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Essen, Glauben und Genuss

Ein ernährungssoziologisches Essay zu christlichem Leben und alimentärer Praxis

Dass Menschen essen und trinken müssen, ist unbestritten, doch wie die Menschen damit umgehen, ist abhängig von der Kultur, in der sie leben und ebenso von ihrem Glauben. Auch die christliche Religion stellt das Alimentäre immer wieder ins Zentrum ihrer Theologie und Glaubenspraxis, was aus ernährungssoziologischer Sicht sehr spannend ist. Daniel Kofahl

Wenn Christen ihr wohl wichtigstes Grundgebet, das Vaterunser, sprechen,lobpreisen sie nicht nur Gott, den Allmächtigen, oder hoffen auf Vergebung für ihre Sünden. Sie erbitten sich darüber hinaus auch etwas Brot als tägliche beziehungsweise auch als alltägliche Speise. Sicher, für manch einen mag es sich bei diesem „täglich Brot“ allein um geistige Nahrung handeln. Doch dieser Interpretationsspielraum erscheint letztendlich zu eng.

Die alimentäre Grundversorgung ist dem christlichen Bekenntnis ein ebenso wichtiges Fundament wie der gelebte spirituelle Glaube. Dieser kann schließlich nur dann ein lebendiger Glaube sein, wenn er auch auf der stofflich-materiellen Ebene lebendige Gläubige vorfindet, die ihn tragen und leben können. Nicht umsonst engagieren sich christliche Organisationen wie das Bischöfliche Hilfswerk Misereor explizit gegen die materielle Armut der Menschen. Dieses Engagement schließt den Kampf gegen Ernährungsarmut als basale Hilfe und Nächstenliebe mit ein.

Doch wie steht es um weitergehende Bedürfnisse und Befriedigungen, die sich ebenfalls um die Ernährungspraxis herum entwickeln können? Es ist schließlich eine der ganz wenigen anthropologischen Universalien, dass es allen Menschen eigen und gemein ist, essen und trinken zu müssen (vgl. Simmel). Da ist es wenig verwunderlich, dass sich noch weitere Aspekte, vor allem zahlreicher Genüsse, um das Phänomen des Essens und Trinkens entwickelt haben. Diese lohnt es, als Gemeinschaft strukturierende Einflüsse näher zu beleuchten.

ESSEN UND TRINKEN ALS INKLUSIONS-UND EXKLUSIONSMECHANISMUS

Alle Menschen müssen regelmäßig essen und trinken, zumindest, wenn sie mittelfristig überleben wollen, und das verbindet die Menschen miteinander. Es verbindet sie über alle Zeiten, alle Orten und alle Kulturen miteinander. Beim gemeinsamen Mahl kann man zusammenfinden, es kann „eine Häufigkeit des Zusammenseins“ entstehen, die „eine Gewöhnung an das Vereinigtsein knüpft, wie sie durch höher gelegene und geistige Veranlassungen nur selten erreichbar ist“ (Simmel, 69f.). Dies bedeutet so viel wie, dass nicht jedermann ein begeisterter Hörer von gregorianischen Chorälen oder konzentrierter Rezipient neuscholastischer Texte ist oder sein muss. Doch andersherum müssen sowohl der Choralsänger und auch der Scholastiker ab und an einen Bissen essen und einen Schluck trinken und sich so mit den anderen Menschen gemein machen. Essen und Trinken eignet sich also hervorragend als Integrations- und Inklusionsrahmen.

Daniel Kofahl

Dr., Ernährungssoziologe, leitet das Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur (APEK); Lehrbeauftragter für Ernährungssoziologie an der Universität Wien; ist selbst römisch-katholisch getauft und beschäftigt sich immer wieder mit religiösen Aspekten von Ernährung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive; mehr Infos unter www.apek-consult.de/team/dr-daniel-kofahl/

Der christliche Glaube und die auf ihm errichtete Kirche stehen immer wieder im Verdacht, besonders genussfeindlich zu sein.

Der alimentären Sphäre zu Lebzeiten zumindest nie ganz entkommen zu können, ist ein Umstand, der gerade die besonders asketisch ausgerichteten Gläubigen durchaus zu plagen weiß. Zum Beispiel Kirchenvater Augustinus (354-430) konnte sich in seinen Bemühungen, allen weltlichen Gelüsten zu entsagen, vieles verkneifen, etwa eine praktizierende Sexualität, doch beim Essen wurde es schwierig: „Solchen Versuchungen ausgesetzt, kämpfe ich täglich gegen die Begier zu essen und zu trinken. Denn da gelingt es nicht, mit einem einzigen Willensakt Schluss zu machen und nicht mehr darauf zurück zu kommen, wie ich es bei der Sexualität konnte. So muss ich den Gaumen maßvoll die Zügel mal lockern und mal straffen. Und welcher Mensch, Herr, ließe sich nicht gern einer Kleinigkeit wegen über die Grenzen des Notwendigen fortreißen?“ (zitiert nach Heckmann, 55).

