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Produktive Unterbrechungen: Faszination Lesen

Die Gegenwartsliteratur fokussiert verstärkt Muße, Langsamkeit, Downshifting, ja, eine neue Leichtigkeit des Seins. Wie Literatur hat das Lesen keine Funktion in der Nutzens- und Verwertungslogik von Arbeit, Fleiß und Effizienz. Als Königsdisziplin höherer Zwecklosigkeit dient die Muße des Lesens der produktiven Unterbrechung und dem Genuss freier Eigenzeit. Christoph Gellner

„Er war pleite, erledigt bis zum Tag der Erlösung, der war hienieden die Entschuldung“ (Timm, 217). Für Christian Eschenbach, den 55-jährigen Helden von Uwe Timms (*1940) Roman Vogelweide (2013), geht der Bankrott als Softwarefirmenchef mit dem Zerbrechen seiner engsten Beziehungen einher. „Sieben, acht Jahre lang war er ein reicher Mann gewesen. Allerdings arm an Zeit. Es gibt eine Zeitarmut. Die wiederum zur Verrohung führt. Eine Brutalisierung des eigenen Selbst. Er arbeitete. Verhandelte. Reiste. […] Keine Nacht vor drei ins Bett. Früh morgens raus. Zu Hause das Rudergerät. Der Sandsack in der Firma, an dem nicht nur er seine Wut, seinen Hass abarbeiten konnte, sondern auch die anderen, die Programme zur Optimierung erstellten und ihren Frust an den Sandsack, der nur ein wenig hin- und herschaukelte, prügelten.“ (Timm, 166f.)

Mit spürbarer Sympathie schildert Timm, einer der wichtigsten Autoren der 68er-Generation, wie Eschenbach nun allein als Vogelwart auf einer winzigen Insel in der Elbmündung eine wohltuend-befreiende Entschleunigung erlebt: „Die Stille des Gehens, dieses Hineingehen in Ruhe, Gleichgültigkeit, die Abwesenheit von jener Umtriebigkeit der letzten Tage“ (Timm, 13) – „diese unglaubliche Erleichterung“ (Timm, 218).

DER WAL HATTE IHN AUSGESPUCKT

„Ich bin reich geworden, dachte Eschenbach, ich habe Zeit, ich nehme mir die Zeit. Nichts treibt mich.“ (Timm, 260) In dieser mußevollen Auszeit kommt er endlich dazu, einen lange aufgeschobenen Essay über Jona fertig zu stellen. Wie der biblische Prophet wurde auch Eschenbach an Land gespuckt, was er als regelrechte Wiedergeburt erlebt. War es früher für ihn „die reine Lust, an einer alles umfassenden Dynamik teilzuhaben“, so war diese Lust jetzt „verschwunden und mit ihr der Sinn, wie Wasser im Abflussloch der Badewanne, aus der es mit einer kreiselnden Bewegung verschwand. […] Der Wal hatte ihn ausgespuckt. Das war alles. […] er konnte nicht mehr sagen, warum er so wie bisher weiterarbeiten sollte“ (Timm, 196.194).


Christoph Gellner

geb. 1959, Dr. theol., Leiter des Theologischpastoralen Bildungsinstituts der deutschschweizerischen Bistümer in Zürich und Fachmann für Literatur und (Welt-)Religion(en).

Nicht länger ins Hamsterrad aufreibenden Erfolgs- und Karrierestrebens eingespannt, kostet Eschenbach jetzt „dieses Gefühl der Sinnentleerung“ (Timm, 196) aus: „Ich bin ein Ballonfahrer, der Ballast abwerfen musste, so gewinnt man wieder Höhe und sieht mehr von Land und Leuten“ (Timm, 309). In der Freude an Brandseeschwalben und Strandläufern findet er eine Art ‚Stillness of Heart‘: „Er hatte nie Yoga gemacht, dachte, genauso müsse es sein, wenn man langsam in sich hineinsank und das Hin und Her der Gedanken und Bilder, das Wollen und Wünschen in einem Helldunkel unter den Lidern verschwand. Was ihn von all denen, die er in der Stadt zurückgelassen hatte, unterschied, war das Planlose. Er musste nicht planen, nicht über den Tag hinaus. […] Er war jetzt Sammler von ein paar Daten über Vogelflug und -arten, über Wetter und Gezeiten, Wasser und Watt“ (Timm, 15f.), „es ist die Leichtigkeit, die Abwesenheit von allem hier, die Straßen, die Häuser, das Fernsehen, das Reden und das Gerede […] alles, was bindet, was über diesen Moment hinausgeht“ (Timm, 329).

LOB DER TRÄGHEIT?

