Читать книгу AUSNAHMEZUSTAND IM SCHLARAFFENLAND - Erhard Schümmelfeder - Страница 4
DER FLIEGENFÄNGER VON SALIMA
ОглавлениеEine Lagerfeuer-Geschichte
In der Schule der Besten spielte ich seit meinem Eintritt eine außerordentliche Rolle, denn ich, Ali Abbas III., Sohn des Sultans von Salima, genoss die angenehmen Vorrechte eines ehrenwerten Mitglieds der Königlichen Familie.
Ich muss zugeben: Meine Leistungen als Schüler des Internats waren eher mäßig, oft sogar kümmerlich, doch erhielt ich stets die höchstmöglichen Noten, erntete viel Lob und war der Liebling aller Lehrer. Von Geburt an hatte man mich zum Herren erzogen und in dem Bewusstsein bestärkt, naturgemäß zum geistigen und körperlichen Adel unseres schönen Landes zu gehören. Meine Lehrer verstummten ehrfürchtig, wenn sie mich zu langweilen begannen; oft kuschten sie vor mir und waren eifrig bemüht, mein Wohlwollen zu erlangen. Auch meine Mitschüler kannten das Gebot der Schulordnung, mir, einem Mitglied des Königshauses, mit Hochachtung zu begegnen und es niemals an gebührendem Respekt fehlen zu lassen. So wurde ich erwartungsgemäß in jedem Jahr Klassenbester mit Auszeichnung, siegte in allen sportlichen Wettkämpfen und durfte unter anhaltendem Beifall meiner Schulkameraden regelmäßig das Siegerpodest besteigen, um die Ehrenurkunde vom Direktor des Internats in Empfang zu nehmen.
Wenn es einmal zum Streit mit einem Mitschüler kam, besaß ich einen deutlichen Vorteil, nämlich das gesetzlich verbriefte Recht des ersten Schlages, das etwaigen Widersachern bei Androhung der Todesstrafe strikt untersagte, sich zu wehren. Ich konnte jeden Klassenkameraden zusammenzuschlagen, wenn es mir gefiel, doch war ich eher schwächlich gebaut, sodass ich häufiger Ohrfeigen oder Fußtritte an Altersgenossen verteilte, die meinen Unmut erregten. Wollte ein Schüler mich ansprechen, musste er üblicherweise demutsvoll das Haupt beugen und den Blick senken. Noch zu Jugendzeiten meines Vaters war es Sitte gewesen, dass Mitschüler sich vor einer Unterredung mit einem Mitglied unserer Familie auf den Boden zu seinen Füssen werfen mussten, jedoch war diese Erscheinungsform der Ehrerbietung im Laufe der Zeit aus der Mode gekommen und wurde nur noch bei Festlichkeiten am Hofe praktiziert.
Auch Macuthee, der Sohn eines Fischers aus Mescana, besuchte die Schule der Besten. Er erregte meinen Zorn wiederholt, denn er sprach mich nicht mit »Hoheit« an, beugte weder sein Haupt, noch senkte er den Blick. Er überholte mich im 100-Meter-Lauf und erreichte fünf Sekunden vor mir - zum Entsetzen aller Lehrer - die weiße Ziellinie. Ein Jubelschrei aus einhundert Kehlen hallte über den Sportplatz, doch schon im nächsten Moment verstummten die zuschauenden Mitschüler, als sie die Ungeheuerlichkeit dieses Ereignisses begriffen.
Macuthee hielt sich nicht an die Regeln, die die Obrigkeit für die Besten aufgestellt hatte. Eine Zeit lang beobachtete ich den sonderbaren Fischersohn, dessen Gebaren weder auf übertriebenen Stolz noch auf eine provozierende Absicht schließen ließ. Ich war in der Tat ein wenig irritiert. Man munkelte über ihn, er lese viele Bücher, auch ausländische, die offiziell als verboten galten. Nur den Besten war es erlaubt, derlei Literatur aus der Bibliothek auszuleihen, nachdem ein entsprechender Antrag am Ende eines langwierigen Genehmigungsverfahrens abgesegnet worden war. Das Gesetz, welches den Besten das Ausleihen der Bücher ermöglichte, stammte noch aus der Zeit meines Großvaters und war aus Gründen der Traditionspflege beibehalten worden. Macuthee reichte beinahe wöchentlich eine Liste mit fünf, zehn, oft sogar fünfzehn Büchern beim Bibliothekar ein und versorgte sich wissensdurstig mit Lesestoff, was meinen Unwillen ebenfalls erregte. Ich nahm Einblick in die Zeugnisse Macuthees und erfuhr: Er war ein vielfältig begabter, jedoch zugleich recht einfältig gearteter Sohn armer Leute von der Küste. Wenn seine Noten auch die besten waren und die Empfehlungsschreiben hinterwäldlerischer Dorfschullehrer in den höchsten Tönen von einer »förderungswürdigen Begabung« sprachen, mangelte es diesem Burschen, der so alt war wie ich, erheblich an Respekt vor einem bedeutenden Mitglied der Königlichen Familie.
