Читать книгу Durch die Erde ein Riß - Erich Loest - Страница 5
Klammer auf
Оглавление»Dreinzwanzsch, komm Se!«
Der Strafgefangene 23/59 folgte dem Hauptwachtmeister über Galerien und Treppen hinunter. Es war ein beschaulicher Vormittag, die Brigaden steckten in der Arbeit, die Einzelhäftlinge liefen still und in Abständen über die Nordtreppe zur Freistunde ab, ein Kalfaktor fummelte am Geländer. 23/59 ließ die Augen huschen: Die Belegung auf Station IV war wie bisher, rote Nummern an den Türen, eine rote Eins bedeutete: ein Mann in Einzelhaft. Dort lag Harich, drei Zellen weiter Dertinger, der gewesene Außenminister. Vor dem Saniraum wartete ein dicker Kerl, ein Neuer offenbar. Zwinkern wie nebenher, dabei rannen in 23/59 Gedanken ab: Verlegung oder Material zählen? Kabel abmessen? Oder der Quatsch mit der Zange ging wieder los, die seit letzter Woche nicht aufzutreiben war; er wußte von nichts und hatte das ziemlich schlüssig beweisen können; aber vielleicht suchten sie wieder und stellten die Zelle auf den Kopf; irgendwas fanden sie ja immer, hoffentlich nicht die kostbare Bleistiftmine. Dann gäb es kein Kreuzworträtsellösen mehr.
Der Hauptwachtmeister schloß die Tür zur Materialausgabe auf. Er war ein kleiner, beweglicher Vierziger mit lauter Stimme, nicht der schlechteste. »Sie übernehm de Abrechnung un de Materialausgabe un’s Werkzeug.«
»Möcht ich nich machn, Herr Hauptwachtmeister.«
Ungläubiger Blick. »Traun Se sichs nich zu?«
»Das schon. Aber ich möchts nich machn.«
Pause. Warten. Schlüsselklappern.
»Ich übernehm keine Funktion.« Das äußerte 23/59 so gelassen, wie er sichs vorgenommen hatte, und so fest wie möglich, er hatte Zeit gehabt, sich auf diese Situation vorzubereiten, vielleicht war sie unausweichlich, nun war sie da. Abrechnen hieß auch, dafür zu sorgen, daß die Norm erfüllt wurde, und da blieb es nicht aus, daß er mal spornte: Harry, nu quassl nich so viel, hau ran, sonst schaffn wir die Norm nie!
»Anweisung von der Anstaltsleitung.«
Blicke trafen sich, glitten nicht auseinander. Damit hatte der Hauptwachtmeister wohl nicht gerechnet, 23/59 galt als Häftling, der keinen Rabatz machte, er hielt die Zelle in Ordnung, brachte eine erträgliche Arbeitsleistung, wenn er auch keine Bäume ausriß. Auf einmal das. »Is doch gar nich viel, was Se machen solln. Bei vier Mann, das wern Se doch schaffn!«
Versuchung regte sich, sich zu besänftigen: Lohnt nicht, das bißchen, Brigadier biste dadurch noch lange nicht, und wenn dich der Anstaltsleiter eines Tages fragt: Welche politischen Gespräche werden bei Ihnen geführt? Oder: Welche Einstellung hat 4/58 zu seiner Straftat? Dann ist immer noch Zeit, zu antworten: Ich geb keine Auskünfte über Mithäftlinge. Aber er hatte sich hundertmal vorgenommen: Nicht den kleinen Finger geben, du rutschst rein und weißt nicht wie. »Ich geb keine Anordnungen an Mitgefangene.«
Nach einer Viertelminute, mit Schulterzucken: »Nochmals: Anweisung von der Anstaltsleitung.« Die Auflehnung, Befehlsverweigerung war nicht vor versammelter Mannschaft ausgesprochen worden, also war die Anstaltsleitung nicht gezwungen, das Gesicht zu wahren. Sie konnte so tun, als wäre nichts gewesen, konnte einen anderen beauftragen. Aber sie konnte 23/59 auch einen Denkzettel verpassen oder für etwas ganz anderes abstrafen, das sie ihm nicht hatte nachweisen können. Oder: 23/59 ließ auch im vierten Haftjahr nicht locker und hatte wieder einen Antrag beim Staatsanwalt gestellt, in seiner Freizeit schriftstellerisch arbeiten zu dürfen. Also endlich dem Querulanten eins auf den Deckel: Einundzwanzig Tage Bau!