Selbstverständlich kann man sich, selbst wenn man bemerkt, dass man essen und trinken muss, zumindest immer noch aus der genussstiftenden Gemeinschaft der Essenden so weit wie möglich herausziehen. Hierin liegt dann auch der andere große soziologische Aspekt der Mahlzeit: man kann über ein Mahl eben nicht nur einschließen, sondern auch ausschließen. Es ist zum einen möglich, sich selbst auszuschließen, indem man beschließt, nicht mehr teilzunehmen an den Speisen und Riten einer Gruppe, die einem prinzipiell offenstünden. Oder aber man kann jemanden ausgrenzen, ihm den gastronomischen Zutritt oder die kulinarische Teilhabe verwehren an der Ernährungskultur oder der esskulturellen Erfahrung. Gewollt oder nicht, auch Exklusionen finden über die Ernährungspraxis statt, sei es, wenn ein Kind vom Tisch geschickt wird, weil es sich ungezogen benommen hat, sei es, wenn jemand keine Einladung zu einem privaten Essen erhält oder er kein Geld hat, für ein öffentliches zu bezahlen, oder sei es, weil Speisen kredenzt werden, die in einer anderen Esskultur moralisch verwerflich sind.

GENUSSSÜNDEN UND IHRE FOLGEN

Der christliche Glaube und die auf ihm errichtete Kirche stehen immer wieder im Verdacht, besonders genussfeindlich zu sein. Und das auch nicht ganz zu Unrecht. Eine asketische Lebenshaltung voller Entsagungen, fernab aller sündhafter Versuchungen, scheint auf dem Weg ins jenseitige Himmelreich vielversprechender zu sein als ein durch weltliche Götzen ausgelöster Sinnestaumel. Man denke nur an den Sündenfall im Paradies, der schlimme Folgen nach sich zog.

Doch gerade dieser erste Akt menschlichen Versagens vor den aufgestellten Regeln des großen Anderen, vor Gott, ist aus Sicht der Ernährungssoziologie, die sich anschauen will, wie mittels bestimmter Formen des Essens und Trinkens gemeinschaftliches Leben organisiert wird, durchaus interessant. Sicher, Gott hatte Adam und Eva strengstens verboten vom Baum der Erkenntnis zu essen, mit dem Tod wurde ihnen sogar gedroht, sollten sie es doch tun. Doch was unternimmt Gott, um diese kostbaren Früchte zu schützen? Er zieht keinen Graben, er baut keine Mauer um den Baum herum, kein Engel mit Schwert bewacht ihn. Stattdessen heißt es: „Da sah die Frau, dass es köstlich wäre, von dem Baum zu essen, dass der Baum eine Augenweide war und dazu verlockte, klug zu werden“ (Gen 3,6). Heutzutage würde man sagen, die Früchte des Baums der Erkenntnis waren quasi mit dem Label „Superfoods“ ausgezeichnet worden. Als dann dieses Produkt auch noch von dem zweifelhaftesten aller Produktbotschafter, der diabolischen Schlange, beworben wird, hätte es schon nahezu übermenschliche Fähigkeiten gebraucht, um so einer schmackhaften, augenfälligen und das Bewusstsein erweiternden Speise widerstehen zu können. Wie die Geschichte ausging, ist bekannt: Eva „nahm von seinen Früchten und aß; sie gab auch ihrem Mann, der bei ihr war, und auch er aß.“

In diesem Akt und all seinen Folgen wird bereits der Teil der Ambivalenz des christlichen Glaubens zum nutritiven Genuss sichtbar. Es gibt sie, die von Gott in der Welt geschaffenen Verlockungen und sie zu verzehren kann furchtbare Folgen haben. Auch wenn man vielleicht nicht jedes Mal gleich aus einem Paradies verwiesen wird, von Bauchgrummeln bis gieriger Völlerei ist vieles denkbar, wenn man erst einmal einer besonderen Speise oder einem speziellen Trank zugetan ist.

