Читать книгу AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND - Erhard Schümmelfeder - Страница 4

DER FLIEGENFÄNGER VON SALIMA

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Eine Lagerfeuer-Geschichte


In der Schule der Besten spielte ich seit meinem Eintritt eine außerordentliche Rolle, denn ich, Ali Abbas III., Sohn des Sultans von Salima, genoss die angenehmen Vorrechte eines ehren­werten Mitglieds der Königlichen Fami­lie.

Ich muss zugeben: Meine Leistungen als Schü­ler des Internats waren eher mäßig, oft sogar kümmerlich, doch erhielt ich stets die höchstmöglichen Noten, ern­tete viel Lob und war der Liebling aller Lehrer. Von Geburt an hatte man mich zum Herren erzogen und in dem Bewusstsein bestärkt, naturge­mäß zum geistigen und körperlichen Adel unseres schönen Landes zu ge­hören. Meine Lehrer verstummten ehrfürchtig, wenn sie mich zu lang­weilen begannen; oft kuschten sie vor mir und waren eifrig be­müht, mein Wohlwollen zu erlangen. Auch meine Mitschüler kannten das Ge­bot der Schulord­nung, mir, einem Mitglied des Kö­nigs­hauses, mit Hochachtung zu begegnen und es nie­mals an ge­bührendem Respekt fehlen zu las­sen. So wurde ich erwartungsgemäß in jedem Jahr Klassenbe­ster mit Auszeichnung, siegte in allen sportlichen Wettkämpfen und durfte unter anhaltendem Beifall mei­ner Schulkameraden re­gelmäßig das Siegerpodest besteigen, um die Ehrenurkunde vom Direktor des In­ternats in Empfang zu nehmen.

Wenn es einmal zum Streit mit einem Mitschü­ler kam, besaß ich einen deutlichen Vorteil, näm­lich das gesetzlich verbriefte Recht des ersten Schlages, das etwaigen Widersachern bei An­drohung der Todesstrafe strikt untersagte, sich zu wehren. Ich konnte je­den Klassenkameraden zusammenzuschlagen, wenn es mir gefiel, doch war ich eher schwächlich gebaut, sodass ich häufiger Ohrfeigen oder Fußtritte an Al­tersgenossen verteilte, die meinen Unmut erregten. Wollte ein Schüler mich ansprechen, musste er üblicherweise demutsvoll das Haupt beugen und den Blick senken. Noch zu Jugendzeiten meines Vaters war es Sitte ge­wesen, dass Mitschüler sich vor einer Unterredung mit einem Mitglied unserer Fami­lie auf den Boden zu sei­nen Füssen werfen mussten, jedoch war diese Erschei­nungsform der Ehrerbietung im Laufe der Zeit aus der Mode gekommen und wurde nur noch bei Festlichkei­ten am Hofe praktiziert.

Auch Macuthee, der Sohn eines Fischers aus Me­s­cana, besuchte die Schule der Besten. Er er­regte meinen Zorn wiederholt, denn er sprach mich nicht mit »Hoheit« an, beugte weder sein Haupt, noch senkte er den Blick. Er überholte mich im 100-Meter-Lauf und erreichte fünf Se­kunden vor mir - zum Entset­zen aller Lehrer - die weiße Ziellinie. Ein Jubelschrei aus ein­hun­dert Kehlen hallte über den Sportplatz, doch schon im nächsten Moment verstummten die zuschauenden Mitschüler, als sie die Ungeheu­er­lichkeit dieses Ereig­nisses begriffen.

Macuthee hielt sich nicht an die Regeln, die die Ob­rigkeit für die Besten aufgestellt hatte. Eine Zeit lang beobachtete ich den sonderbaren Fischersohn, dessen Gebaren weder auf übertriebenen Stolz noch auf eine provozierende Absicht schließen ließ. Ich war in der Tat ein wenig irri­tiert. Man munkelte über ihn, er lese viele Bü­cher, auch ausländische, die offiziell als verbo­ten galten. Nur den Besten war es er­laubt, derlei Literatur aus der Bibliothek auszulei­hen, nachdem ein ent­sprechender Antrag am Ende eines langwierigen Ge­nehmigungsverfahrens abge­segnet worden war. Das Gesetz, welches den Besten das Ausleihen der Bücher ermöglichte, stammte noch aus der Zeit meines Großvaters und war aus Gründen der Traditionspflege bei­behalten worden. Macuthee reichte beinahe wöchent­lich eine Liste mit fünf, zehn, oft sogar fünfzehn Bü­chern beim Bi­bliothekar ein und versorgte sich wis­sensdurstig mit Lesestoff, was meinen Un­willen eben­falls erregte. Ich nahm Einblick in die Zeugnisse Macuthees und erfuhr: Er war ein viel­fältig begabter, jedoch zugleich recht einfältig gearteter Sohn armer Leute von der Küste. Wenn seine Noten auch die be­sten waren und die Empfehlungs­schreiben hin­terwäldlerischer Dorfschullehrer in den höch­sten Tönen von einer »förderungswürdigen Be­ga­bung« sprachen, mangelte es diesem Bur­schen, der so alt war wie ich, erheblich an Re­spekt vor einem bedeutenden Mitglied der Kö­niglichen Familie.