Eines Nachmittags saß Macuthee im Schatten des Mangobaumes am See und las in einem Band Heinrich von Kleists. Es ärgerte mich, weil er wieder einen deutschen Dichter las. Im Unterricht hatte er einen Lehrer in Erstaunen versetzt, als er den Faust auswendig aufsagen konnte. Ich ging also - während die Augen der anderen Schüler mich furchtsam verfolgten - zum Mangobaum und schnalzte mit den Fingern. Macuthee blickte aus dem Buch auf, lächelte mich an, und las ruhig weiter. Ich schnalzte noch einmal mit den Fingern, diesmal etwas ungehaltener, und machte, als er zu mir herübersah, eine läppische Handbewegung, der unzweideutig zu entnehmen war, er solle sich gefälligst entfernen - und zwar hurtig. Er reagierte aber nicht auf diesen Wink. Also musste ich deutlicher werden. Auf diesem Platz unter dem Mangobaum, so erklärte ich ihm mit schwindender Geduld, hätte ich vor einiger Zeit gesessen und einen Pfirsich gegessen; dieser schöne Ort sei mein Ort. Jetzt endlich begriff Macuthee. Er blätterte eine Seite des Buches um und sagte mit einem ironischen Lächeln etwas zu mir, das ich wohl nie im Leben vergessen werde, weil es sich mir unauslöschlich ins Bewusstsein brannte - er sagte nämlich »Weggegangen - Platz vergangen!«
Ich trat näher an ihn heran und ohrfeigte ihn. Er war sichtlich überrascht. Ich ohrfeigte ihn nochmals. Er rührte sich nicht vom Fleck. Im Augenwinkel sah ich meine Mitschüler, die aus sicherer Entfernung dieses kleine Exempel, das ich zu statuieren gedachte, beobachteten. Langsam, sehr langsam ließ Macuthee das Buch sinken, steckte ein Lesezeichen hinein und klappte es nachdenklich zu. Er hatte verstanden: Dies war kein Ort für höhere Literatur. Warum lief er nicht sogleich davon? - Ich holte aus, um ihm einen gezielten Fußtritt zu geben, aber er hielt meinen rechten Fuß mit der linken Hand fest, hob ihn in die Höhe, wobei ich das Gleichgewicht verlor und rückwärts in den See stürzte. Tropfnass kroch ich an Land, stellte mich auf die Beine und griff ihn mit den Händen an. Er schlug mir seine geballte Faust aufs linke Auge. Ich stürzte hart zu Boden, richtete mich wieder auf, verdutzt über das, was hier vorging. Es war unfassbar. Macuthee schlug mir seine beiden Fäuste in die Fresse, links, rechts, links, rechts, immer wieder, so dass ich für Augenblicke die Besinnung verlor. - »So«, rief er mir hinterher, als ich vor seinen Schlägen flüchtete, »das dürfte reichen!« Und er fügte hinzu: »Fürs erste!«
Als ich mit gebrochenem Nasenbein, geschwollenem Gesicht und verweinten Augen über die Schulwiese zum Hauptgebäude schlich, blickte ich in die fassungslosen Gesichter meiner Mitschüler, die nicht glauben wollten, was sie vor sich sahen: einen verprügelten Sultanssohn. »Wer lacht, wird hingerichtet!«, brüllte ich ihnen entgegen, und keiner von ihnen wagte es, die Miene zu verziehen. Totenstille herrschte, als ich auf mein Zimmer ging. Von meinem Fenster blickte ich hinunter auf den Schulhof und sah sie alle: Sie waren bis zum Zerplatzen gespannt; mit fest aufeinandergepressten Lippen standen sie da und starrten sich an; sie lachten lautlos durch die Augen, aus denen schadenfrohe Tränen herauskullerten und über ihre zitternden Nasenflügel und Wangen flossen. Auf eine hinterhältige Weise waren sie gemein zu mir. Konnten sie mich womöglich in Wahrheit nie ausstehen?
