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Zeit der Arbeit – Raum der Muße

Sobald man etwas tut, bei dem man die Zeit unwichtig findet oder gar vergisst, also etwas ‚in Muße‘ tut, kann deutlich werden, was einem bei der Arbeit entgeht. Vielleicht wird man so auch lernen, die Arbeit von der Muße her zu fassen, statt umgekehrt die Muße von der Arbeit her als ‚Freizeit‘ misszuverstehen. Günter Figal

Das Wort ‚Muße‘ klingt etwas altmodisch, als wäre es aus der Zeit gefallen. Wenn man das Wort hört, denkt man vielleicht an biedermeierliche Gartenidyllen – eine Familie im Baumschatten am Teetisch – oder, sofern man der Wortgeschichte nachgegangen ist, an noch weiter zurückliegende Phänomene. Als Übersetzung des griechischen ‚σχολή‘ und des lateinischen ‚otium‘ bezeichnet das Wort eine Lebensweise, die der Betrachtung gewidmet und so dem aktiven Leben entgegengesetzt ist. Zur vita contemplativa gehört Muße, während diese der vita activa fehlt – bezeichnenderweise ist das lateinische Wort für eine öffentliche, dienstliche oder geschäftliche Tätigkeit ‚negotium‘, was ‚Unmüßigkeit‘ heißt. Betrachtend ist das Leben von Philosophen in ihren Akademien, von Gelehrten und Literaten, die unbehelligt von Tagesgeschäften ihren Gedanken nachgehen. Die Muße, in der ein solches Leben geführt wird, ist keine Freizeit, auch keine ‚Auszeit‘. Beide Wörter bezeichnen eine Ausnahme, der gegenüber etwas anderes, nämlich die Arbeit, der Normalfall wäre. Wer hingegen in Muße lebt, muss an Arbeit gar nicht denken, ohne deshalb untätig zu sein. Philosophische oder allgemein gelehrte Studien, die Lektüre und das Schreiben von Gedichten sind Tätigkeiten, aber offenbar keine Arbeit im Sinne der ‚Unmüßigkeit‘. Was aber dann?

WIE BIN ICH TÄTIG?

Mit dieser Frage könnte das Nachdenken über Muße jenseits historischer Reminiszenzen interessant werden. Offenbar gibt es verschiedene Arten des Tätigseins, die man miteinander vergleichen und so klären kann. Dabei mag einem bewusst werden, wie man selbst tätig ist, und das wiederum könnte ein Anlass für die Frage sein, ob man so tätig sein möchte. Sinnvoll ist die Frage nur, wenn es Alternativen gibt. Ist die Muße, ehemals das Vorrecht von Philosophen, Gelehrten und Literaten, allgemein eine solche Alternative?

Ein Vergleich des Tuns in Muße mit der Arbeit mag dazu beitragen, das zu entscheiden. Unter Arbeit versteht man im Allgemeinen eine Tätigkeit, die in einer bestimmten Zeit zu einem bestimmten Ergebnis führen soll. Arbeitszeit ist begrenzt, aber in dieser Zeit ist eine bestimmte Leistung zu erbringen. Außerdem wird meist erwartet, dass die Arbeit innerhalb einer vorher festgelegten Zeit zu einem Ergebnis führt, nicht selten auch, dass zu einer festgelegten Zeit gearbeitet wird. Arbeit, derart verstanden, ist also zeitgebundene Tätigkeit; sie vollzieht sich nach einer zeitlichen Ordnung, in der gemessenen Zeit, und sie unterliegt zeitlich bestimmten Erwartungen. Diese Bestimmung der Arbeit ist so formal, dass sie auf sehr verschiedene Tätigkeiten zutrifft. Es ist die Zeitgebundenheit, die Tätigkeiten, so verschieden sie sein mögen, zur Arbeit macht.


Günter Figal

Dr. phil. habil., Prof. em. für Philosophie an der Universität Freiburg; freier Autor.