Eines Nachmittags saß Macuthee im Schatten des Mangobaumes am See und las in einem Band Hein­rich von Kleists. Es ärgerte mich, weil er wieder ei­nen deut­schen Dichter las. Im Unter­richt hatte er einen Lehrer in Erstaunen versetzt, als er den Faust auswendig aufsagen konnte. Ich ging also - während die Augen der anderen Schüler mich furcht­sam ver­folgten - zum Man­gobaum und schnalzte mit den Fingern. Macuthee blickte aus dem Buch auf, lä­chelte mich an, und las ruhig weiter. Ich schnalzte noch einmal mit den Fingern, diesmal etwas ungehaltener, und machte, als er zu mir herübersah, eine läppische Handbewe­gung, der unzweideutig zu entnehmen war, er solle sich gefälligst entfernen - und zwar hurtig. Er reagierte aber nicht auf diesen Wink. Also musste ich deutlicher werden. Auf diesem Platz un­ter dem Mangobaum, so erklärte ich ihm mit schwin­dender Geduld, hätte ich vor einiger Zeit gesessen und einen Pfirsich gegessen; dieser schöne Ort sei mein Ort. Jetzt endlich begriff Macuthee. Er blätterte eine Seite des Buches um und sagte mit ei­nem ironischen Lä­cheln etwas zu mir, das ich wohl nie im Leben verges­sen werde, weil es sich mir un­auslöschlich ins Bewusstsein brannte - er sagte näm­lich »Weggegangen - Platz vergangen!«

Ich trat näher an ihn heran und ohrfeigte ihn. Er war sichtlich überrascht. Ich ohrfeigte ihn noch­mals. Er rührte sich nicht vom Fleck. Im Augenwinkel sah ich meine Mitschüler, die aus sicherer Entfernung dieses kleine Exempel, das ich zu statu­ieren gedachte, beob­achteten. Lang­sam, sehr lang­sam ließ Macuthee das Buch sin­ken, steckte ein Le­sezeichen hinein und klappte es nachdenklich zu. Er hatte verstanden: Dies war kein Ort für höhere Lite­ratur. Warum lief er nicht sogleich davon? - Ich holte aus, um ihm einen gezielten Fußtritt zu geben, aber er hielt meinen rech­ten Fuß mit der linken Hand fest, hob ihn in die Höhe, wobei ich das Gleich­gewicht verlor und rückwärts in den See stürzte. Tropfnass kroch ich an Land, stellte mich auf die Beine und griff ihn mit den Händen an. Er schlug mir seine geballte Faust aufs linke Auge. Ich stürzte hart zu Boden, richtete mich wieder auf, ver­dutzt über das, was hier vorging. Es war unfassbar. Macuthee schlug mir seine beiden Fäuste in die Fresse, links, rechts, links, rechts, immer wieder, so dass ich für Augenblicke die Besinnung verlor. - »So«, rief er mir hinterher, als ich vor seinen Schlä­gen flüchtete, »das dürfte reichen!« Und er fügte hinzu: »Fürs erste!«

Als ich mit gebrochenem Nasenbein, geschwolle­nem Gesicht und verweinten Augen über die Schulwiese zum Hauptgebäude schlich, blickte ich in die fassungs­losen Gesichter meiner Mitschüler, die nicht glauben wollten, was sie vor sich sahen: einen verprügelten Sultanssohn. »Wer lacht, wird hingerichtet!«, brüllte ich ihnen entgegen, und kei­ner von ihnen wagte es, die Miene zu verziehen. To­tenstille herrschte, als ich auf mein Zimmer ging. Von meinem Fenster blickte ich hinunter auf den Schulhof und sah sie alle: Sie waren bis zum Zerplat­zen gespannt; mit fest aufeinanderge­pressten Lippen standen sie da und starrten sich an; sie lachten laut­los durch die Augen, aus denen schaden­frohe Trä­nen herauskullerten und über ihre zitternden Nasenflügel und Wangen flossen. Auf eine hinterhäl­tige Weise waren sie gemein zu mir. Konnten sie mich womöglich in Wahrheit nie ausstehen?