„Bis in den Sommer suchte ich nach einer Frage auf die Antwort, die er uns allen gegeben hatte.“ (Bärfuss, 21): In Lukas Bärfuss’ (*1971) autobiographischem Roman Koala (2014) erhält ein Schriftsteller, der Ähnlichkeit mit dem Schweizer Autor hat, kurz vor Weihnachten die Nachricht, dass sich sein Bruder mit 45 Jahren in der Badewanne mit einer Überdosis Heroin getötet hat. Nach und nach verdichten sich seine Erinnerungsfetzen zum Bild eines Menschen, dem eine sonderbare Trägheit und Antriebslosigkeit eigen war: „Er lehnte die Arbeit ab, die Anstrengung, und verfolgte niemals ein Ziel. Er nahm, was ihm zufiel. […] Er besaß keinen Fleiß, er arbeitete nicht, er hing herum und ließ die Zeit verstreichen. Nicht dass er diesen Tod verdient hatte – aber er war die logische Folge seines Verhaltens“ (Bärfuss, 42f.).

Über Freunde seines Bruders erfährt er dessen Pfadfindernamen, „der unter Eingeweihten als geheimer Ruf, als Totem zirkulierte, der Name eines Beutelsäugers, eines Tieres vom anderen Ende der Welt“ (Bärfuss,18). In der Imagination malt er sich aus, wie der Bruder in seinem Spitznamen Koala das Ideal eines einfachen, stillen und friedlichen Lebens verkörpert fand. In der Schule hatte man ihm gesagt, Fleiß und Ehrgeiz seien unabdingbar, wenn er etwas erreichen wolle. „Sein Totem aber existierte, ohne nach etwas zu streben. Es bewegte sich nicht einmal, lag den ganzen Tag nur herum und tat keinem etwas zu Leide. Unglücklich schien es deswegen nicht zu sein.“ (Bärfuss, 75) Bärfuss’ Romanrecherche über die Geschichte des titelgebenden Koalas und des Umgangs des Menschen mit diesem Tier gerät denn auch zu einer Expedition in die Abgründe der Zivilisation: 1788 kommen die ersten Sträflinge des britischen Königreichs nach Australien, am anderen Ende der Welt sollen sie „durch Arbeit und mit Gottes Hilfe auf den Weg des Heils zurückfinden“ (Bärfuss, 90). Anschaulich erzählt Bärfuss, wie sich die Strafkolonie dank Fleiß, Ehrgeiz und Grausamkeit entwickelt. Im Landesinneren stoßen Forscher auf ein seltsames Beuteltier, das von den Ureinwohnern längst ausgerottet worden wäre, wenn nicht eine Seuche diese zuvor dahingerafft hätte. Nun sind es die eingewanderten weißen Siedler, die die harm- und wehrlosen Koala-Tiere von ihren Eukalyptusbäumen schütteln oder erschießen, bis sie fast ausgerottet sind. „Eine Kreatur wie den Koala dürfte es nicht geben“, statuierte zeitgleich der englische Schneckenforscher George Perry, dem jede Erklärung fehlte, „zu welchem Zweck der große Autor der Natur ein solches Wesen erschaffen haben mochte“ (Bärfuss, 153f.).

Das Fazit? „Faulheit war […] nicht hinzunehmen. Wer auf ihr bestand, musste vernichtet werden. […] Nur in geringer Zahl, in Zoos und Naturreservaten, zu plüschigen Kuscheltieren entstellt in harmlosen Kinderbüchern, ertrug man die Kreaturen der Faulheit. Das Prinzip ihrer Existenz, die Ehrgeizlosigkeit, sollte sich nicht frei entwickeln dürfen, so groß war die Gefahr und die Provokation. Was den Menschen ausmachte, war sein Ehrgeiz, das unausgesetzte Streben, die Unfähigkeit, stillzusitzen. Eine Folge der Angst, die mit ihm in die Welt gekommen war.“ (Bärfuss, 167), bilanziert der Schweizer Romancier, dem 2019 der Büchner-Preis zuerkannt wurde. „Das Wissen um die eigene unvermeidliche Vernichtung versetzte den Menschen in Schrecken, […] Gott war tot, aber die Angst lebte weiter. […] Die Medizin gegen die Angst war der Fleiß. […] Die Arbeit war keine Strafe mehr, sie war zur einzigen Tätigkeit geworden. Die Faulheit wurde ausgelöscht und vergessen, ihre Geschichten, ihre Segnungen, ihre Blüten, ihre Verse und Lieder“ (Bärfuss, 167f.).