Ginkaku-ji, Kyoto, Tee- und Dichterhaus von Ashikaga Yoshimasa

Fotografie: Günter Figal

Wenn das Tun in Muße sich im Kontrast zur Arbeit bestimmen lässt, müsste es demnach ohne Zeitgebundenheit sein, und so lässt sich dieses andere Tun, das Tun von Gelehrten oder Dichtern, in der Tat beschreiben. Wer in Muße seinen Studien nachgeht oder Gedichte schreibt, möchte zwar etwas erreichen oder auch zustande bringen. Aber es ist dabei unwichtig, ob man in einer bestimmten Zeit zu Einsichten kommt oder Gedichte innerhalb einer bestimmten Frist fertig werden – sich derart unter Druck zu setzen dürfte sogar hinderlich sein. Zu Tätigkeiten wie den genannten gehört im Gegenteil, dass man sie nicht forciert; sie müssen sich entwickeln können und entsprechend gehört zu ihnen auch das Nichtstun – das Innehalten, bei dem man Texte, die man gelesen hat, wirken lässt oder Texten, die man schreibt, Gelegenheit gibt, wie von selbst zu entstehen; wenn man bei literarischen Texten, Gedichten vor allem, den Eindruck hat, dass sie ‚gemacht‘ sind, ist das von Nachteil. Nachdenken, Studieren und Dichten braucht Muße, es lässt sich nicht zielgerichtet erledigen. Vielleicht tut man zwischendurch sogar etwas, das in keinem erkennbaren Zusammenhang mit der Sache steht, die einen beschäftigt. Man schaut ein Buch oder ein Bild an, räumt auf oder geht spazieren. Vielleicht fällt einem gerade dabei etwas zu einer Frage ein, der man nachgeht, oder zu dem Text, an dem man schreibt.


James-Simon-Galerie, Museumsinsel Berlin (David Chipperfield Architects) Fotografie: Günter Figal

TÄTIGSEIN IN MUSSE

Tätigkeiten in Muße sind demnach solche, bei denen die Zeit keine Rolle spielt. Zwar läuft die Uhr weiter, es wird Mittag und Abend, es können auch Wochen, sogar Monate vergehen. Aber der Zeitlauf strukturiert diese Tätigkeiten nicht. Deshalb sind sie meist auch nicht durchgeplant und ohne jede Zielstrebigkeit. Sie kommen ohne zeitliche Ordnung, also ohne Zeit, aus und sind in diesem Sinne ‚zeitlos‘.

Möglicherweise hat man deshalb bei Tätigkeiten in Muße auch nicht das Gefühl, besonders aktiv zu sein. Man tut etwas, gewiss, aber dieses Tun ist eigentümlich gelassen. Es gehört in den Zusammenhang anderer möglicher Tätigkeiten und vor allem gehört es mit dem Nichttun zusammen, mit dem Innehalten und Verweilen. Statt auf eine besondere Tätigkeit konzentriert zu sein, erlebt man so eher eine Situation und mit dieser einen Freiraum, in dem Tun wie Lassen möglich ist und in dem man vor allem einfach sein kann, auch ohne sich für ein bestimmtes Tun oder zwischen Tun und Lassen entscheiden zu müssen.

Sollte dieses einfache Seinkönnen in einem Freiraum die Muße sein? Dann wäre Muße kein besonderer Modus des Tuns – derart, dass man dasselbe ‚in Muße‘ tun könnte oder auch nicht – sondern vielmehr die Möglichkeit eines Freiraums, auf den man sich einlassen kann. Muße wäre raumhaft, und dazu passt, dass das Wort ursprünglich einen Frei- oder Spielraum bezeichnet, einen Raum, der Möglichkeiten gibt und als die Offenheit dieser Möglichkeiten erfahren werden kann. Entsprechend könnte ein Tun in Muße darin gelassen sein, dass es in ein Ensemble von Möglichkeiten zurückgenommen ist und dass es weniger auf das Tun ankommt, als darauf, dieses Ensemble in seiner Offenheit zu leben.

MUSSE ALS FREI- UND SPIELRAUM

Der Raumcharakter der Muße wird dadurch bestätigt, dass es besondere Mußeräume gibt, Räume also, die das Seinkönnen in einem Freiraum auf je besondere Weise möglich machen. Die philosophischen Akademien waren solche Räume, Bibliotheken können es sein, auch Museen oder Gärten wie zum Beispiel der Wandelgarten des Tempels Ginkaku-ji, den sich Ashikaga Yoshimasa am nordöstlichen Rand von Kyoto anlegte, nachdem er 1482 sein Amt als Shōgun aufgegeben hatte, um sich dem Nachdenken, dem Lesen und Schreiben von Gedichten zu widmen – wodurch übrigens eine lang andauernde literarische Kultur begründet wurde.