Ich wollte es Macuthee heimzahlen! Es wäre ein Leichtes gewesen, ihn von den Sicherheitsbeamten festnehmen und einkerkern zu lassen, doch ließ ich von diesem Vorhaben ab und konzentrierte mich auf eine persönliche Rache von Mann zu Mann: Ich übte während der heißen Sommerferien, ließ mich von einem ägyptischen Boxmeister trainieren, der mich grün und blau prügelte und sich nach jedem Knockout flehentlich bei mir entschuldigte: »Erbarmen, Herr! Erbarmen!« Ich zeigte mich gnädig und befahl ihm, bei künftigen Kämpfen im Ring die seiner Stellung gemäße Demutshaltung einzunehmen. Fortan durfte er mir nur noch mit gesenktem Haupt gegenübertreten, doch konnte ich zu meinem Kummer gegen einen professionellen Kämpfer, ein atmendes, schwitzendes Bündel aus Muskeln, Sehnen und Knochen, nie und nimmer bestehen. Ich gab Anweisung, ihm den rechten Arm auf den Rücken zu binden, um durch eine Halbierung seiner physischen Überlegenheit die Chance für einen Sieg zu nutzen. Aber auch mit nur einem Arm schmetterte er mich brutal auf die Bretter. Erst als ich - der Verzweifelung nahe -, einen Baseballschläger zu Hilfe nahm, gelang es mir, eine halbwegs gute Figur während des Kampfes abzugeben. Mit einem letzten befreienden Rundschlag versetzte der Ägypter mir einen heftigen Stoss, wobei ich durch die Seile flog und mir den Ellenbogen an der Rückenlehne eines Zuschauerstuhles verstauchte. Mit schmerzgequältem Gesicht erhob ich mich, um auf wackligen Beinen das Endergebnis des Kampfes zu erfahren.
»Unentschieden!! Eindeutig!!! Unentschieden!!«, urteilten die drei unparteiischen Ringrichter einmütig.
Ich aber jagte diese Heuchler und Speichellecker zum Teufel, legte mich auf die Bahre, die man vorsorglich für den Ägypter bereitgestellt hatte, und ließ mich in meine Gemächer tragen. -
Ich hatte kläglich versagt. Immerhin, so sagte ich mir, war es mir gelungen, das Muskelbündel einmal durch einen wuchtigen Schlag auf den kahlen Schädel ins Wanken zu bringen, was mich davor bewahrte, mein angegriffenes Selbstbewusstsein vollends zu verlieren. Das Erbärmliche meiner von vornherein zum Scheitern verurteilten Kraftanstrengungen wurde mir allmählich bewusst. - Wenn es eine Möglichkeit gab, die empfangene Demütigung, den Stachel im Fleische, an Macuthee zurückzugeben, musste ich sie finden.
Neben seiner Muttersprache beherrschte der Fischersohn aus Mescana neun Fremdsprachen, ganz abgesehen von den Sprachen, die er voraussichtlich noch mühelos erlernen konnte. Auf einmal packte mich ein nie gekannter Ehrgeiz. Ich wollte es Macuthee gleichtun! Ich wollte ihm ebenbürtig, nein, ich wollte ihm überlegen sein! Zum ersten Male in meinem Leben widmete ich mich - zum Erstaunen meiner Eltern und Geschwister - vollständig meinen Schulbüchern und begann, das bereitliegende Wissen gierig zu verschlingen, wie ein trockener Schwamm das Wasser aufzusaugen pflegt. Ich blätterte in den verbotenen Büchern, ich las in den erlaubten Büchern, ich lernte planlos und ohne tieferes Interesse an den Dingen. Ich machte meine Lehrer verantwortlich, ließ sie von der Hofwache verprügeln, wenn mein überforderter Kopf sich weigerte, auch nur noch ein Fünkchen Wissensstoff aufzunehmen, das sich ledergebunden und abrufbereit vor mir auf dem Schreibtisch türmte. - Ich gab auf, denn es war aussichtslos, was ich zu erreichen versuchte.
Kurzerhand entzog ich nach den Ferien Macuthee die Erlaubnis, weiterhin das Internat der Besten zu besuchen und ließ ihn von Matcho Nolo, dem Minister für alles Mögliche, persönlich zur Ableistung eines einjährigen Pflichtjahres an die Fliegenfängerschule des Sultans von Salima einberufen. Das war, wie ich insgeheim erhoffte, ein demütigender Schachzug. Ich war fast überrascht, als Macuthee nicht floh, sondern seinen Dienst zur festgesetzten Zeit antrat.
Ursprünglich war die Königliche Fliegenfängerschule ausschließlich zur Belustigung meines Vaters gegründet worden, doch im Laufe der Zeit erwiesen sich die Fliegenfänger in ihren rotgoldenen Uniformen eine touristische Attraktion; außerdem übernahmen sie eine nützliche Aufgabe , wenn sie - zumindest im Palast - die lästige Fliegenplage während der Sommerzeit in erträglichen Grenzen hielten. Unter Anleitung der strengen Meisterfliegenfänger meines Vaters erwies Macuthee sich - wie nicht anders erwartet - als äußerst gelehriger Schüler, den man aufgrund seiner offensichtlich angeborenen Geschicklichkeit bald schon zur feierlichen Abschlussprüfung im Palast zuließ. Endlich war es soweit, als Macuthee am Tage der Prüfung, zusammen mit neun ängstlichen Fliegenfängerprüflingen den prunkvollen Festsaal des Palastes betrat, der übervoll war von Gästen aus aller Welt, die Vater, wie in jedem Jahr, zur Feier dieses Ereignisses geladen hatte. Der Fischersohn war der Letzte in der Reihe der zehn Prüflinge. Nur vier jungen Männern vor ihm gelang es, unter dem anspornenden Beifall des Publikums, die Prüfung gemäß den geltenden Regeln zu bestehen. Fünf unglückliche Versager wurden mit Fußtritten aus dem Palast gejagt. Ich lachte mir ins Fäustchen, als Macuthee an die Reihe kam, rasch vortrat und sich vor Vater auf den Boden warf, wie es der Tradition entsprach.