Ich wollte es Macuthee heimzahlen! Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn von den Sicherheitsbe­amten fest­nehmen und einkerkern zu lassen, doch ließ ich von diesem Vorhaben ab und kon­zentrierte mich auf eine persönliche Rache von Mann zu Mann: Ich übte wäh­rend der heißen Sommerferien, ließ mich von einem ägyptischen Boxmeister trainieren, der mich grün und blau prügelte und sich nach jedem Knockout flehent­lich bei mir entschuldigte: »Erbarmen, Herr! Erbarmen!« Ich zeigte mich gnädig und befahl ihm, bei künfti­gen Kämpfen im Ring die seiner Stellung ge­mäße De­mutshaltung einzunehmen. Fortan durfte er mir nur noch mit ge­senktem Haupt gegenübertreten, doch konnte ich zu meinem Kummer ge­gen ei­nen profes­sio­nellen Kämpfer, ein atmendes, schwit­zendes Bündel aus Muskeln, Sehnen und Kno­chen, nie und nim­mer bestehen. Ich gab An­wei­sung, ihm den rechten Arm auf den Rüc­ken zu binden, um durch eine Halbierung seiner physischen Überlegenheit die Chance für einen Sieg zu nutzen. Aber auch mit nur einem Arm schmetterte er mich brutal auf die Bretter. Erst als ich - der Verzweifelung nahe -, einen Base­ballschläger zu Hilfe nahm, gelang es mir, eine halbwegs gute Figur während des Kampfes ab­zugeben. Mit einem letzten befreienden Rund­schlag versetzte der Ägypter mir einen hefti­gen Stoss, wobei ich durch die Seile flog und mir den El­lenbogen an der Rücken­lehne eines Zu­schauerstuh­les verstauchte. Mit schmerzgequäl­tem Gesicht er­hob ich mich, um auf wackligen Beinen das Ender­gebnis des Kampfes zu erfah­ren.

»Unentschieden!! Eindeutig!!! Unentschie­den!!«, urteilten die drei un­parteiischen Ring­richter einmütig.

Ich aber jagte diese Heuchler und Speichellecker zum Teufel, legte mich auf die Bahre, die man vorsorglich für den Ägypter bereitgestellt hatte, und ließ mich in meine Ge­mächer tragen. -

Ich hatte kläglich versagt. Im­merhin, so sagte ich mir, war es mir gelungen, das Muskelbündel einmal durch einen wuchti­gen Schlag auf den kahlen Schädel ins Wanken zu brin­gen, was mich davor bewahrte, mein an­gegriffenes Selbstbewusstsein vollends zu verlie­ren. Das Erbärm­liche mei­ner von vornherein zum Scheitern verur­teilten Kraft­anstrengungen wurde mir allmählich bewusst. - Wenn es eine Möglichkeit gab, die emp­fangene Demütigung, den Stachel im Fleische, an Macuthee zurückzu­geben, musste ich sie finden.

Neben seiner Muttersprache beherrschte der Fischer­sohn aus Mescana neun Fremdsprachen, ganz abgese­hen von den Sprachen, die er voraussichtlich noch mü­helos erlernen konnte. Auf einmal packte mich ein nie gekannter Ehrgeiz. Ich wollte es Macuthee gleichtun! Ich wollte ihm ebenbürtig, nein, ich wollte ihm überle­gen sein! Zum ersten Male in meinem Leben widmete ich mich - zum Erstau­nen meiner Eltern und Ge­schwi­ster - vollständig meinen Schulbüchern und begann, das bereitlie­gende Wissen gierig zu verschlingen, wie ein trocke­ner Schwamm das Wasser aufzusaugen pflegt. Ich blätterte in den verbotenen Büchern, ich las in den er­laubten Bü­chern, ich lernte planlos und ohne tiefe­res Inter­esse an den Dingen. Ich machte meine Leh­rer verantwortlich, ließ sie von der Hofwache ver­prügeln, wenn mein überforderter Kopf sich wei­ger­te, auch nur noch ein Fünkchen Wissens­stoff auf­zunehmen, das sich ledergebunden und abrufbereit vor mir auf dem Schreibtisch türmte. - Ich gab auf, denn es war aussichtslos, was ich zu erreichen versuchte.

Kurzerhand entzog ich nach den Ferien Macuthee die Erlaubnis, weiterhin das Internat der Besten zu be­suchen und ließ ihn von Matcho Nolo, dem Mi­nister für alles Mögliche, persön­lich zur Ableistung eines einjährigen Pflichtjah­res an die Fliegenfänger­schule des Sultans von Salima einberufen. Das war, wie ich insge­heim erhoffte, ein demütigender Schachzug. Ich war fast überrascht, als Macuthee nicht floh, son­dern sei­nen Dienst zur festgesetzten Zeit antrat.

Ursprünglich war die Königliche Fliegenfän­gerschule ausschließlich zur Belustigung meines Vaters gegrün­det worden, doch im Laufe der Zeit erwiesen sich die Fliegenfänger in ihren rotgoldenen Uniformen eine touristische Attraktion; außerdem übernahmen sie eine nützliche Aufgabe , wenn sie - zumindest im Palast - die lästige Fliegenplage während der Som­merzeit in erträgli­chen Grenzen hielten. Un­ter Anlei­tung der stren­gen Meisterfliegenfänger meines Vaters erwies Macuthee sich - wie nicht anders erwartet - als äußerst gelehriger Schüler, den man aufgrund seiner offensichtlich angebo­renen Geschicklichkeit bald schon zur feierli­chen Abschlussprüfung im Palast zuließ. End­lich war es soweit, als Macuthee am Tage der Prü­fung, zusammen mit neun ängstlichen Flie­gen­fängerprüflin­gen den prunkvollen Festsaal des Palastes betrat, der übervoll war von Gästen aus al­ler Welt, die Vater, wie in jedem Jahr, zur Feier die­ses Ereignisses geladen hatte. Der Fischer­sohn war der Letzte in der Reihe der zehn Prüf­linge. Nur vier jungen Männern vor ihm ge­lang es, unter dem anspornenden Beifall des Publi­kums, die Prüfung ge­mäß den geltenden Regeln zu bestehen. Fünf unglückliche Versager wur­den mit Fußtritten aus dem Palast gejagt. Ich lachte mir ins Fäustchen, als Macuthee an die Reihe kam, rasch vor­trat und sich vor Vater auf den Boden warf, wie es der Tradition entsprach.