Auf der anderen Seite muss man anerkennen, dass erst durch den Sündenfall der Mensch zum Mensch geworden ist. Er ist nun im schlechtesten, aber auch im besten Sinne des Wortes menschlich. Und er hat die Fähigkeit zur Erkenntnis erlangt. Immer wieder stellt sich die Frage, was das für eine Existenz des Menschen wäre, ohne diese Eigenschaft leben zu müssen oder leben zu dürfen. Und auch Gott, der durch sein ausgefeiltes Produktdesign nicht ganz unschuldig zu sein scheint an dieser Ursünde, beginnt seinen großen, bis in die Gegenwart andauernden Dialog mit den Wesen, die ihm doch ähnlich, aber niemals gleich sein werden, erst nach dem verhängnisvollen Naschakt.

Dennoch, der Schock über die begangene Verfehlung aus Schwäche heraus und die anschließende Strafe sitzen tief im kollektiven Bewusstsein der menschlichen Kultur. Wer so etwas erlebt und die Folgen bewusst realisiert – erkennt – wird wohl in den meisten Fällen zwangsläufig vorsichtig, eventuell sogar schreckhaft. Die Schönheit der göttlichen Schöpfung wird gegebenenfalls wahrgenommen, mit Worten und in Gebeten gepriesen, aber wird sie auch aus- beziehungsweise verkostet?

GENUSS UND LOBPREIS

Die Heilige Schrift des Islams, der Koran, ist da ganz klar und sogar imperativ in seiner Botschaft. In Sure 2, Vers 172 heißt es dort: „O die ihr glaubt, esst von den guten Dingen, die wir euch gnädig zur Verfügung gestellt haben, und dankt Allah. Wahrlich, dann seid ihr seine Diener.“ Hier wird also explizit dazu aufgerufen, die Schöpfung Gottes auch auf dem alimentären Weg durch den Verzehr und den dankbaren Genuss zu lobpreisen. Verwiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf die ausgiebigen Mähler, die zelebriert werden, wenn das Fasten des Ramadans gebrochen wird. Was wird da nicht alles aufgetischt! Dabei ist es gar nicht zwangsläufig notwendig, dass sich die christliche Praxis hier im Vergleich im hungrigen Büßerhemd versteckt. Kirchenvater Augustinus bemerkt es im oben aufgeführten Zitat selbst, dass er dem Essen und Trinken und deren Genüssen nicht ganz entfliehen kann. Warum hätte Gott dies so einrichten sollen, wenn er nicht wollen würde, dass ihnen hin und wieder nachgegeben wird? Seinen Sohn, Jesus, schickt er auf die Welt, um dort Wunder zu wirken und Zeugnis seiner Liebe zum Menschen abzulegen und was ist das erste Wunder, welches Jesus vollbringt? Weder ist es die Heilung eines Kranken noch die Vergebung großer Sünden. Sein erstes Wunder vollbringt Jesus auf der Hochzeit zu Kana, wo er geschmacksneutrales Wasser in Wein verwandelt. Und er verwandelt ihn nicht in irgendwelchen Wein, sondern es wird ausdrücklich von einem guten Wein gesprochen. Jesus scheint darum zu wissen, wie man ein integratives, ein inkludierendes Festmahl geschmack- und genussvoll zu gestalten hat. Solche alimentären Unterfütterungen integrativer Festlichkeiten finden sich vielfach in der christlichen Kirche. Selbstverständlich geht es am Osterfest zuvorderst um die Auferstehung Jesu Christ und an Weihnachten um seine Geburt. Aber um die Besonderheiten dieser Anlässe zu feiern und um transzendent-spirituelle Glaubensinhalte mit dem stofflich-materiellen irdischen Leben zu verknüpfen sowie die Gemeinschaft der Gläubigen zu festigen und mit größtmöglicher Integrationskraft auszustatten, gibt es an diesen Tagen eben die köstlichsten Speisen. So entsteht eine Einheit von religiösem Glaube und kulinarischem Genuss. Es ist auch einer der Vorzüge des katholischen Glaubenslebens, dass es sich mit den allzu menschlichen Seiten der weltlichen Existenz gut auskennt und sich über die Jahrtausende mit ihnen zu arrangieren gelernt hat. Es ist nicht nur sehr menschenfreundlich, dem reuigen Sünder im Sakrament der Beichte seine Verfehlungen zu vergeben. Es ist auch menschenfreundlich, ihm durch die harten Zeiten auf Erden so gut wie möglich hindurch zu helfen. Dies geschieht wie eingangs erwähnt dadurch, dass seine nutritive Grundlage gesichert wird. Dies geschieht aber auch dadurch, dass gerade in Klöstern die Entwicklung und Produktion von Speisen und Getränken vorangetrieben wurde. „Ora et labora“ – „bete und arbeite“ – ist nur die eine Seite der Medaille, auf der anderen finden sich nicht selten schmackhafte Gerichte, Biere und Weine, die in eben diesen Abteien für die Menschen hergestellt wurden und werden.