Fokussiert auf die phlegmatischen Koalas führt die Frage nach dem Suizid des Bruders, den in der Sorge um seine Hanfplantage eine durchaus positive Lebenseinstellung, ja, Ruhe und Genussfähigkeit auszeichnete, zur rigorosen Selbstbefragung unserer tiefsitzenden Angst vor aller Muße: „Menschen, so ging mir auf, besaßen kein Bewusstsein für den Stillstand. Wir waren, genau wie die Kröten, Schlangen, Frösche, Bewegungsseher, und was zur Ruhe gekommen war, vermochten wir nicht zu erkennen“ (Bärfuss, 180). Die vom Koala verkörperte Einheit von Mensch und Natur ist unwiederbringlich verloren, dies stellt eine beunruhigend-verstörende Infragestellung unseres ungebremsten Arbeits- und Leistungsstrebens dar: „Und so lebten wir, so lebte ich. Außerhalb der Schöpfung. Uns wurde nichts geschenkt, was wir essen wollten, mussten wir dem Tag stehlen. Wir waren Knechte, Sklaven, jeder von uns, und unser Geist war so verdorben, dass wir nicht einmal merkten, wie krank und elend uns die Arbeit machte“ (Bärfuss, 169).

Ja, als größte Provokation unserer „Treibjagdwelt“ sieht der Schweizer Schriftsteller im Nichtstun eine Form subversiven Widerstands gegen die Leistungs- und Verwertungslogik einer durchökonomisierten Welt: „Das Leben will nicht berechnet werden. Dieses Bilanzierende ist genau die Logik des Selbstmords. Die besten Lebensmomente sind doch jene, in denen man aufgeht im Glück des Augenblicks, sich selbst vergisst in der Ekstase, in der Meditation und Kontemplation, im Exerzitium des Schreibens …“ („Das Leben als Treibjagd“. Lukas Bärfuss im Gespräch mit Richard Kämmerlings, SRF-Sternstunde Philosophie vom 04.05.2014).

ANSTIFTUNG ZUR KONTEMPLATION

Dass Kunst, Natur und Spiritualität keine getrennten Bereiche sind, ja, Literatur als eigener Kontemplationsweg gilt, fasziniert Marion Poschmann (*1969) an der japanischen Ästhetik besonders. In ihrem Japan-Roman Die Kieferninseln (2017) begibt sich Gilbert Silvester auf den Spuren des berühmten Wanderpoeten, Haiku-Dichters und Zen-Meisters Matsuo Bashō zu den Kieferninseln in der Bucht von Matsushima: „Konsequente Fußmärsche. Einfachste Quartiere. Verzicht auf technische Hilfsmittel, allem voran Mobiltelefone. Erst dann erreichte man eine Haltung, die es erlauben würde, zu jenem gestrengen Über-Ich auf Distanz zu gehen, das jeden von ihnen im Alltag unter Kontrolle zu halten suchte. Eine Haltung der Souveränität und Bedürfnislosigkeit, die es schließlich erlauben würde, sich ohne große Vorbehalte anderen Dingen zuzuwenden. Dem Innenleben. Den Kiefern. Dem Mond“ (Poschmann, 47f.).

Gilbert trifft auf Yosa Tamagotchi, der mit dem in Japan so populären Complete Manual of Suicide unterwegs ist. Er kann den vom Prüfungsdruck gestressten Suizidkandidaten gerade noch abhalten, sich vor einen fahrenden Hochgeschwindigkeitszug zu werfen. „Der äußere Selbstmord“, gibt Gilbert ihm zu verstehen, „und der innere Selbstmord sind miteinander gar nicht zu vergleichen. Bashō strebte den inneren Selbstmord an, er wollte sein Ego loswerden, um frei zu sein für die Dichtung“ (Poschmann, 118). Das wird zum Lernprogramm ihrer gemeinsamen Pilgerreise: die ichbezogene Habens-, Strebens- und Wollens-Struktur menschlichen Daseins durchbrechen, um Freizuwerden zu einer durch nichts verstellten Offenheit, die alles Ichhafte, alle Vorstellungen des Unterschiedenseins hinter sich lässt. Diese Befreiung von innen umschreiben Zenbuddhisten mit ‚Grundlosigkeit‘, ‚Leere‘ und ‚Nicht-Ich‘. Das meint keinen Nihilismus, vielmehr eine Bewegung der Ent-Grenzung und Ent-Eignung. Jedes isolierte Für-sich wird entschränkt in eine absichts- und interesselose In-Differenz allseitiger Bezogenheit.