»Du kennst die Regeln?«, fragte mein Vater ihn, während er sich die linke Wange rieb, die ein ungeschickter Prüfling mit der Fliegenklappe gestreift hatte.
»Ich kenne die Regeln!«, rief Macuthee, ohne den Kopf von den blanken Steinfliesen zu heben.
Und für alle Gäste, denen die Details der Prüfung nicht geläufig waren, wiederholte der Sultan von Salima mit Gebieterstimme: »Zehn Fliegen in einer Minute!«
»Zehn Fliegen in einer Minute!« wiederholte Macuthee, doch fügte er gegen die geltende Regel hinzu: »Ich schaffe es in einer halben Minute!«
Murren, Raunen, Tuscheln erfüllten den Festsaal.
»Das will ich sehen!«, rief Vater aufgebracht und rutschte an den Rand seines goldenen Thrones. Er ließ sogar die Wasserpfeife sinken, was seine Erregung anzeigte, denn in diesen Dingen verstand er durchaus keinen Spaß. Er gab dem Diener ein Zeichen: der Gong ertönte; die Uhr wurde gedreht, während der Sand bedrohlich rasch durch die Öffnung im Glas zu rieseln begann.
Macuthee schnellte empor, drehte sich spähend im Kreise, schritt flink bald hierhin, zack, zack, zack, bald dorthin, schnapp, flapp, klapp ... fing mit der Klappe fuchtelnd von der Nase eines Gastes, vom Busen einer Lady, vom Säbel eines Offiziers ... die leise summenden schwarzen Fliegen, die er auf das blaue Seidentuch in der Mitte des Saales warf. Tatsächlich gelang es ihm, in nur zwanzig Sekunden, unter stürmischem Beifall des begeisterten Publikums, die Prüfung zu bestehen. Im Fliegenfangen machte ihm keiner etwas vor. Meine gerade verheilte Nase begann heftig zu schmerzen, als ich sah, wie tief Vater von der Leistung des Fischersohnes aus Mescana beeindruckt war. »Gut, der Mann!«, brummte er lakonisch in seinen finsteren Bartwald. - So erhielt Macuthee das Diplom eines Meisterfliegenfängers am Hofe des Sultans von Salima. Er durfte seinen Arbeitsplatz im Palast selber bestimmen, und es wunderte mich nicht, als er die Königliche Bibliothek wählte.
Ich ließ Macuthee, der Vaters Wohlwollen besaß, heimlich beobachten, um ihn bei einem Vergehen am Hofe auf frischer Tat zu ertappen, doch meldeten die geheimen Staatsdiener mir immer wieder, der Meisterfliegenfänger lasse sich nie auch nur das Geringste zuschulden kommen, was mich verdross. Zusammen mit Matcho Nolo überwachte ich fortan täglich nach Schulschluss jeden Schritt und Tritt Macuthees am Bildschirm, ließ Wanzen in der Bibliothek anbringen und zwei weitere Überwachungskameras installieren. Es war den Fliegenfängern nicht ausdrücklich verboten, in den Büchern der Bibliothek zu lesen, da die meisten ohnehin Analphabeten waren, doch erließ Matcho Nolo vorsorglich auf meinen Befehl hin einen zusätzlichen Paragraphen in der Palastordnung, der die öffentliche Auspeitschung als Strafe bei Missachtung vorsah. Nur einmal beobachteten wir, wie Macuthee einen schweren Lederband, der einige Zentimeter im Regal überstand, zurückschob in seine vorgeschriebene Position.
»Soll ich ihn festnehmen lassen?«, fragte mich Matcho Nolo aufgeregt.
»Abwarten!«, befahl ich in der Hoffnung, Macuthee werde die Palastordnung missachten und einen Band herausnehmen. - Entweder war er geschickter als wir annahmen, oder er interessierte sich nicht mehr für die verbotenen Bücher, die ihm, einem Gebildeten, wie eine unwiderstehliche Versuchung erscheinen mussten.