Der Mensch mag aus dem Paradies verwiesen worden sein, paradiesische Zustände findet man jedoch auch in irdischen Gefilden, wie in den Psalmen treffend bemerkt wird: „Du krönst das Jahr mit deiner Güte, deinen Spuren folgt der Überfluss“ (Ps 65,12). Bekannt ist auch, dass es selbst für die Fastenzeit einige Kniffe gibt, wie diese entbehrungsreiche Zeit besser durchzustehen ist. So weiß der kenntnisreiche Gläubige zum Beispiel, dass Flüssiges das Fasten ebenso wenig bricht – etwa das nährstoffreiche und inzwischen auch alkoholfreizu erhaltene Bier – wie auch nahrhafte Schokolade nicht verboten ist.

HEDONISTISCHES CHRISTENTUM?

Gründet die Alltagspraxis des Christentums nun gar nicht auf Verzicht? Die Antwort ist aus der kulturwissenschaftlichen Sicht der Ernährungssoziologie eine von Ambivalenz geprägte Beobachtung. Den vielen auf Askese und Verzicht drängenden Äußerungen in der christlichen Kommunikation stehen durchaus auch empirische Beispiele und Texte gegenüber, die einen maßvollen, einen womöglich in puncto kulinarischem Genuss gar epikureischen Hedonismus nicht ganz abwegig erscheinen lassen. So wird auch im Buch Kohelet wiederholt über das Glück, ein zentrales Element hedonistischen Daseins, reflektiert. Dabei stellt der Autor des Buchs zwar einerseits fest, dass das gesamte irdische Leben und mit ihm das irdische Glück vor allem „Windhauch“ sind, doch er kommt auch zu der Erkenntnis: „Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück, es sei denn ein jeder freut sich und so verschafft er sich Glück, während er noch lebt, wobei zugleich immer, wenn ein Mensch isst und trinkt und durch seinen ganzen Besitz das Glück kennenlernt, das ein Geschenk Gottes ist“ (Koh 3,11). Geschenke Gottes gilt es für einen anständigen Christen freilich anzunehmen und im besten menschlich-gottgefälligen Sinne zu verwenden. Das hieße im Fall von Essen und Trinken wohl zunächst einmal zu essen und zu trinken – aber nicht allein, sondern das Brot, den Wein oder was auch immer mit einem anderen zur Gründung oder Bestätigung einer Inklusion zu brechen. Und ganz ohne Mäßigungsappell kommt natürlich auch Kohelet nicht aus. So heißt es gegen Ende des Buches: „Aber sei dir bewusst, dass Gott dich für all das vor Gericht ziehen wird. Halte deinen Sinn von Ärger frei, und schütze deinen Leib vor Krankheiten“ (Koh 11,9f.). Das kann man durchaus so verstehen, dass nicht übertrieben werden soll mit den Genüssen und ein gesundes, sittliches Maßhalten angebracht sei.

Aus ernährungssoziologischer Sicht könnten Christen als reflektierte und maßvolle Genussmenschen beschrieben werden.

Insofern könnten Christen aus ernährungssoziologischer Sicht als eine Gemeinschaft reflektierter und maßvoller Genussmenschen beschrieben werden, die zunächst einmal den grundlegenden Hunger bekämpfen, aber über die Gefahren, die Freuden und die Potentiale einer weitergehenden Esskulturpraxis durchaus Bescheid wissen.

LITERATUR

Fuchs, Guido, Gott und Gaumen. Eine kleine Theologie des Essens und Trinkens, München 2010.

Heckmann, Herbert, Die Freud’ des Essens, München 1979.

Kofahl, Daniel, Religionssoziologische (Geschmacks-)Sinnsuche – Ein Gesprächsangebot über Essen, Gott und die Welt, in: Sascha Müller (Hg.), Die Sprache verstehen. Interdisziplinäres zwischen Germanistik, Philosophie und biblischer Exegese, München 2014, 117-134.

Simmel, Georg, Soziologie der Mahlzeit, in: Kikuko Kashiwagi-Wetzel und Anne-Rose Meyer (Hg.), Theorien des Essens, Berlin 2017, 69-76.

Lebendige Seelsorge 3/2017

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