»Du kennst die Regeln?«, fragte mein Vater ihn, während er sich die linke Wange rieb, die ein ungeschickter Prüfling mit der Fliegen­klappe gestreift hatte.

»Ich kenne die Regeln!«, rief Macuthee, oh­ne den Kopf von den blanken Steinfliesen zu he­ben.

Und für alle Gäste, denen die Details der Prüfung nicht geläufig waren, wiederholte der Sultan von Sa­li­ma mit Gebieterstimme: »Zehn Flie­gen in einer Mi­nu­te!«

»Zehn Fliegen in einer Minute!« wiederholte Macuthee, doch fügte er gegen die geltende Re­gel hinzu: »Ich schaffe es in einer halben Minute!«

Murren, Raunen, Tuscheln erfüllten den Fest­saal.

»Das will ich sehen!«, rief Vater aufgebracht und rutschte an den Rand seines goldenen Thrones. Er ließ sogar die Wasserpfeife sinken, was seine Erregung anzeigte, denn in diesen Dingen verstand er durchaus keinen Spaß. Er gab dem Diener ein Zei­chen: der Gong ertönte; die Uhr wurde gedreht, während der Sand bedrohlich rasch durch die Öff­nung im Glas zu rieseln begann.

Macuthee schnellte empor, drehte sich spä­hend im Kreise, schritt flink bald hierhin, zack, zack, zack, bald dorthin, schnapp, flapp, klapp ... fing mit der Klappe fuchtelnd von der Nase eines Gastes, vom Busen einer Lady, vom Säbel eines Offiziers ... die leise summen­den schwar­zen Fliegen, die er auf das blaue Seidentuch in der Mitte des Saales warf. Tat­sächlich gelang es ihm, in nur zwanzig Sekunden, unter stürmischem Beifall des begeisterten Pu­blikums, die Prüfung zu bestehen. Im Fliegenfangen machte ihm keiner etwas vor. Meine gerade ver­heilte Nase begann heftig zu schmerzen, als ich sah, wie tief Vater von der Leistung des Fischer­sohnes aus Mescana beeindruckt war. »Gut, der Mann!«, brummte er lakonisch in seinen fin­steren Bartwald. - So erhielt Macuthee das Di­plom eines Meisterfliegen­fängers am Hofe des Sultans von Sali­ma. Er durfte seinen Arbeits­platz im Palast selber be­stimmen, und es wun­derte mich nicht, als er die Kö­nigliche Bi­blio­thek wählte.

Ich ließ Macuthee, der Vaters Wohlwollen besaß, heimlich beobachten, um ihn bei einem Vergehen am Hofe auf frischer Tat zu ertappen, doch melde­ten die geheimen Staatsdiener mir immer wieder, der Meisterfliegenfän­ger lasse sich nie auch nur das Ge­ringste zuschulden kommen, was mich verdross. Zu­sammen mit Matcho Nolo überwachte ich fortan täg­lich nach Schulschluss jeden Schritt und Tritt Macuthees am Bildschirm, ließ Wanzen in der Biblio­thek anbringen und zwei weitere Über­wa­chungskame­ras installieren. Es war den Flie­gen­fängern nicht aus­drücklich verboten, in den Bü­chern der Bibliothek zu lesen, da die meisten ohne­hin Analphabeten waren, doch erließ Matcho Nolo vorsorglich auf meinen Be­fehl hin einen zusätzlichen Paragraphen in der Palastordnung, der die öffentli­che Auspeitschung als Strafe bei Miss­achtung vor­sah. Nur einmal beob­achteten wir, wie Macuthee einen schweren Le­derband, der einige Zen­timeter im Regal über­stand, zurückschob in seine vor­geschrie­bene Position.

»Soll ich ihn festnehmen lassen?«, fragte mich Matcho Nolo aufgeregt.

»Abwarten!«, befahl ich in der Hoffnung, Macuthee werde die Palastordnung missachten und einen Band herausnehmen. - Entweder war er ge­schickter als wir annahmen, oder er in­teressierte sich nicht mehr für die verbotenen Bücher, die ihm, einem Gebildeten, wie eine unwiderstehliche Versu­chung er­scheinen mussten.