Auch Hotels können Mußeorte sein oder Bäder, die keine Unterhaltungseinrichtungen sind, sondern zur Ruhe kommen und in Ruhe sein lassen wie zum Beispiel Peter Zumthors Therme in Vals in Graubünden. Und es gibt Mußeräume, die eher für einen kurzen Aufenthalt gedacht sind, für eine Weile, in der man vielleicht Eindrücke und Erfahrungen nachklingen lässt. So ist der von David Chipperfield Architects gebaute Säulenhof zwischen dem Neuen Museum und dem Pergamonmuseum in Berlin, ein ebenso weitläufiger wie intimer Raum, einzig von einem flachen Steinbrunnen akzentuiert, dessen murmelndes Wasser man hört, während man im Schatten auf einer Bank sitzt und dem Licht zwischen den Säulen zuschaut.

Mußeräume wie die beschriebenen haben gemeinsam, dass sie keine Richtungen vorgeben und also auch nicht in einer Richtung durchquert werden müssen. Sie sind vielmehr dezentral und lassen in ihrer Dezentralität frei, wie man die Möglichkeiten, die sie bieten, wahrnimmt. An japanischen Wandelgärten wie dem des Ginkaku-ji ist das besonders sinnfällig zu erfahren. Solche Gärten bieten viel Raum auf gar nicht so großer Fläche. Man überschaut sie eigentlich nie, und jeder Weg, jeder Ort zum Innehalten gibt eine neue Perspektive, die immer eine auf denselben Garten ist, sodass man an jedem Ort im Garten ist, dort, wo man sein will ‚einfach hier‘, in diesem Garten. Auch Museen können derart sein, und so ist das ‚Museum des 21. Jahrhunderts‘ in Kanasawa in Japan. Der Bau des Architektenbüros SANAA ist nicht nur Kunstausstellung, sondern vor allem Aufenthaltsort, er ist locker in von einem runden Glasbau umfasste Kuben gegliedert und legt auf keinen ‚Weg durch die

Ausstellung‘ fest. So erlebt man mit jedem Exponat nicht nur die Ausstellung, sondern auch den Raum, in dem man ‚einfach hier‘ ist und frei darin, wie man ihn erkunden will. Muße, so zeigt sich an diesen Beispielen, ist räumliche Freiheit. Sie ist die Möglichkeit, einen Freiraum wahrzunehmen und in diesem, ihm entsprechend, zu sein. Und es sind gebaute und angelegte Mußeräume, mit denen diese Möglichkeit bereitgestellt ist. Sie zu bauen und anzulegen heißt, sich eigens um die Möglichkeit der Muße zu kümmern.


Museum des 21. Jahrhunderts, Kanasawa, Präfektur Ishikawa (SANAA) Fotografie: Günter Figal

MUSSE IST ETWAS ANDERES ALS FREIZEIT

Allerdings mögen die genannten Beispiele auch ein Bedenken nahelegen: Muße, so scheint es, ist eine Ausnahme. Sie ist wenigen vorbehalten oder, wenn es anders ist, dann nur für eine begrenzte Zeit möglich. Wie aber soll man in einer begrenzten Zeit die Zeit vergessen? Wenn das unmöglich ist, scheint Muße doch nichts anderes als Freizeit zu sein, bemessene Frist, die sich darin, dass sie zeitbestimmt ist, nicht grundsätzlich von der Arbeit unterscheidet.

Um dieses Bedenken zu entkräften, könnte man als erstes darauf hinweisen, dass Muße in mannigfachen Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, wie man sie kennt, nicht aufgeht. Man kann auch in Muße ‚arbeiten‘, und bestimmte Tätigkeiten, die sogenannten ‚kreativen‘, sind eigentlich nur in Muße möglich. Außerdem ist es kein Einwand gegen die Möglichkeit der Muße, dass diese nicht das ganze Leben ausfüllt. Schon Aristoteles weist darauf hin, das beide, Muße und ‚Unmüßigkeit‘ (ἀσχολία), also Arbeit im erläuterten Sinne, das menschliche Leben bestimmen (vgl. Aristoteles, 4–26). Auch wäre es seltsam, wenn man bei allem, was nur in begrenzter Zeit möglich ist, immer an die zeitliche Begrenztheit denken müsste. Wer ein Konzert hört und dabei von der Musik eingenommen ist, wird während des Zuhörens kaum daran denken, dass die Musik nur eine bestimmte Zeit dauert. So wird es immer dann sein, wenn man bei einer Sache ist. Eine Sache, die für sich einnimmt, lässt die Zeit unwichtig werden und nicht selten vergessen. Und schließlich wird die Bedeutung, die Muße für das Leben hat, nicht allein daran zu messen sein, wie viel Zeit das Leben in Muße im Vergleich mit der Arbeitszeit einnimmt. Entscheidend ist vielmehr, welche Lebensform wichtiger ist, weil sie dem menschlichen Leben mehr entspricht. Aristoteles lässt daran, wie er das einschätzt, keinen Zweifel. Wir seien ‚unmüßig‘ um des Müßigseins willen, nicht umgekehrt (vgl. Aristoteles, 4–5).