Dass das Hinterland von Bashos Reisebuch „auch als das menschliche Innere gelesen werden“ (Poschmann, 76). könne, bietet Gelegenheit für eine höchst aufschlussreiche christlichabendländische Analogie. Poschmann verweist auf Bonaventura: „In seinem Itinerarium mentis in Deum beschreibt er den Stufenweg der Seele zu Gott“, es handelt sich „weniger um einen Reisebericht als um eine diffizile Anleitung zur Kontemplation. Wie im Zen-Buddhismus eine regelgeleitete, didaktisch motivierte Meditationspraxis geübt wird, die das Ziel hat, nicht nur Ausgeglichenheit und Wohlverhalten zu fördern, sondern den Adepten tatsächlich zur Erleuchtung zu führen, gipfelt auch die Methode Bonaventuras in der mystischen Vereinigung, und es ist vermutlich der vollständigen spirituellen Entmündigung und Entmutigung christlicher Laien durch eine pyramidal strukturierte Kirche zuzuschreiben, dass einen solchen systematischen Weg mit garantierter Gottesschau in unserem Kulturkreis niemand geht.“ (Poschmann, 76f.) Unüberhörbar wird Gilbert hier zum Sprachrohr der Autorin: „Bonaventura findet Gott in den Dingen und durch die Dinge, Bashö hingegen findet die Dinge in und durch Gott. Und wir, die wir den Innenraum nicht einmal kennen, können nicht wissen, ob in den entgegengesetzten Herangehensweisen letztendlich ein Unterschied liegt oder nicht“ (Poschmann, 77).

Am Ziel angekommen, hat Gilbert die selbstvergessen-gesammelte Achtsamkeit so sehr verinnerlicht, dass er sich von einer Person, die ein Ziel erreichen will, in jemanden verwandelt hat, der sich in kontemplativer Betrachtung und gelassener Aufmerksamkeit dem Fluss der Dinge überlässt entsprechend dem vorangestellten Motto Matsuo Bashōs: „Wenn du etwas über die Kiefer lernen willst, begib dich zur Kiefer. Und wenn du so tust, mußt du deine persönlichen Interessen an dir selbst aufgeben, denn sonst drängst du dich dem Gegenstande auf und wirst nichts lernen“. Kaum zufällig treffen sich Zen-Buddhismus und christliche Mystik eines Meister Eckhart oder Angelus Silesius in der Erfahrung eines Lebens ohne Warum, ohne Worumwillen im Sinne des Verzichts auf selbstgesetzte Zwecke, Ziele und Antreiber. Die Kieferninseln eröffnen dazu einen sinnlich-narrativen Zugang.

LESEN ALS HÖHERE KUNST ‚TRÄGEN‘ DASEINS

Worin besteht die Faszination des Lesens? Aus dem Hamsterrad außenbestimmter Geschäftigkeit ausbrechen, innerlich freiwerden für die Segnungen von Nichtstun, Stillstand und langer Weile als produktiver Unterbrechung, ja, Voraussetzung für Aufmerksamkeit, schöpferische Kreativität und Genussfähigkeit: Ohne dass dies literarisch eigens Inhalt und Thema werden muss, lassen Mußestunden mit Poesie und Belletristik ganz unmittelbar die spielerische Kraft ästhetischer Erfahrung erleben. Durch ihre kontemplative Unterbrechung unserer Alltagsgeschäfte wie die fiktive Durchbrechung eingespielter Wahrnehmungsroutinen bildet sie eine unersetzbare Experimentierform im Umgang mit Wirklichkeit, ein imaginatives Laboratorium des Möglichkeitssinns.

Durch Lesen wird es möglich, zur Ruhe zu kommen, die Welt um sich herum zu vergessen und so der vielfältigen Wirklichkeit neu gewahr zu werden. Lesend per Kopfkino in fremde Welten einzutauchen, lässt sonst kaum wahrgenommene Lebensentwürfe und -gestaltungsalternativen lust- und erkenntnisbringend durchspielen. Gerade so, im freien Spiel der Fantasie, befreit von Handlungs- und Entscheidungsdruck, eröffnet Lesen Entdeckungs- und Reflexionsspielräume für die Vorstellung eines guten Lebens jenseits aller Nutzenskalküle: es könnte auch anders sein.

LITERATUR

Bärfuss, Lukas, Koala. Roman, Göttingen 22014.

Gellner, Christoph, nach oben offen“. Literatur und Spiritualität – zeitgenössische Profile, Ostfildern 2013.

Ders., Die Bibel ins Heute schreiben. Erkundungen in der Gegenwartsliteratur, Stuttgart 2019.

Ders./Langenhorst, Georg, Blickwinkel öffnen. Interreligiöses Lernen mit literarischen Texten, Ostfildern 2013.

Poschmann, Marion, Die Kieferninseln. Roman, Berlin 32017.

Timm, Uwe, Vogelweide. Roman, Köln 2013.

Lebendige Seelsorge 1/2020

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