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DIE INSEL DES FRIEDENS

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Eine Rucksack-Geschichte


ACROLLAM ist der Name jener einstmals unbewohn­ten Insel, die der Privatgelehrte und Weltverbesserer Samuel Fielding für lumpige einhundertfünfzigtausend Pfund in einem seriö­sen Londoner Maklerbüro erwarb. Ausgerüstet mit Proviant für zwei Monate, Gewehr, Busch­messer, Kompass und einem noch unbeschriebe­nen Wachstuchheft machte er sich auf den Weg, fuhr mit der Bahn durch Deutschland, Frank­reich und er­reichte bald Spaniens Küste, von wo aus er den Rest der Strecke auf einem Fracht­schiff zurücklegte.

Noch während der stürmi­schen Überfahrt begann Samuel Fielding die er­sten Seiten jenes braunen Wachstuchhef­tes mit schwarzer Tinte zu beschriften. Von den neu­gie­rigen Matrosen ahnte nie­mand, was der weißhaarige Sonderling abends in seiner Ka­jü­te, im trüben Schein einer Öl­lampe, auf die Sei­ten des Heftes kritzelte. Samu­el Fielding schrieb we­der Briefe noch Tagebuchaufzeichnungen. Er be­gann stattdessen mit der sorgsam durchdachten Nieder­schrift zu einer neuen Staatsverfassung für das vom ihm gegründete Erdenparadies ACROLLAM, als dessen Eigentümer er sich durch den nota­riell beglaubigten Kaufvertrag mit einem spanischen Kaufmann fortan bezeichnen durfte. Es war seine Ab­sicht, der Welt den Rücken zu kehren, um ein neues und schöneres Leben in der beschauli­chen Abgeschie­denheit seiner Insel zu beginnen. Von den ihm verbliebenen fünfzehntausend Pfund seines ererbten Vermögens gab er vierzehntau­send Pfund aus für großformatige Zeitungs-Annoncen, die in allen bedeu­tenden Städten Eu­ropas erschienen und interes­sierte Zeitgenossen, die der sogenannten zivili­sierten Lebensweise überdrüssig waren, auffor­der­ten, ihre Zelte abzubrechen, um auf ACROLLAM unter südlicher Sonne wahre Le­benser­fül­lung und irdi­sches Glück zu finden. Einzige Vorbe­dingung für die einrei­sewilligen Bürger sollte ein kompliziertes und undurchsichtiges Aufnahmeverfah­ren sein, das Samuel Fielding persönlich durchzu­führen gedachte. Die auf­merksamen Leser der An­zeigen begrif­fen, dass vor al­lem keine Nörgler, Besserwisser, Ignoranten, Schwätzer, Geschäftemacher, Nar­ren oder gar Dummköpfe auf der Insel er­wünscht seien. - Die übriggebliebene Summe von eintausend Pfund schenkte Samuel Fiel­ding den Matrosen, die ihn mitsamt seinem Gepäck in einem schaukelnden Boot vom Schiff zum Strand von ACROLLAM ruderten; mit dieser großzügigen Tat hatte er die letzte Brücke zur alten Welt endgültig hin­ter sich abgebrochen.

Samuel Fielding kniete nieder, küsste den Bo­den der neuen Heimat und warf eine Handvoll Sand in die Lüfte. Der Wind blies den Sand von Westen nach Osten. - Dies war also der Weg, den er ein­schlagen würde. In einer Felsenhöhle verstaute er seine schwere Seekiste, versorgte sich mit Proviant für drei Tage, schulterte das Gewehr, ergriff die Ma­chete und begann mit der Erkundung der Insel.