»Sie könn sichs bis Schichtende überlegn.« Der Wachtmeister führte 23/59 zurück.
Köpfe hoben sich.
»Soll die Abrechnung machn.«
»Und?«
»Ich machs nich.«
Zangen faßten wieder nach Drähten, Schräubchen, das war ja nun das Ereignis der Woche, endlich wurde es mal spannend. Das würden die Kumpel drehen und wenden, würden Parallelen ziehen. Heinz Schmidt hatte mal abgelehnt voriges Jahr, Spion, lebenslänglich, der beste Motorenbauer des Hauses, der immer für 160 Prozent gut war. Keine Reaktion der Anstaltsleitung. »Mensch, Erich«, sagte Jupp, »wenn das nich ins Auge geht.« Nachgeben, am Abend sagen: Ich machs doch. Natürlich blieb ihm diese Versuchung nicht erspart. Aber das hätte er auch sofort haben können, da hätte er sich nicht hundertmal vorzunehmen brauchen: Nicht den kleinen Finger! Jetzt kneifen, und er war noch nicht mal vor die Alternative gestellt worden: Wenn Sies nicht machen, marschieren Sie in den Bau. Harry sagte: »Paß auf, die haun uns auseinander.«
Mittags liefen sie aus dem Arbeitsraum auf Zelle ab. 23/59 lag mit Jupp zusammen, der war eher in der Zelle gewesen und hatte deshalb das obere Bett. Bessere Luft am Fenster. Das dritte Mal Nudeln diese Woche, Kartoffeln waren knapp. Möhrenstücke dazwischen, winzige Würfelchen Schweineschwarte, immerhin. Man konnte nicht immer dasselbe reden, und so erinnerten sie sich, daß vor einem Monat Weißkraut mit Hering ausgekellt worden war, als Eintopf gekocht, eine Wahnsinnstat der Küche. 23/59 löffelte langsam, er würde aufessen, und wenn der Fraß noch so miserabel schmeckte. Jupp horchte nach draußen, und da erscholl er schon, der Ruf: »Station drei – Feuer!« Das war nun die Frage für Jupp: Aufs Rauchen verzichten während der Mittagspause oder rauchen mitten im Essen. Natürlich entschied er sich fürs Laster, lehnte sich an die Tür, der Kalfaktor öffnete den Spion, Jupp schob sorgsam die Zigarette mit dem Papiertütchen hindurch, sog. Sofort verfiel er in heilige, stumme Andacht.
23/59 entsann sich unterdessen der Zeiten, in denen er Macht besessen hatte, ein bißchen immer nur, und stets hatte sie ihn verändert. Jungenschaftsführer und Fähnleinführer beim Deutschen Jungvolk, Reserveoffiziersbewerber, Redakteur, Bezirksvorsitzender im Schriftstellerverband. Dazwischen jeweils ein schmerzhafter Fall. Aufrappeln. Der tiefste Sturz, Zuchthaus. Nun ein Sprößchen: Verantwortlich für die Arbeitsleistung von drei Mitgefangenen.
»Ich würds machen«, sagte Jupp nach dem Rauchen. »Deswegen mußte doch kein anscheißn.«
»Und in paar Wochen heißts: Sie machn Kalfaktor in ’ner Brigade.«
»Warts doch ab.«
Sie wurden wieder in den Arbeitsraum geführt und montierten und löteten und erfüllten die Norm und schafften ein wenig Vorlauf für den nächsten Tag. Eine halbe Stunde vor Schichtende stand der Hauptwachtmeister in der Tür, er blickte 23/59 an und fragte, wobei er mit dem Schlüsselbund gegen den Oberschenkel klapperte: »Also was is?«
»Ich bleib dabei.«
Ein Blick, wartend, nicht einmal zornig. »Hoffentlich ham Se sichs gut überlegt.« Wieder Warten. Schlüsselklappern. Der Hauptwachtmeister zeigte auf Jupp: »Sie gem Matrial und Werkzeug ab.«
»Jawoll, Herr Hauptwachtmeister.«
Sie redeten nach einer Weile darüber, ob noch vor Sonnabend Zigaretten ausgeteilt würden. Jupp sammelte die Zangen und Schraubenzieher ein. 23/59 war eher auf Zelle als er und nahm die Zeitung und das Abendbrot herein. Er schlug die Zeitung auf, 27. November 1961, wieder hatten sich DDR-Betriebe entschlossen, nach dem Bau des antifaschistischen Schutzwalls etliche Erzeugnisse, die sie bislang aus dem westlichen Ausland bezogen hatten, selbst herzustellen, sich, wie es hieß, störfrei zu machen. Bauern bereiteten sich in Winterseminaren auf das kreuzweise Verlegen von Mais vor.
