Читать книгу DIE ERMORDUNG MEINER FRAU - Erhard Schümmelfeder - Страница 4

DER MANN IM REGEN

Оглавление

Ich versuche mir vorzustellen, was meinen Freund Dr. Bieger an jenem Abend veranlasste, während der Fahrt den Fuß auf die Bremse zu setzen und den Wagen auf dem Grasstreifen neben der Straße ausrollen zu lassen. Was er sah, war ein fremder Mann im Regen, allein, weit entfernt vom Hamelner Stadtrand. Hierauf beschränkte sich seine Wahrnehmung. Dann öffnete sich bereits die Tür: Novemberwetter. Der hereinwehende nasskalte Wind gab ihm das Gefühl, richtig zu handeln. Es war die spontane Entscheidung einer einzigen Sekunde seines Lebens.

»Die meisten Leute lassen einen im Regen stehen«, sagte der Mann, als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte.

Hatte er vorhin nicht den gleichen Gedanken gehegt, als er die Gestalt des Fremden in der Ferne am Straßenrand erblickte? Ein Gefühl des Unbehagens ergriff ihn mit einem Mal. Lag es an dem Mann? Wie alt mochte dieser sein? Gewiss über sechzig. Kannte er ihn?

Er wollte etwas zur Verteidigung der Autofahrer sagen, suchte bereits nach vernünftigen Gründen, im Zweifelsfall an jedem Tramper vorbeizufahren, doch nickte er nur und konzentrierte sich auf die Straße, die im gleißenden Licht eines entgegenkommenden Lasters aufhellte. Er richtete seine Augen auf den rechten Randstreifen, um sie vor der Blendung zu schützen.

»Man muss bei diesen großen Lastern aufpassen, dass man nicht unter die Räder gerät.« Er blickte zur Seite und sah den verfilzten weißen Bart des Mannes. Nur sehr langsam hob er die Hand, um sie über das Gesicht zu streichen: War dies nicht die Geste eines Menschen vor einer schweren Entscheidung? Das durchnässte weiße Haar wirkte im Lichtschein eines entgegenkommenden Autos beinahe drahtig. Aber erst der lange weiße Bart gab ihm das Empfinden, den Mann bereits einmal gesehen zu haben. Wo nur?

Er wollte eigentlich keine Konversation, keine zwanghafte Höflichkeit. Es war sicherer, nichts über sich preiszugeben. Auch der Fremde schwieg, was er als Unhöflichkeit empfand. Schließlich schaltete er das Radio ein. Weihnachtliche Streicherklänge: Stille Nacht. Der Mann hustete und blickte durch die Seitenscheibe in die Dunkelheit. Schneeflocken mischten sich in den Regen..

Er räusperte sich und fragte: »Haben Sie Ihren Bus verpasst?«

»Nein«, antwortete der Alte. »Ich wusste, dass sie hier vorbeikommen würden.«

Nicht nur die wenigen Worte, auch der Ton signalisierte eine verborgene Warnung.

Er drehte den Lautstärkeregler des Radios ein Stück zurück.

»Wie darf ich das verstehen?«

»Wie ich es sagte.«

Also doch reden. Unverhofft die Einsicht: Allein mit einem Fremden. Regentropfen. Scheibenwischer. Die Straße ohne Himmel in der Dunkelheit. Endlich wagte er, die Frage zu stellen:

»Kennen wir uns?«

»Ich kenne Sie. Mein Name dürfte Ihnen wohl unbekannt sein.«

Ein eigentümlicher Geruch, der dem Mantel des Mannes zu entströmen schien, erfüllte die Luft im Wagen. Tannennadelduft? Woher kannte er diesen Geruch? Dann fiel es ihm ein. Er dachte zuerst nur das Wort Klinik. Er sagte: »Ich habe ein gutes Namensgedächtnis.«

»Der Name tut nichts zur Sache.«

Welche Sache? Was geht hier vor?, dachte er. Sein Blick fiel auf das Armaturenbrett. Die Geschwindigkeitsanzeige. Fuhr er zu schnell? Siebzig. Fast zu schnell bei überfrierender Nässe. Wie spät war es? 23 Uhr 14.

»Ich verstehe nicht, worauf Sie hinauswollen.«

Der Mann schaute ihn von der Seite an, lange, unverschämt lange. »Ich bin der Zeuge«, fügte er hinzu.

Der Blick und der Ton der Stimme hatten etwas gemeinsam: sie klangen anklagend.

Er vermied es, die Augen von der nassen Fahrbahn abzuwenden.

»Zeuge?« Hatte der sonderbare Fremde etwas mit der Klinik zu tun? Eine rasche Antwort würde ihn vielleicht erlösen. »Ich verstehe nicht ganz. «

»Sie verstehen vieles im Leben nicht ganz.«

Telegrafenmasten. Regentropfen. Mozart. Die Innenflächen seiner Hände an dem glatten Lenkrad signalisierten ihm: Die Angst saß tiefer, als er angenommen hatte. Angst verlieh keine Flügel, sie lähmte. Nein, es war kein Desinfektionsgeruch, wie er zu Beginn angenommen hatte, es schien eher ein tierischer Geruch zu sein.

Er atmete plötzlich sehr flach. Dann setzte seine Erinnerung ein. Ja, er wusste nun, um welche Sache es ging.

In der Ferne sah er die Lichter der Stadt. Unsicher fragte er: »Wollen Sie in den Ort oder haben Sie ein anderes Ziel?«

»Bei der nächsten Kreuzung biegen Sie rechts ab.« Es war keine Bitte, es war eine Aufforderung, die keinen Widerspruch zuließ.

Vor dem Schild mit der Silhouette des Rattenfängers musste er hart auf das Bremspedal treten, schaltete den Motor herunter, setzte den Blinker und bog von der Hauptstraße in den Feldweg. Warum unterwarf er sich dem Mann ohne Gegenwehr?

»Ist das eine Abkürzung? «

Der Mann antwortete nicht.

Unterhalb des Waldrandes war der Weg nicht mehr geteert. Schlammige Löcher erstreckten sich in der engen Lehmspur bis zum Bach. Das Haus wirkte verfallen, doch brannte in einem Zimmer neben der niedrigen Eingangstür ein Licht.

»Hier endet die Fahrt«, sagte der Mann. Nicht hastig, eher überlegen und seiner Sache sicher, griff er in die Innentasche seines Mantels ...

Ich weiß nur eines: Ich hätte in jener Nacht nicht den Fuß auf die Bremse gesetzt, um auf dem Randstreifen der Straße zu halten. Nie würde ich einen unbekannten Anhalter im Wagen mitnehmen. Der alte Mann: ein zufälliger Zeuge des Unfalls mit einem Reh. Er trat damals aus dem Unterholz, als mein Freund mit dem Wagen davonfuhr. Erst Jahre Später begegneten sie einander. Was der Mann aus seiner Tasche hervorholte, habe ich leider vergessen. Es war wohl nicht so wichtig. Aber interessieren würde es mich schon.

Nachbemerkung:

Soeben fiel mir wieder ein, was der Fremde aus der Tasche zog. Es war seine Geldbörse. Der Mann zahlte meinem Freund korrekt den regulären Buspreis für die unfreiwillige Taxidienstleistung. Es hätte aber, wie man weiß, auch schlimmer enden können.

DIE ERMORDUNG MEINER FRAU

Подняться наверх