Sehr bald fanden wir den Grund seines plötzlichen Desinteresses heraus. Umgeben von wohlduf­tenden Mädchen in wehenden Gewändern, die je­den Tag in einem Vorhof der Biblio­thek für fotogra­fierende Tou­risten tanzten, ließ Macuthee die Bü­cher Bücher sein und hatte nur noch Augen für De­lila, eine blutjunge Tänzerin, die durch ihre Anmut und Grazie das Ent­züc­ken aller Besucher hervorrief. Geblendet von der Schönheit Delilas, vernachlässigte Macuthee zeitwei­lig seinen Dienst, versank in Tagträume­reien, irrte verstört mit seiner Fliegen­klappe durch die langen Bü­cherregal­reihen, ver­zehrte sich vor heimlicher Liebe zu ihr, die, wie von einer magischen Kraft beherrscht, immer öfter seine Nähe suchte. Sobald sie ihn be­merkte, begannen ihre Augen unter dem Schlei­er zu fun­keln, ich beobachtete es ganz deutlich. Mit Blicken freundeten sich die beiden an, um­armten sich und sagten mit den Augen Unsag­bares, das hier am Hofe strikt unter­sagt war.

Eines Tages, während einer Vorführpause, zog De­li­la einen farbigen Bildband über Venedig aus ei­ner lan­gen Bücherreihe und blätterte darin, schein­bar wiss­be­gierig, während sich Macuthee in seiner Fliegenfän­ge­runiform unauf­fällig näherte. Gebannt sahen Matcho Nolo und ich am Bildschirm diese unabwendbare Be­geg­nung zweier Liebender. Ich er­höhte die Laut­stärke am Regler des Monitors, um jedes Wort, das sie mit­einander wechseln würden, hören zu können.

»Das ist die Seufzerbrücke«, hörte ich Macuthee sa­gen. Zwischen ihnen bestand bereits eine gewisse Vertrautheit.

»Wie belesen du bist!«, sagte das Mädchen. »Warum heißt sie denn Seufzerbrücke

»Das weiß doch jedes Kind«, antwortete Macuthee.

»Nun«, sagte Delila, »ich weiß es nicht. - Außerdem«, fügte sie mit einem verliebten weiblichen Un­terton hinzu, »bin ich kein Kind mehr!«

Das stimmte. Sie war ein schönes Mädchen und blickte ihn mit verführerischen Augen an, die mich daran erinnerten, dass ich selbst in den Angelegenheiten der Liebe noch ein recht unbe­schriebenes Blatt war.

Macuthee flüsterte: »Wenn die Gefangenen über die Brücke ins gegenüberliegende Gefäng­nis geführt wur­den, warfen sie einen letzten Blick auf das Was­ser und die Stadt und seufzten über die verlorene Freiheit.«

»Stimmt das?«, fragte ich Matcho Nolo, der die Ach­seln zuckte und einen Finger in den Mund steckte.

»Verzeiht, Hoheit«, stammelte er verlegen, »ich bin ein Unwissender.«

Es ärgerte mich, weil er, der immerhin das ho­he Staatsamt des Ministers für alles Mögliche bekleidete, nicht einmal diese simple Frage be­antworten konn­te.

»Nachprüfen!«, befahl ich ihm.

Es war, als hätte meine erregte Stimme die beiden Liebenden draußen in der kathedralenartigen Bi­blio­thek gewarnt, denn sie trennten sich mit eiligen Schritten voneinander und ver­schwanden in einem Seitengang, der von keiner Kamera überwacht wurde.

»Stimmt alles haargenau, Hoheit!«, meldete Matcho Nolo mir nach einer Stunde triumphierend. »Sollen wir sie festnehmen lassen?«

Dass die beiden miteinander gesprochen hat­ten, war nur ein geringfügiges Vergehen und hätte Macuthee allenfalls zwanzig Stockschläge auf die nackten Fuß­sohlen eingebracht - daher sagte ich nur: »Abwarten!«

