprika und gewürfelten Käse. Sie hob den Kopf und lauschte, als sie erneut ein Auto vernahm. Wieder empfand sie dieses Gefühl einer Beklemmung im Herzen. Die beiden Betonpfeiler, die links und rechts ihrer Einfahrt standen, bildeten den Rahmen für den Blick auf die gewundene Landstraße, die sich in Richtung Paderborn zwischen den Kornfeldern verlor. Diesmal war es ein rotes Auto. Michaela besaß ein solches Fahrzeug. Ines hatte nicht einmal einen Führerschein. Robert und Ansgar wechselten ständig ihre Autos. An die Farbe von Dieters Wagen konnte sie sich nicht mehr erinnern. Sie wurde alt. - Wieviel Zeit blieb noch bis zum Mittagessen?
Bsssssssssssssss ... bssssssssssssssssss ...
Das heisere Summen einer Fliege ließ sie aufhorchen. Nach der Lautstärke des Summens zu urteilen, konnte es kein kleines Insekt sein. Am meisten hasste sie die dicken schwarzen Fliegen mit bläulich schimmernden Flügeln, denn die wurden ihr vom Bischof aus Paderborn geschickt. Sie wusste auch, warum: Weil sie seit siebzig Jahren nicht mehr gebeichtet hatte. Aber das war ihre Sache. Der Bischof sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern. Da lag ja wohl auch einiges im Argen. Sie hatte da etwas gehört in den Nachrichten. Aber Genaues wusste sie nicht. Lauernd ließ sie ihren Blick durch die Küche gleiten. Wo steckte das Biest? Beim Herd? An der Lampe? Auf einer Stuhllehne? Nein. Vielleicht an der Scheibe des schräg gekippten Fensters? Auch nicht. Sie würde es noch entdecken. Sie duldete keine Fliege in der Küche. Mit einem Griff holte sie die Klatsche, die an einem krummen Nagel in der Wand neben dem vergilbten Kalender mit den Stadtansichten von Paderborn hing. Na warte, dachte sie und lauschte mit wachsendem Zorn.
Neben dem Ticken der Küchenuhr und dem Brutzeln der Pilze in der Pfanne hörte sie das Miauen des Katers an der Terrassentür. Ein weiteres Geräusch weckte ihre Aufmerksamkeit: Die Hühner im Stall wurden unruhig. Gackernd flatterten sie gegen die trüben Scheiben neben der Brettertür. Sie drängten darauf, in den warmen Sonnenschein zu gelangen. Aber sie würden sich gedulden müssen.
Bssssss, machte es hinter ihr, als sie einen Blick in den Backofen warf. Der aufsteigende heiße Dampf beschlug ihre Brille. Mit dem Zipfel ihrer Schürze wischte sie über die runden Gläser. Hilflos fuchtelte sie mit der Klatsche durch die Luft. Nein, so würde sie die Fliege niemals treffen. Mit einem Ruck riss sie die Terrassentür auf, damit das Tier nun ins Freie hinausfliegen würde. Stattdesdessen huschte der Kater in die Küche, hob witternd den Kopf und blickte sich nach Fressbarem um. Miauend kam er näher. Sein Schwanz legte sich um ihre schwarzbestrumpften Waden, die unter dem langen Rock zu sehen waren. Ein unangenehmes Kitzelgefühl ließ sie zu Boden blicken. Ärgerlich gab sie dem Kater einen Fußtritt, so dass er aufjaulend gegen ein Tischbein geschleudert wurde. Geduckt zog er sich in den dunklen Winkel beim Abfalleimer zurück. Mit der Fliegenklatsche scheuchte Mary ihn auf die Terrasse hinaus. Tiere hatten in ihrer Küche nichts zu suchen.
Elfmal tönten die Weihnachtsglocken vom Paderborner Dom zu ihr herüber. Wieder einmal hatte der Bischof den Glöckner beauftragt, die Weihnachtsglocken zu läuten, obwohl heute Ostern war. Ihr Widersacher wurde allmählich senil – soviel stand fest. Mit seinem Latein war er längst am Ende. So leicht ließ sie sich nicht hinters Licht führen. Noch fielen Weihnachten und Ostern nicht auf einen Tag. Oder war doch schon wieder Weihnachten? Nein. Entschieden schüttelte sie den Kopf.
Bald darauf kramte Mary aus dem Flurschrank die weiße Tischdecke, die sie draußen auf dem Rasen über den Gartentisch legte, nachdem sie diesen gründlich gesäubert hatte. Auch die gusseisernen Stühle rieb sie ordentlich ab und verteilte auf alle Sitzflächen die Polster, die sie aus dem Gartenhaus neben dem Hühnerstall holte. Seit Fred sich an einem Dachbalken erhängt hatte, wurde das Gartenhaus nur noch als Abstellraum benutzt. Im Schatten des Walnussbaumes hatte sie früher bei abendlichen Essen zwei Kerzenleuchter auf den Tisch gestellt, weil sich auf diese Weise die lästigen Mücken ein wenig fernhalten ließen. Bei einem Mittagessen im Sonnenschein erschienen ihr zwei blaue Vasen mit roten, gelben und orangefarbenen Tulpen zweckmäßiger. Noch immer war der Himmel blau, aber mehr und mehr Wolken schoben sich über den Horizont. Das bedeutete nichts Gutes. Sie erinnerte sich genau: Seit die Amerikaner einst auf dem Mond gelandet waren, gab es auf der Erde immer häufiger schlechtes Wetter. Einige Leute aus dem Dorf hatten versucht, sie von dieser Meinung abzubringen. Aber sie ließ sich nichts sagen.