Sehr bald fanden wir den Grund seines plötzlichen Desinteresses heraus. Umgeben von wohlduftenden Mädchen in wehenden Gewändern, die jeden Tag in einem Vorhof der Bibliothek für fotografierende Touristen tanzten, ließ Macuthee die Bücher Bücher sein und hatte nur noch Augen für Delila, eine blutjunge Tänzerin, die durch ihre Anmut und Grazie das Entzücken aller Besucher hervorrief. Geblendet von der Schönheit Delilas, vernachlässigte Macuthee zeitweilig seinen Dienst, versank in Tagträumereien, irrte verstört mit seiner Fliegenklappe durch die langen Bücherregalreihen, verzehrte sich vor heimlicher Liebe zu ihr, die, wie von einer magischen Kraft beherrscht, immer öfter seine Nähe suchte. Sobald sie ihn bemerkte, begannen ihre Augen unter dem Schleier zu funkeln, ich beobachtete es ganz deutlich. Mit Blicken freundeten sich die beiden an, umarmten sich und sagten mit den Augen Unsagbares, das hier am Hofe strikt untersagt war.
Eines Tages, während einer Vorführpause, zog Delila einen farbigen Bildband über Venedig aus einer langen Bücherreihe und blätterte darin, scheinbar wissbegierig, während sich Macuthee in seiner Fliegenfängeruniform unauffällig näherte. Gebannt sahen Matcho Nolo und ich am Bildschirm diese unabwendbare Begegnung zweier Liebender. Ich erhöhte die Lautstärke am Regler des Monitors, um jedes Wort, das sie miteinander wechseln würden, hören zu können.
»Das ist die Seufzerbrücke«, hörte ich Macuthee sagen. Zwischen ihnen bestand bereits eine gewisse Vertrautheit.
»Wie belesen du bist!«, sagte das Mädchen. »Warum heißt sie denn Seufzerbrücke?«
»Das weiß doch jedes Kind«, antwortete Macuthee.
»Nun«, sagte Delila, »ich weiß es nicht. - Außerdem«, fügte sie mit einem verliebten weiblichen Unterton hinzu, »bin ich kein Kind mehr!«
Das stimmte. Sie war ein schönes Mädchen und blickte ihn mit verführerischen Augen an, die mich daran erinnerten, dass ich selbst in den Angelegenheiten der Liebe noch ein recht unbeschriebenes Blatt war.
Macuthee flüsterte: »Wenn die Gefangenen über die Brücke ins gegenüberliegende Gefängnis geführt wurden, warfen sie einen letzten Blick auf das Wasser und die Stadt und seufzten über die verlorene Freiheit.«
»Stimmt das?«, fragte ich Matcho Nolo, der die Achseln zuckte und einen Finger in den Mund steckte.
»Verzeiht, Hoheit«, stammelte er verlegen, »ich bin ein Unwissender.«
Es ärgerte mich, weil er, der immerhin das hohe Staatsamt des Ministers für alles Mögliche bekleidete, nicht einmal diese simple Frage beantworten konnte.
»Nachprüfen!«, befahl ich ihm.
Es war, als hätte meine erregte Stimme die beiden Liebenden draußen in der kathedralenartigen Bibliothek gewarnt, denn sie trennten sich mit eiligen Schritten voneinander und verschwanden in einem Seitengang, der von keiner Kamera überwacht wurde.
»Stimmt alles haargenau, Hoheit!«, meldete Matcho Nolo mir nach einer Stunde triumphierend. »Sollen wir sie festnehmen lassen?«
Dass die beiden miteinander gesprochen hatten, war nur ein geringfügiges Vergehen und hätte Macuthee allenfalls zwanzig Stockschläge auf die nackten Fußsohlen eingebracht - daher sagte ich nur: »Abwarten!«
»Wie Eure Hoheit befehlen!«
Die folgenden Tage brachten eine merkwürdige Veränderung der Lage, denn Vater hatte auf dunkelhaften Wegen, möglicherweise durch den Brief eines empörten Dorflehrers aus der Provinz, von der Belesenheit des Fischersohnes aus Mescana gehört, ließ ihn wiederholt zu sich kommen und führte lange Gespräche mit ihm, über die am Hofe nur schwätzerhafte Gerüchte kursierten. Allmählich drangen Einzelheiten jener Unterredungen an die Öffentlichkeit, die Matcho Nolo und ich in verschwörerischem Beisammensein miteinander besprachen. Es erschien uns höchst sonderbar, ja, befremdlich, als wir erfuhren, Vater habe einem einfachen Fliegenfänger sein Leid darüber geklagt, umgeben zu sein von unfähigen, schläfrigen und korrupten Beamten. Macuthee solle dem Sultan von Salima eine Reihe dubioser Verbesserungsvorschläge für die Amtsführung unterbreitet haben, die mit einer Revolution gleichzusetzen seien: Durch die Einführung von sogenannten Notstandsgesetzen sei es möglich, binnen eines einzigen Jahres zu einem perfekt organisierten, rasch und effektiv arbeitenden Beamtenwesen in Salima zu gelangen. Die Prügelstrafe für korrupte Beamte sollte unter dem Gesetz Wer nicht hören will, muss fühlen! eingeführt werden. Schläfrigen Staatsdienern sollte der Beförderungsstop drohen: Wer rostet, der rastet! Der Beginn der Arbeitszeit, im Behördenapparat bisher lax eingehalten, sollte festgelegt werden mit dem neuen Gesetz Morgenstund hat Gold im Mund! Die Liste der einzuführenden Notstandsgesetze war sehr lang und umfasste auch andere gesellschaftliche Bereiche; sie endete mit eine Aufhebung des Gesetzes, das die verbotenen Bücher nur den Besten erlaubte sowie mit der Einrichtung öffentlicher Bibliotheken für jedermann - : unvorstellbar, denn Bücher galten als verwerflich, gerade dann, wenn sie die fragwürdigen Weisheiten ausländischer Kulturkreise beinhalteten - so lauteten die überlieferten Gebote unserer Vorfahren. Es interessierte mich, wie Vater auf diese Vorschläge reagiert hatte oder noch reagieren würde.