»Wie Eure Hoheit befehlen!«

Die folgenden Tage brachten eine merkwür­dige Ver­änderung der Lage, denn Vater hatte auf dunkelhaften Wegen, möglicherweise durch den Brief eines empör­ten Dorflehrers aus der Provinz, von der Belesenheit des Fischersohnes aus Mescana gehört, ließ ihn wie­derholt zu sich kommen und führte lange Gespräche mit ihm, über die am Hofe nur schwätzerhafte Gerüch­te kursierten. Allmählich drangen Einzelheiten je­ner Unterredungen an die Öffentlichkeit, die Matcho Nolo und ich in ver­schwörerischem Beisammensein mitein­ander be­sprachen. Es erschien uns höchst sonderbar, ja, be­fremdlich, als wir erfuhren, Vater habe einem einfachen Fliegenfän­ger sein Leid darüber geklagt, umgeben zu sein von unfähigen, schläfrigen und korrupten Beamten. Macuthee solle dem Sultan von Sali­ma eine Reihe dubioser Verbesserungsvorschlä­ge für die Amts­füh­rung unterbreitet haben, die mit einer Revolution gleichzusetzen seien: Durch die Einführung von soge­nannten Not­standsgesetzen sei es möglich, binnen eines ein­zigen Jahres zu einem perfekt orga­nisierten, rasch und effektiv arbeitenden Beamten­wesen in Salima zu gelangen. Die Prügelstrafe für korrup­te Beamte sollte unter dem Gesetz Wer nicht hö­ren will, muss fühlen! eingeführt werden. Schläf­ri­gen Staatsdienern sollte der Beförderungsstop dro­hen: Wer rostet, der rastet! Der Beginn der Arbeits­zeit, im Behördenapparat bisher lax ein­gehalten, sollte festgelegt werden mit dem neuen Gesetz Mor­genstund hat Gold im Mund! Die Liste der einzufüh­renden Notstandsgesetze war sehr lang und umfasste auch andere gesellschaftliche Bereiche; sie endete mit eine Aufhe­bung des Gesetzes, das die ver­botenen Bücher nur den Besten erlaubte sowie mit der Ein­rich­tung öffentlicher Bibliotheken für jedermann - : unvorstellbar, denn Bücher galten als verwerf­lich, gerade dann, wenn sie die fragwürdigen Weis­heiten ausländischer Kulturkreise beinhal­teten - so lauteten die überlieferten Gebote unse­rer Vorfahren. Es interes­sierte mich, wie Vater auf diese Vor­schläge reagiert hatte oder noch reagieren würde.

Einige Tage geschah nichts Nennenswertes bei Hofe. Matcho Nolo und ich glaubten, alle Gerüchte über den Inhalt jener Gespräche zwischen meinem Vater und Macuthee seinen mög­licherweise nichts als leeres Gerede, da der Fliegenfänger - wie bisher - sei­nen Dienst zu verrichten begann.

»Sollen wir ihn weiter beobachten?«, fragte Matcho Nolo.

»Dranbleiben!«, befahl ich.

Tatsächlich ereignete sich noch am selben Abend etwas für Macuthee Belastendes, das der Mi­nister für alles Mögliche und ich gebannt am Bild­schirm verfolg­ten: Es war ein heimliches Gespräch zwischen Macuthee und Delila, das sie neben einer Marmor­säule führten, als sie sich unbeobachtet fühlten.

»Liebst du mich wirklich?«, fragte das Mäd­chen.

»Natürlich«, sagte Macuthee.»Warum fragst du?«

»Ich habe dich beobachtet. Du blickst auch den an­de­ren Mädchen nach!«

»So, tue ich das?«

»Versuche nicht zu leugnen!«

»Na schön, ich gestehe reumütig.«

»Genüge ich dir denn nicht?«

»Du kannst Fragen stellen! Selbstverständlich genügst du mir.«

»Dann verstehe ich nicht, weshalb du den anderen Mädchen nachblickst.«

»Darin liegt keine böse Absicht«, versuchte Macuthee zu erklären.

»Was sonst?«

»Ein Mann, der einer Frau nachblickt, stellt ledig­lich theoretisch fest, was sie verspricht und was sie even­tuell halten könnte. Das ist alles.«

Diese Antwort schien Delila zu befriedigen. Mir aber ließ sie keine Ruhe.

»Stimmt das?«, fragte ich Matcho Nolo.

»Hoheit, ich bitte um Nachsicht. Ich bin ein -«

»Überprüfen!« kommandierte ich, und der Minister für alles Mögliche entfernte sich rück­wärts ge­hend aus dem Beobachtungsraum, in dem ich nun allein Zeuge des weiteren Ge­sprächs zwischen Macuthee und Delila wurde.

»Halte ich denn, was ich verspreche?« wollte sie wissen.

»Bestimmt -«, flüsterte er zuversichtlich.

Sie schluckte und blickte ihm versonnen tief in die Augen. Kaum vernehmbar hauchte sie die zärtlichen Worte: »Probieren wirs aus?«

Dann gingen sie auf ihr Zimmer, fernab jeder Ka­me­ra, jeder einsatzbereiten Wanze, um das Unaussprechliche zu tun. Ich versuchte zu läu­ten, aber die Glocke hatte keinen Plöckel; auch der Alarmknopf, den ich betätigte, zeigte keine Wirkung - wahr­schein­lich schliefen die Wachen betrunken, wie so oft, draußen im Garten. Ich lief durch die Seitenflü­gel des Pa­lastes, stolperte über die Stufen einer Treppe, und er­reichte die Registratur der Bibliothek, wo ich Matcho Nolo traf, der hilflos in der Königli­chen Datei herum­suchte und ängstlich zusammen­zuckte, als er mich im Halb­dunkel erkannte.

»Hoheit, ich bitte um Nachsicht!«, flehte er.»Wo - wo soll ich nur nachschlagen?«

»Maul halten!«, befahl ich ihm. So­gleich verstummte er. »Wo ist das Zimmer des Mädchens?«

Er wusste es nicht. Er wusste überhaupt nichts. Ich ärgerte mich über seine völlige Unfähigkeit und ver­stand zum ersten Male Vater, wenn er sich über den schleppend funktionierenden Be­amtenapparat be­klag­te. Es dauerte lange, bis wir zusammen genü­gend nüchterne Wachen mobilisiert hatten, um das Zimmer des Mädchens zu erstürmen. Ich selbst lei­tete die nächtliche Aktion. Ich wusste: Das Unaussprechliche war längst geschehen und ließ sich nicht mehr ver­hindern.