Jupp berichtete, er habe bei der Materialausgabe den Löwen von Biesdorf getroffen, auch Graf Hardenberg, der natürlich kein Graf war. Allgemeine Meinung: vor Abschluß des Friedensvertrags keine Amnestie mehr. Aber dann sofort. Schöne Grüße. Und halt den Arsch warm.
Sie aßen Brot mit Schmalz und Leberwurst und ein wenig Marmelade aus dem eigenen Vorrat. Kurz nach sechs wurde die Glühbirne ausgeschaltet, die Anstalt sparte Strom. Licht fiel nur noch durchs Fenster herein, die Scheinwerfer auf den Mauern, die Kunstmonde, brannten natürlich hell und klar. Ihr Glanz reichte, vor der Nachtruhe die Klamotten auf dem Schemel kantenrein zu packen, Schüssel und Löffel obenauf. Abmeldung in Unterhosen.
Nach dem Einschluß lag 23/59 noch eine Stunde wach. Er hakte diesen Tag ab, vier Jahre und vierzehn Tage war er in Haft, drei Jahre, fünf Monate und sechzehn Tage hatte er noch vor sich. Er hätte alles in Tagen ausdrücken können, auch die Spanne dazwischen. Er resümierte: Kein leichter Tag heute, aber du hast ihn hinter dir. Der Teufel naht meist auf leisen Sohlen. Er dachte darüber nach, wie es denn gekommen war, daß er keine Macht wollte, keine von oben verliehene und von unten nicht kontrollierte Macht. Keine Gesellschaft war denkbar, ohne daß Menschen Macht über andere ausübten – warum, fragte er sich, ist das für mich ein Problem und für andere nicht? Wer Macht hatte, war allergisch gegen alle, die nicht ein Häppchen von ihr leihen wollten. Trugen die Mächtigen schlechtes Gefühl mit sich herum, suchten sie deshalb Komplizenschaft und haßten die Machtverweigerer, weil die sich nicht zu Mittätern machen ließen? War es eitel, sich das weiße Hemd der Unschuld überzuziehen – seht her, was für ein Engel ich bin, ich mach mir die Hände nicht schmutzig? Teilhabe an der Macht, um Informationsbedürfnis, Neugier zu befriedigen? Die Tragik derer, die in der Mitte zerrieben wurden – ein endloses Feld. Vielleicht verschwand er morgen oder nächste Woche in Einzelhaft, vielleicht steckten sie ihn mit einem Lump zusammen, legten ihn in eine Außenzelle, in der es doppelt so kalt war wie in Innenzellen. Kein Kino für drei Monate. Möglichkeiten gab es die Menge, und er kannte fast alle. Schreiberlaubnis bekam er ohnehin nicht. Oder auch: Es blieb alles beim alten.
Jupp begann tief zu atmen und leise zu schnarchen. 23/59 blickte gegen die Decke mit dem Gitterschatten, der Knastmond würde niemals untergehen. Er versuchte, sich an Wendungen zu erinnern, als er mit der Macht kollidiert war. Dabei überkam ihn Müdigkeit, er drehte sich auf die Seite und zog die Decke über den Kopf, daß nur ein Spalt zum Atmen blieb. So würde er die Kälte überstehen. Der Schlaf kam schnell und spülte alles Grübeln weg. 23/59 wehrte sich nicht gegen ihn. Denn natürlich ist Schlaf das Beste, was es im Knast überhaupt gibt.