Einige Tage geschah nichts Nennenswertes bei Hofe. Matcho Nolo und ich glaubten, alle Gerüchte über den Inhalt jener Gespräche zwischen meinem Vater und Macuthee seinen möglicherweise nichts als leeres Gerede, da der Fliegenfänger - wie bisher - seinen Dienst zu verrichten begann.
»Sollen wir ihn weiter beobachten?«, fragte Matcho Nolo.
»Dranbleiben!«, befahl ich.
Tatsächlich ereignete sich noch am selben Abend etwas für Macuthee Belastendes, das der Minister für alles Mögliche und ich gebannt am Bildschirm verfolgten: Es war ein heimliches Gespräch zwischen Macuthee und Delila, das sie neben einer Marmorsäule führten, als sie sich unbeobachtet fühlten.
»Liebst du mich wirklich?«, fragte das Mädchen.
»Natürlich«, sagte Macuthee.»Warum fragst du?«
»Ich habe dich beobachtet. Du blickst auch den anderen Mädchen nach!«
»So, tue ich das?«
»Versuche nicht zu leugnen!«
»Na schön, ich gestehe reumütig.«
»Genüge ich dir denn nicht?«
»Du kannst Fragen stellen! Selbstverständlich genügst du mir.«
»Dann verstehe ich nicht, weshalb du den anderen Mädchen nachblickst.«
»Darin liegt keine böse Absicht«, versuchte Macuthee zu erklären.
»Was sonst?«
»Ein Mann, der einer Frau nachblickt, stellt lediglich theoretisch fest, was sie verspricht und was sie eventuell halten könnte. Das ist alles.«
Diese Antwort schien Delila zu befriedigen. Mir aber ließ sie keine Ruhe.
»Stimmt das?«, fragte ich Matcho Nolo.
»Hoheit, ich bitte um Nachsicht. Ich bin ein -«
»Überprüfen!« kommandierte ich, und der Minister für alles Mögliche entfernte sich rückwärts gehend aus dem Beobachtungsraum, in dem ich nun allein Zeuge des weiteren Gesprächs zwischen Macuthee und Delila wurde.
»Halte ich denn, was ich verspreche?« wollte sie wissen.
»Bestimmt -«, flüsterte er zuversichtlich.
Sie schluckte und blickte ihm versonnen tief in die Augen. Kaum vernehmbar hauchte sie die zärtlichen Worte: »Probieren wirs aus?«
Dann gingen sie auf ihr Zimmer, fernab jeder Kamera, jeder einsatzbereiten Wanze, um das Unaussprechliche zu tun. Ich versuchte zu läuten, aber die Glocke hatte keinen Plöckel; auch der Alarmknopf, den ich betätigte, zeigte keine Wirkung - wahrscheinlich schliefen die Wachen betrunken, wie so oft, draußen im Garten. Ich lief durch die Seitenflügel des Palastes, stolperte über die Stufen einer Treppe, und erreichte die Registratur der Bibliothek, wo ich Matcho Nolo traf, der hilflos in der Königlichen Datei herumsuchte und ängstlich zusammenzuckte, als er mich im Halbdunkel erkannte.
»Hoheit, ich bitte um Nachsicht!«, flehte er.»Wo - wo soll ich nur nachschlagen?«
»Maul halten!«, befahl ich ihm. Sogleich verstummte er. »Wo ist das Zimmer des Mädchens?«
Er wusste es nicht. Er wusste überhaupt nichts. Ich ärgerte mich über seine völlige Unfähigkeit und verstand zum ersten Male Vater, wenn er sich über den schleppend funktionierenden Beamtenapparat beklagte. Es dauerte lange, bis wir zusammen genügend nüchterne Wachen mobilisiert hatten, um das Zimmer des Mädchens zu erstürmen. Ich selbst leitete die nächtliche Aktion. Ich wusste: Das Unaussprechliche war längst geschehen und ließ sich nicht mehr verhindern.