Plötzlicher als ich erwartet hatte, stand mir Macuthee, beim Verlassen des Zimmers, gewarnt vom Lärm der säbelrasselnden Wa­chen, gegenüber. Einen Moment blickten wir uns nur grimmig an, zwei Todfeinde, die sich nichts zu sagen hatten.

»Habe ich dich endlich erwischt!«, rief ich aus. »Wachen! Festnehmen!«

Noch bevor die zögernd voranmarschierenden Po­sten ihn ergreifen konnten, schlug mir Macuthee eine Faust in die Fresse, wodurch ich hart auf die Flie­sen stürzte, kurz die Besinnung verlor und nicht ge­nau verfolgen konnte, was nun geschah. Ich nahm wahr: Ein metallischer Gegenstand flog ge­gen eine Dec­kenlampe... Handgemenge im Dunkeln. Kettengeklirr. Stoßenreißenfluchen. Geräusche brechender Knochen. Schreie. Gewimmer ...

»Was ist geschehen?«, hörte ich mich in der Finsternis des Ganges rufen.

»Was ist gestern Nacht hier geschehen?«, hörte ich am Vormittag des folgenden Tages Vater in seinem Amtszimmer fragen, erregt darüber, dass hier Dinge geschahen, von deren Entwicklung er nichts wusste. Mein Kopf steckte in einem Gipsverband, ich konn­te nicht antworten. Matcho Nolo beschrieb Vater, was sich ereignet hatte: Macuthee, der Mei­sterfliegen­fänger verbo­tenerweise im Zimmer einer Tänzerin; auf fri­scher Tat ertappt, nächtlicher Kampf im Palast; acht Wachen mit gebrochenem Nasenbein; Ali Abbas III. verletzt (Nasenbein); der Minister für alles Mögliche unverletzt (göttliche Fü­gung); Flucht des Fliegenfängers und der Tänzerin; Verfolgung der beiden bis zu den Klippen; Ret­tung der Flüchtigen durch einen to­desmutigen Sprung vom Felsen ins Meer; Verfolgung der Entkomme­nen durch die Haibucht; die Spur verloren am Ufer; weitere Flucht wahrschein­lich mit gestohlenem Ka­nu durch den Dschun­gel...

»Ein Tausendsassa!«, rief Vater mit bewegter Stim­me.»Gut, der Mann!«

»Hoheit, ich verstehe nicht -«, sagte Matcho Nolo zö­gernd.

»Das ist ein Mann nach meinem Geschmack!«, sagte Vater mit deutlicher Begeisterung. »Kein Schwätzer, kein Waschlappen, sondern ein gan­zer Kerl mit Biss!«

»Jawohl, mit Biss!«, stammelte der Minister für alles Mögliche.

»Einer, der die Ärmel hochkrempelt und seine Sa­che anpackt!«

»Anpackt. Jawohl!«

Ich war sprachlos und verstand die Welt nicht mehr.

»Holt mir diesen Burschen!«

»Tot oder lebend, Hoheit?«

»Lebend, ihr Narren!«, brüllte Vater und warf uns ei­nen verachtungsvollen Blick zu.

Die Entwicklung des Geschehens war für uns un­be­greiflich. Vater ließ die gegen Macuthee erhobene Anklage noch am gleichen Tage fallen und verkün­dete persönlich über Rundfunk und Fernsehen die Nach­richt hierüber im ganzen Lande. Bereits wenige Tage später erhielt Macuthee Audienz im Palast des Sultans von Salima, um seine öffentliche Rehabilita­tion aus dem Munde meines Vaters zu vernehmen. Das war schlimm für mich. Vater gewährte Matcho Nolo einen Urlaub von einem Tag, um wäh­rend seiner Abwesen­heit ein neues Gesetz ins Leben zu rufen. Als Matcho Nolo, der auf sei­nem Posten als Minister für alles Mögliche rund und fett geworden war, nach Ablauf seines Ur­laubs zurückkehrte, klag­te er Vater sein Leid, indem er fassungslos berich­tete, sein Mini­sterpo­sten sei irrtümlich mit Macuthee besetzt wor­den.

»Das ist kein Irrtum«, belehrte mein Vater ihn. »Du hast dich heute morgen um vier Minuten verspätet. Das neue Gesetz sieht für unpünktli­che Staats­diener eine empfindliche Strafe vor.«

»Was für ein Gesetz?«, fragte der entgeisterte Matcho Nolo.

»Weggegangen - Platz vergangen!«, erläuterte Va­ter ihm mit schlichten Worten den Inhalt der revolutionären Verfassungsänderung.

Es blieb uns nichts anderes übrig, als verbittert dem Fortgang der weiteren Ereignisse tatenlos und macht­los zuzusehen.