Seine Erwartungen und Träume wurden noch über­troffen von der Schönheit, die die greifbare Wirklich­keit ihm offenbarte: Palmen, blaue Lagunen, riesige Fischbestände, Wald, so weit das Auge reichte, exoti­sche Vögel, Wild, frisches, sauberes Quellwasser ... Kokosnüsse, Bananen, Zitronen, Ananasfrüchte, Ge­müse! - Das war der Beginn einer neuen Zivilisation! Holz- und Lederverarbeitung! Fi­scherei! Tauschwirt­schaft! Zufriedene Menschen, Handwerker, Fischer, glückliche Kinder, die unter Palmen spielen ... Samuel Fieldings Visionen für die Zukunft von ACROLLAM sollten nun in die Tat umgesetzt werden – daran dachte er, als er sich hac­kend, reißend, stechend mit dem Buschmes­ser durch das wi­derspenstige Grün des Dschun­gels kämpfte. Für ihn stand fest: kein Fern­sehen, kein Radio und erst recht keine schwätzer­haften Zeitungen in der neuen Heimat! Kein Alko­hol! Keine Nörgler, Besserwisser, Querulan­ten, Cho­leriker und so weiter dürften auf die Insel! Nur aus­gesuchte Leute. In diesem Punkte würde er sich von niemandem dreinreden lassen ...

Nach einem erschöpfenden Gewaltmarsch, der ihn bis an die Grenzen seiner Kräfte führte, erreichte Sa­muel Fielding die östliche Seite der Insel, wo er einen geeigneten Platz für sein eigenes Wohn­haus fand. Ein gerechter Monarch in einer schmucklosen Hütte! So und nicht anders hatte er es sich in Gedanken immer vorgestellt. Hinter dem dichten und dornigen Busch­werk fand er abermals weißen Strand unter blauem Sommer­himmel, dahinter das tosende Meer. Betrüb­lich war für ihn, die Spuren der zurückgelasse­nen Zivilisation so­gar an diesem entlegenen Ort in der Wildnis zu finden. Geröstete Erd­nüsse stand in roter Schrift auf einer Dose, deren silbernes Blech das Sonnenlicht spiegelte. Samu­el Fielding nahm die Dose auf, kniff die Augen zusammen und wandte sich dem Meer zu. Das erste, was seine verwunder­ten Augen wahr­nahmen, war der Abfallkorb aus Draht an der geteerten Straße, die auf eine Anhöhe zulief. Keuchend schleppte Samuel Fielding sich bis zu jenem erhöhten Punkt im Gelände, von wo aus er die ganze Landschaft überblicken konnte -----: Strandkörbe, Sonnenschirme, gebräunte Rücken, prallvolle Bäuche, ölig glänzende Beine, Köpfe - Menschengewühl, Radiogedudel, Ho­tels, Bars ... Er erkannte, auf welchen simplen bösen Schwindel er hereingefallen war, als er das am Strand stehende Schild sah, auf dem in schwar­zen Buchstaben auf weißem Grund MALLOR­CA zu lesen stand ...

Von all jenen hoffnungsfrohen Menschen, die sich auf den weiten Weg machten, um Samuel Fielding nach dem segensreichen ACROLLAM zu fol­gen, traf ihn niemand unter den dort Lebenden. In den behördlichen Proto­kollen der Polizei wurde wiederholt von einem ewig be­trunkenen Querulanten berichtet, der harmlose Touristen beschimpfte, belästigte oder gar mit einer rostigen Schrotflinte bedrohte, ei­nem nörgelnden Besserwisser und Schwätzer, den man bald als öf­fentliches Ärgernis betrach­tete. Touristen erzählten ebenfalls von einem be­trunkenen weißhaarigen Greis am Strand von Mallorca, dessen verdrosse­ner Gesang im­mer wieder den Zorn der zuständigen Ordnungshüter erregte:

My money is over the ocean!

My money is over the see!

O bring back my money to me!

Findige Strandräuber, die die kompositorische Sub­stanz des Liedes erkannten, machten daraus eine Schnulze, die heute die ganze Welt erobert hat und in­zwischen den Rang eines unsterbli­chen Volksliedes besitzt.

Alle weiteren Nachforschungen über das Schicksal Samuel Fieldings verliefen im Sande. Sein Lied ist das letzte Lebenszeichen, das der bewunderte Ge­lehrte uns hinterlassen hat. - Wir, die Zurückgeblie­benen, deren Träume von ei­nem glücklichen Leben auf ACROLL­AM sich zerschlagen haben, erinnern uns mit Wehmut an Samuel Fielding, den genialen Weltverbesserer und an seinen schmerzvollen Ge­sang, in dessen Melodie die Sehnsucht nach einer schöneren und besseren Welt für alle Zeiten leben­dig bleibt.

AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND

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