Plötzlicher als ich erwartet hatte, stand mir Macuthee, beim Verlassen des Zimmers, gewarnt vom Lärm der säbelrasselnden Wachen, gegenüber. Einen Moment blickten wir uns nur grimmig an, zwei Todfeinde, die sich nichts zu sagen hatten.
»Habe ich dich endlich erwischt!«, rief ich aus. »Wachen! Festnehmen!«
Noch bevor die zögernd voranmarschierenden Posten ihn ergreifen konnten, schlug mir Macuthee eine Faust in die Fresse, wodurch ich hart auf die Fliesen stürzte, kurz die Besinnung verlor und nicht genau verfolgen konnte, was nun geschah. Ich nahm wahr: Ein metallischer Gegenstand flog gegen eine Deckenlampe... Handgemenge im Dunkeln. Kettengeklirr. Stoßenreißenfluchen. Geräusche brechender Knochen. Schreie. Gewimmer ...
»Was ist geschehen?«, hörte ich mich in der Finsternis des Ganges rufen.
»Was ist gestern Nacht hier geschehen?«, hörte ich am Vormittag des folgenden Tages Vater in seinem Amtszimmer fragen, erregt darüber, dass hier Dinge geschahen, von deren Entwicklung er nichts wusste. Mein Kopf steckte in einem Gipsverband, ich konnte nicht antworten. Matcho Nolo beschrieb Vater, was sich ereignet hatte: Macuthee, der Meisterfliegenfänger verbotenerweise im Zimmer einer Tänzerin; auf frischer Tat ertappt, nächtlicher Kampf im Palast; acht Wachen mit gebrochenem Nasenbein; Ali Abbas III. verletzt (Nasenbein); der Minister für alles Mögliche unverletzt (göttliche Fügung); Flucht des Fliegenfängers und der Tänzerin; Verfolgung der beiden bis zu den Klippen; Rettung der Flüchtigen durch einen todesmutigen Sprung vom Felsen ins Meer; Verfolgung der Entkommenen durch die Haibucht; die Spur verloren am Ufer; weitere Flucht wahrscheinlich mit gestohlenem Kanu durch den Dschungel...
»Ein Tausendsassa!«, rief Vater mit bewegter Stimme.»Gut, der Mann!«
»Hoheit, ich verstehe nicht -«, sagte Matcho Nolo zögernd.
»Das ist ein Mann nach meinem Geschmack!«, sagte Vater mit deutlicher Begeisterung. »Kein Schwätzer, kein Waschlappen, sondern ein ganzer Kerl mit Biss!«
»Jawohl, mit Biss!«, stammelte der Minister für alles Mögliche.
»Einer, der die Ärmel hochkrempelt und seine Sache anpackt!«
»Anpackt. Jawohl!«
Ich war sprachlos und verstand die Welt nicht mehr.
»Holt mir diesen Burschen!«
»Tot oder lebend, Hoheit?«
»Lebend, ihr Narren!«, brüllte Vater und warf uns einen verachtungsvollen Blick zu.
Die Entwicklung des Geschehens war für uns unbegreiflich. Vater ließ die gegen Macuthee erhobene Anklage noch am gleichen Tage fallen und verkündete persönlich über Rundfunk und Fernsehen die Nachricht hierüber im ganzen Lande. Bereits wenige Tage später erhielt Macuthee Audienz im Palast des Sultans von Salima, um seine öffentliche Rehabilitation aus dem Munde meines Vaters zu vernehmen. Das war schlimm für mich. Vater gewährte Matcho Nolo einen Urlaub von einem Tag, um während seiner Abwesenheit ein neues Gesetz ins Leben zu rufen. Als Matcho Nolo, der auf seinem Posten als Minister für alles Mögliche rund und fett geworden war, nach Ablauf seines Urlaubs zurückkehrte, klagte er Vater sein Leid, indem er fassungslos berichtete, sein Ministerposten sei irrtümlich mit Macuthee besetzt worden.
»Das ist kein Irrtum«, belehrte mein Vater ihn. »Du hast dich heute morgen um vier Minuten verspätet. Das neue Gesetz sieht für unpünktliche Staatsdiener eine empfindliche Strafe vor.«
»Was für ein Gesetz?«, fragte der entgeisterte Matcho Nolo.
»Weggegangen - Platz vergangen!«, erläuterte Vater ihm mit schlichten Worten den Inhalt der revolutionären Verfassungsänderung.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als verbittert dem Fortgang der weiteren Ereignisse tatenlos und machtlos zuzusehen.