Macuthee feierte mit Delila Hochzeit. Eine lange Reihe mit Tischen, die sich durchs ganze Land - von der Meeresküste bis zu den staubi­gen Steinbrüchen Salimas - erstreckte, wurde aufgestellt und mit köst­li­chen Speisen und kühlenden Getränken beladen. Alle Einwohner un­seres kleinen Reiches waren zur Hochzeitsfeier eingeladen. Eine grandiose Oper mit dem Titel Der Fliegenfänger von Salima wurde mit über­wälti­gem Erfolg uraufgeführt. Lieder, Gedichte und Legen­den über den Fischersohn aus Me­scana gingen von Mund zu Mund ... Ich grämte mich vor Neid und Ent­täuschung.

Als reformfreudiger Minister für alles Mögli­che setzte Macuthee wesentliche Veränderungen durch, die sogar die mürrische Opposition im Lande mit Va­ter versöhnten. Auch die Schulre­form stand auf dem Plan meines einstigen Klas­senkameraden. Ich selbst war das erste Opfer dieser für mich unerwarteten Ver­änderungen. Das Recht des ersten Schlages wurde kurzer­hand abgeschafft und durch das Recht auf Not­wehr ersetzt. Damit war ich so gut wie vogelfrei. Es versetzte meinem gedemütigten Herzen ei­nen weiteren schmerzvollen Stoss, als mein letz­tes Zeug­nis vom Di­rektor des Internats gnaden­los storniert wurde. Das hätte er nicht tun dür­fen. Ich dachte sogar daran, mei­nem Leben ein Ende zu setzen, nachdem ich die Auf­nahmeprü­fung an der Schule der Besten auch nach drei Anläufen nicht bestanden hatte, doch fasste ich neuen Mut und beschloss, mich in Abendkursen weiterzubil­den, um wenigstens in den mittleren Staatsdienst zu gelangen. Alle meine Kraftan­strengungen erwiesen sich als vergeb­lich, denn mir fehlte das, was Vater treffend den »richtigen Biss« nannte. Als ich Vater bei einem Mittags­mahl dezent darauf hinwies, auch ich wäre gern Minister für alles Mögliche geworden, verschluckte er sich fast an einem Hähnchenkno­chen und sagte verständnislos nur: »Quatsch!«

Vom Leben und seinen harten, unmenschli­chen Be­dingungen ernüchtert, lungerte ich wo­chenlang im Pa­last herum, ohne Aussicht auf ei­ne rosige Zukunft, die man mir einst an der Wiese prophezeit hatte. Ich war restlos über­zeugt von meiner eigenen Unfähigkeit. Ich war am Ende... Am Strand von Salima legte ich mich in den warmen Sand und jammerte grämlich vor mich hin. Ich wartete auf die Flut, die sich mit schäumenden Wogen dem Ufer zu nähern begann. Zum Glück schlief ich ein, noch bevor die Wellen meinen ge­krümmten Körper er­reich­ten...


Ein metallisches Geräusch weckte mich. Ich lag in meinem Internatszimmer. Es war später Nach­mittag. Wie lange hatte ich geschlafen? Be­nommen richte­te ich mich auf und ging zum Fenster, dessen Gardine leicht im Winde schau­kelte. Auf dem Schulhof sah ich meine Klassen­kameraden, die sich beim Hufeisenwer­fen ver­gnügten. Im Schatten des Mangobaumes am See saß Macuthee und las in ei­nem Buch. Ich ging hinunter auf die Schulwiese und näherte mich langsam dem Fischersohn aus Mescana, der mir, obwohl wir nur wenige Worte seit seiner An­kunft miteinander gewechselt hatten, so vertraut war wie ein Bruder. Eine Fliege setzte sich auf meine rechte Hand. Ich schnippte mit den Fin­gern, um sie zu vertreiben. Macuthee blickte auf, als er mich näherkommen hörte, lächelte mich freundlich an. Auf diesem Platz unter dem Man­gobaum, so erklärte ich ihm, hätte ich vor eini­ger Zeit gesessen und eine Apfelsine gegessen; dieser Platz sei ein herrlicher Ort zum Studieren. Macuthee sagte, für heute habe er genug gele­sen, er würde jetzt viel lieber Entenwerfen üben. Er fragte mich, ob ich auch Lust dazu hätte. Ja, sagte ich. Er ließ das Buch sinken, schlug es zu und richtete sich auf. Wir sam­melten ein paar flache Steine und warfen sie schräg über die glatte Fläche des glitzernden Sees. Wir ver­folgten den Flug der Steine, die über das Wasser hüpften, und zählten laut mit, wie oft sie die Oberfläche berührten. Macuthee schaffte mei­stens neun, einmal sogar elf Sprünge. Mir gelan­gen oft fünfzig, zweimal sogar dreiundfünfzig hüpfen­de Sprünge. Im En­tenwerfen war ich - seit ich denken konnte - un­schlagbar und hoffte darauf, es auch noch eine lange Weile zu bleiben ...

AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND

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