Für das Decken des Tisches wählte sie das Silberbesteck und die Gläser, die Fred immer als „die Guten“ bezeichnet hatte. Sie vergaß auch nicht die halbe Flasche Rotwein, die seit Jahren im Keller verstaubte. Das Fürstenberggeschirr mit Goldrand bestückte sie bereits in der Küche mit den dampfenden Speisen, stellte sie auf den Servierwagen und rollte diesen vorsichtig über den Rasen zum Tisch. Im Stall scharrten und flatterten die Hühner. Noch mussten sie sich gedulden. Mit kritischem Blick prüfte Mary die Portionen auf den Tellern. Wie immer hatte sie sich an ihren Grundsatz gehalten: Kleine Portionen! Sie verabscheute Gier. Als Mutter von fünf Kindern kannte sie die Menge an Nahrung, die der Gesundheit jedes Einzelnen förderlich war. In diesem Punkt gab es keine Diskussionen.
Gleich zwei Wagen fuhren mit aufheulenden Motoren vorbei in die Richtung des Dorfes. Der schwarze Kater kroch unter den Tisch und beobachtete aus seinem Versteck das Geschehen. Sein Miauen hatte nichts zu bedeuten. Hoffte er auf eine Ausnahme von der geltenden Fütterungsregel? Da konnte er warten, bis er schwarz wurde. Unsinn, dachte sie. Schwarz war er ja bereits.
Bssssssssssssssssssss... bsssssssssssssssssssssssss ...
Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt erreicht. Ihr eigener Schatten bestätigte Mary die Richtigkeit ihrer Wahrnehmung. Vom fernen Paderborner Dom vernahm sie die zwölf Glockentöne: laut, frech, überheblich. Der Bischof gab keine Ruhe. Er sollte vor seiner eigenen Tür kehren. Sicher hatte er auch etwas zu beichten. Genaues wusste sie nicht. Aber sie kannte diese scheinheiligen Pharisäer, die im Grunde alle gleich waren. Von Prinzipien schwafelten sie nur, ohne sich selbst daran zu halten.
Noch dampften die heißen Speisen auf den Tellern. Ein näherkommendes Auto ließ sie zur Einfahrt blicken. Auch dieser Wagen fuhr vorbei. Mary war daran gewöhnt. Seit zehn Jahren lebte sie allein. Bis zum Ende ihrer Tage auf Erden würde sich dieser Zustand nicht ändern. Auch ihre Prinzipien würde sie nicht ändern. Das stand fest. In ihren Ohren klangen noch immer die flehentlichen Bitten ihrer Kinder, wenn sie sich zum Essen verspätet hatten. Das Jammern hatte sie nie beeindruckt. Im Gegenteil: es bestärkte sie darin, das Mittagessen lieber den grunzenden Schweinen vorzuwerfen, als ihrem eigenen Grundsatz untreu zu werden. Wer zu spät zum Essen erschien, musste mit den Folgen rechnen.
Mit einem Seufzer ging Mary zum Hühnerstall, öffnete die knarrende Tür und ließ das Federvieh ins Freie laufen. Zögerlich näherten sich die braunen Hühner dem Tisch in der Rasenmitte. Der bunte Hahn hüpfte flügelschlagend als Erster auf die festlich gedeckte Sonntagstafel. Fast gleichzeitig machten es ihm die anderen elf Hühner nach. Zuerst fiel ein Nachtischkelch auf den Rasen. Die Rotweinflasche stürzte um und tränkte das weiße Tischtuch in ein blutiges Rot. Mit Eifer begannen die Tiere von den köstlichen Speisen zu picken. Nun sprang auch der Kater auf den Tisch. Mary konnte und mochte nicht länger zuschauen. Gier war ihr zuwider. Sie drehte sich um und schlurfte zurück ins Haus. Vom Küchenfenster aus, wo sie im Stehen von einem trockenen Brotknust nagte, warf sie einen letzten Blick auf das wilde Fressen der Hühnerschar. Mit solchen Kreaturen würde sie sich nie an einen Tisch setzen.
Bssssssssssssssssssssssssssssss...
Nun wusste sie, dass die dicke Fliege sich noch in der Küche aufhielt. Aber wo steckte sie?
Kontrollierend ließ Mary ihre zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen durch den Raum gleiten. Ihr Blick blieb haften an dem krummen Nagel, der die Fliegenklatsche hielt. Sie streckte ihre runzelige Hand aus und umfasste den langstieligen Griff, während ihre Augen jeden Winkel der Küche nach der summenden Fliege absuchten.
Aha. Auf der Brotmaschine.
Zack!
Zum ersten Mal seit langer Zeit lächelte Mary wieder, denn es war ihr gelungen, eine Fliege des Bischofs für immer zum Schweigen zu bringen.