WIR SIND UNMÜSSIG DER MUSSE WEGEN

Worin liegt dieser Vorrang eines Lebens in Muße? Unter der Voraussetzung, dass ein Leben in Muße allein ein ‚betrachtendes Leben‘, also ein philosophisches Leben, ist, sieht Aristoteles den Vorrang dieses Lebens in seiner Selbstgenügsamkeit und in seiner Vollendung. Das philosophische Betrachten braucht niemand anderen, und ist nicht darauf angelegt, etwas, das noch nicht verwirklicht ist, zu erreichen, sondern ist immer das, was es ist.

Diese Antwort wird man nicht übernehmen müssen, wenn sich das Leben in Muße als ein Leben in räumlicher Freiheit begreifen lässt. Statt zwischen einem vollendeten und einem nicht vollendeten Leben zu unterscheiden, wird man dann sagen können, dass Muße und Arbeit nicht einfach im Gegensatz stehen, sondern dass die Arbeit voraussetzt, was sich in der Muße erschließt. Jedes Tun braucht räumliche Freiheit, einen Freiraum, in dem es vollzogen werden kann; jedes Tun vollzieht sich im Spielraum verschiedener Möglichkeiten, die ‚nebeneinander‘ da sind. Und jedes Tun ist überhaupt nur möglich, weil man ‚einfach hier‘ ist, dort wo man ist und tut, was man tut. Im zielgerichteten, zeitbestimmten Arbeiten wird diese Raumbestimmtheit des Lebens nicht frei. Sie bleibt unbeachtet, verdeckt, weil die ganze Aufmerksamkeit der Zielrichtung, der Planung einzelner Schritte und vor allem der Zeit gilt, von der das Tun bestimmt ist. Demgegenüber ist Muße von der Zeit unabhängig. In ihr wird die Raumbestimmtheit des Lebens zu räumlicher Freiheit.

Damit ist nicht gesagt, dass die räumliche Freiheit sich immer und in jeder Situation unverdeckt leben ließe. Arbeit lässt sich nicht abschaffen, und insofern wird das Leben in Muße im Allgemeinen nicht das einzige sein können. Gemessen am Arbeitsleben wird es immer eine ‚Ausnahme‘ sein, und es wird in der Tat nur unter besonderen Bedingungen anders als für eine begrenzte Zeit möglich sein. In dieser begrenzten Zeit – in der man die Zeit vergisst – kann jedoch deutlich werden, dass einem bei der Arbeit entgeht, was sich in Muße erschließt. So kann man lernen, die Arbeit von der Muße her zu sehen, statt umgekehrt die Muße von der Arbeit her und so nur als ‚Freizeit‘.

GEBAUTE FREIRÄUME

Was über Muße und Arbeit gesagt wurde, gilt analog auch für die Architektur. An den Mußeräumen, die für das Leben in Muße so wichtig sind, kann man lernen, dass Bauwerke, die ‚einfach hier‘ sein lassen, den Sinn der Architektur klarer erfüllen als schematische Funktionsbauten, deren Raumgestaltung der Erfüllung zeitlicher Vorgaben verpflichtet ist. Architektur ist gebauter Raum, und der japanische Garten ist ‚mehr Raum‘ als die Fertigungshalle einer Fabrik – es sei denn, es gelingt, Fertigungshallen zu bauen, die auf ihre Weise den klaren Raumsinn eines japanischen Gartens realisieren. Das ist keine Utopie, denn es gibt solche Bauten – um sie zu sehen, muss man nur den Vitra Campus in Weil am Rhein besuchen. Gute Architektur zeigt immer, dass Bauwerke nicht in ihren Funktionen aufgehen müssen und so Funktionalität in die Offenheit von Freiräumen gestellt werden kann. Was Architekten können, sollte auch sonst nicht unmöglich sein, und entsprechend müsste man die Arbeit auch von der Muße her sehen können. So würde sich das Verständnis von ‚Arbeit‘ verändern, wohl nicht auf einen Schlag, aber allmählich und wohl mit Folgen, die noch nicht absehbar sind.

LITERATUR

Aristoteles, Nikomachische Ethik X.7; 1177b.

Lebendige Seelsorge 1/2020

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