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Muße-Erzählungen?

Replik von Günter Figal auf Christoph Gellner

Ich stimme Christoph Gellner zu: Lesen ermöglicht einen Abstand zur alltäglichen Welt mit ihrem „Handlungs- und Entscheidungsdruck“, es eröffnet „Entdeckungs- und Reflexionsspielräume“, und es lässt auf den Gedanken kommen, das alles „auch anders sein“ könnte, als man es kennt. So ist es zumindest beim Lesen von Romanen. Allerdings ist diese Freiheit gegenüber der alltäglichen Welt im Allgemeinen nicht ohne Irritation zu haben. Romane geben keine klaren Verständnislinien vor, sondern bieten nur Ambivalenzen, je besser sie sind, desto subtiler. Dann ist nichts eindeutig, alles kann verschieden gelesen, verschieden aufeinander bezogen, verschieden ernst oder ironisch genommen werden, ohne dass man an der Eindeutigkeit des Textbestandes zweifeln müsste. Was kann man, wenn es so ist, aus Romanen lernen, zum Beispiel aus denen, die Christoph Gellner vorstellt, und zum Beispiel über Muße?

Vielleicht lernt man, Fragen zu stellen. Ist Eschenbach, eine der Hauptfiguren in Uwe Timms Roman Vogelweide jemand, der, wie Gellner schreibt, eine „mußevolle Auszeit“ erlebt – dieser Flüchtling vor den Trümmern seines Privatlebens und dem Bankrott seiner Firma? Dann müsste das „Gefühl der Sinnentleerung“, das ihn, den zum Vogelwart gewordenen alternativ-etablierten Bürger, durchstimmt, Muße sein. Und wie ist es mit jener Apologie der Trägheit, als die man den Roman von Lukas Bärfuss lesen kann, der das träge australische Beuteltier, den Koala, im Titel führt? Immerhin haben Trägheit und Faulheit den Bruder der Erzählerfigur in den Suizid getrieben. Oder nicht? Sind es die anderen, die Fleißigen, die eine ziellose Existenz mit gelegentlicher Freude an einer gedeihenden Hanfplantage nicht aushalten? Aber hätte jemand sich umgebracht, ausgerechnet mit Heroin, wenn er sein Leben erfüllt gefunden hätte? Und sollte das, was man ‚Muße‘ nennt, nicht mit jener Lebenserfülltheit verbunden bleiben, die in der Tradition mit diesem Wort immer mitschwang?

Auch Gilbert Silvester, der Held in Marion Poschmanns Roman Die Kieferninseln (2017), ist kein besonders glücklicher Mensch, vielmehr ein Ausweicher und Wegläufer. Ein „unscheinbarer Wissenschaftler, Privatdozent“ (Poschmann 2017, 10), der akademisch vieles, wenn nicht alles ‚falsch gemacht‘ hat und nun auch noch glaubt, dass seine Frau ihn betrüge, nur weil er es geträumt hat, daraufhin den erstbesten Flug nimmt, in Tokyo landet und dem Land gründlich misstraut, weil sich „in Teeländern alles unter dem Schleier der Mystik“ (Poschmann 2017, 14) abspiele. Trotzdem kauft er am Flughafen neben anderen Klassikern der japanischen Literatur das Reisetagebuch des Dichters Bashō in englischer Übersetzung und erklärt nach dessen Lektüre einem lebensmüden japanischen Studenten, den er getroffen hat, die japanische Kultur. Ausgerechnet während einer Nacht im bei Selbsttötern beliebten Wald Aokihagara imaginiert Silvester einen Brief an seine Frau, in dem er, der Erforscher von „Bartmode und Gottesbild“ (Poschmann 2017, 13), darüber nachsinnt, ob Bashōs Reise wohl eine ‚mentale Exkursion‘ sei – so wie das Itinerarium mentis des christlichen Theologen Bonaventura (Poschmann 2017, 76f.). Daran kommen ihm Zweifel; er ahnt, dass Bashōs Reise gar nichts Innerliches ist, sondern wirklich durch den Norden Japans führt – es ist, als ob er damit, wenigstens für einen Augenblick, aus seiner eigenen vertrackten Innenwelt herausfände.

Viel spricht nämlich dafür, dass Silvesters merkwürdige Japan-Reise selbst eine ‚mentale Exkursion‘ ist. Trifft er den jungen lebensmüden Mann, den er zum Schreiben von Haikus anstiftet, wirklich? Dessen Name, Tamagochi, klingt genauso und schreibt sich ähnlich wie ‚Tamagotchi‘, das Wort für ein elektronisches Küken, das man ‚versorgen‘ muss, weil es sonst ‚stirbt‘. Marion Poschmann, eine Meisterin poetischer Ambivalenzen, lässt den Studenten im Laufe der Geschichte einfach verschwinden und führt ihren Helden zu einer der drei sprichwörtlich schönsten Landschaften Japans, den Kieferninseln, Matsushima, die Silvester allerdings „mit Schwimmkränen und Baugerät zugestellt“ (Poschmann 2017, 156) findet. Am Ende überlegt er, seine Frau anzurufen und ihr zu sagen, sie solle nach Tokyo kommen, es sei „alles ganz einfach“ (Poschmann 2017, 165). Ist er nun aufgewacht? ‚Mental‘ nach Hause zurückgekehrt? Der Roman lässt das offen. Immerhin weiß Silvester im Anblick der Kieferninseln, dass die Bewunderung von Bäumen „eine vollkommen nutzlose Sitte“ ist, wenngleich „in der japanischen Kultur tief verwurzelt“ (Poschmann 2017, 163). Für sehr viel zen-buddhistische Einsicht spricht das nicht. Vielleicht wäre für Gilbert Silvester die Bewunderung von Bäumen hilfreich gewesen, vielleicht eine erste Mußeerfahrung, von der Art, wie Marion Poschmann sie zum Beispiel in einem Text über den Steingarten des Tempels Ryōan-ji in Kyoto beschreibt – aufgenommen in ihren Essayband Mondbetrachtung bei mondloser Nacht (Poschmann 2016, 104-111) oder in ihrem den Kieferninseln gewidmeten Gedicht aus dem Band Geliehene Landschaften – hier die letzten beiden Strophen (Poschmann 2016, 73):

Inseln der Seligen, Hunderte Inseln, manche bieten nur Platz für einzelne Möwen, ausgehöhlt,

schroff von der Flut geformte Gesteinsbrocken, auf denen knorrige Schatten schwanken, hagere

Greise, die sich dort anklammern, Kiefern, gebeugt

über die dunstige Strömung der Bucht.

Du bist am Ziel, stehst inmitten der Dinge, die Raum einnehmen,

um deine Uferlosigkeit zu dämmen.

Lebendige Seelsorge 1/2020

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