Macuthee feierte mit Delila Hochzeit. Eine lange Reihe mit Tischen, die sich durchs ganze Land - von der Meeresküste bis zu den staubigen Steinbrüchen Salimas - erstreckte, wurde aufgestellt und mit köstlichen Speisen und kühlenden Getränken beladen. Alle Einwohner unseres kleinen Reiches waren zur Hochzeitsfeier eingeladen. Eine grandiose Oper mit dem Titel Der Fliegenfänger von Salima wurde mit überwältigem Erfolg uraufgeführt. Lieder, Gedichte und Legenden über den Fischersohn aus Mescana gingen von Mund zu Mund ... Ich grämte mich vor Neid und Enttäuschung.
Als reformfreudiger Minister für alles Mögliche setzte Macuthee wesentliche Veränderungen durch, die sogar die mürrische Opposition im Lande mit Vater versöhnten. Auch die Schulreform stand auf dem Plan meines einstigen Klassenkameraden. Ich selbst war das erste Opfer dieser für mich unerwarteten Veränderungen. Das Recht des ersten Schlages wurde kurzerhand abgeschafft und durch das Recht auf Notwehr ersetzt. Damit war ich so gut wie vogelfrei. Es versetzte meinem gedemütigten Herzen einen weiteren schmerzvollen Stoss, als mein letztes Zeugnis vom Direktor des Internats gnadenlos storniert wurde. Das hätte er nicht tun dürfen. Ich dachte sogar daran, meinem Leben ein Ende zu setzen, nachdem ich die Aufnahmeprüfung an der Schule der Besten auch nach drei Anläufen nicht bestanden hatte, doch fasste ich neuen Mut und beschloss, mich in Abendkursen weiterzubilden, um wenigstens in den mittleren Staatsdienst zu gelangen. Alle meine Kraftanstrengungen erwiesen sich als vergeblich, denn mir fehlte das, was Vater treffend den »richtigen Biss« nannte. Als ich Vater bei einem Mittagsmahl dezent darauf hinwies, auch ich wäre gern Minister für alles Mögliche geworden, verschluckte er sich fast an einem Hähnchenknochen und sagte verständnislos nur: »Quatsch!«
Vom Leben und seinen harten, unmenschlichen Bedingungen ernüchtert, lungerte ich wochenlang im Palast herum, ohne Aussicht auf eine rosige Zukunft, die man mir einst an der Wiese prophezeit hatte. Ich war restlos überzeugt von meiner eigenen Unfähigkeit. Ich war am Ende... Am Strand von Salima legte ich mich in den warmen Sand und jammerte grämlich vor mich hin. Ich wartete auf die Flut, die sich mit schäumenden Wogen dem Ufer zu nähern begann. Zum Glück schlief ich ein, noch bevor die Wellen meinen gekrümmten Körper erreichten...
Ein metallisches Geräusch weckte mich. Ich lag in meinem Internatszimmer. Es war später Nachmittag. Wie lange hatte ich geschlafen? Benommen richtete ich mich auf und ging zum Fenster, dessen Gardine leicht im Winde schaukelte. Auf dem Schulhof sah ich meine Klassenkameraden, die sich beim Hufeisenwerfen vergnügten. Im Schatten des Mangobaumes am See saß Macuthee und las in einem Buch. Ich ging hinunter auf die Schulwiese und näherte mich langsam dem Fischersohn aus Mescana, der mir, obwohl wir nur wenige Worte seit seiner Ankunft miteinander gewechselt hatten, so vertraut war wie ein Bruder. Eine Fliege setzte sich auf meine rechte Hand. Ich schnippte mit den Fingern, um sie zu vertreiben. Macuthee blickte auf, als er mich näherkommen hörte, lächelte mich freundlich an. Auf diesem Platz unter dem Mangobaum, so erklärte ich ihm, hätte ich vor einiger Zeit gesessen und eine Apfelsine gegessen; dieser Platz sei ein herrlicher Ort zum Studieren. Macuthee sagte, für heute habe er genug gelesen, er würde jetzt viel lieber Entenwerfen üben. Er fragte mich, ob ich auch Lust dazu hätte. Ja, sagte ich. Er ließ das Buch sinken, schlug es zu und richtete sich auf. Wir sammelten ein paar flache Steine und warfen sie schräg über die glatte Fläche des glitzernden Sees. Wir verfolgten den Flug der Steine, die über das Wasser hüpften, und zählten laut mit, wie oft sie die Oberfläche berührten. Macuthee schaffte meistens neun, einmal sogar elf Sprünge. Mir gelangen oft fünfzig, zweimal sogar dreiundfünfzig hüpfende Sprünge. Im Entenwerfen war ich - seit ich denken konnte - unschlagbar und hoffte darauf, es auch noch eine lange Weile zu bleiben ...