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III. Kleiner Krieg

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L. hatte zwischen 1947 und 1949 an Feierabenden und Sonntagen gelbgraues Papier, Rückseiten von Briefen und nicht genutzte Schulhefte mit Buchstaben bedeckt, hatte zaudernd vor sich, der Schwester, dem Vater und Freunden tapfer laut werden lassen, einen Roman schreiben zu wollen, hatte Erlebtes mit Gehörtem gemischt und so gut wie nichts erfunden, vielmehr seine Figuren Wege gehen lassen, die von ihm bekannten Menschen gegangen worden waren, und bei einem Drittel hatte er noch nicht einmal die Namen geändert. Rekruten, Unteroffiziere und Leutnants agierten in diesem Buch unter Namen aus der Wirklichkeit, bestenfalls änderte er Schlosser in Klempner, und es ist schwer begreiflich, daß diese Methode, einen Schlüsselroman zu schreiben und den Schlüssel steckenzulassen, kein Dutzend Beleidigungsklagen eingebracht hat.

Der Name der Hauptperson ist erfunden: Walther Uhlig. Ein Oberschüler ist das mit Eigenschaften, die L. gern nachträglich an sich gesehen hätte: Schlau, zäh, seinen Ausbildern geistig überlegen, ein trefflicher Schütze, gerissen in den Winkelzügen des feldgrauen Alltags, eifrig im Gefechtsdienst, sonst undiszipliniert, mehr Raufbold als Paradestück. Uhlig ist ein schnellerer Hundertmeterläufer, als sein Autor es je war, Uhligs Hauptkonflikt aber ist L.s Dilemma in diesem Ausbildungsjahr, und so gesehen, kann Uhlig für seinen Erfinder stehen.

Er rückte im März 1944 in Leipzig-Gohlis ein. Eine Ausbildungsformation von Reserve-Offiziersbewerbern wurde zusammengestellt, fast alle waren Oberschüler, alle HJ- oder Jungvolkführer gewesen. Was in diesem fünften Kriegsjahr von der Rüstungswirtschaft produziert wurde, ging an die Front, das Ersatzheer fuhr Reste und Abfall auf Verschleiß. Uniform- und Ausrüstungsstücke waren erbärmlich, die Kasernen heruntergewirtschaftet von immer neuen Schüben, die notdürftig ausgebildet und in Marsch gesetzt worden waren, seit vier Jahren unablässig nach Osten; wer ein weiteres Mal hier auftauchte, tat es auf dem Umweg übers Lazarett.

Nach einer Woche zog eine scheckige Schar zum Hauptbahnhof, in den Abteilen eines Personenzuges fuhren hundert junge Landser von einer Garnison zur anderen. Tornister oder Rucksäcke besaßen sie nicht, so klemmten sie Kartons unter den Arm, mancher hatte sich ein Kommißbrot mit Bindfaden ans Koppel geschnürt. Wie die Zigeuner rückten sie in Weißenfels ein. Vom nächsten Tag an waren sie Rekruten, die um fünf aus den Betten sprangen und abends um zehn todmüde hineinfielen, die nur eine Bewegungsart kannten, den Laufschritt, die das Gebrüll der Ausbilder und das Schrillen ihrer Pfeifen von früh bis spät hörten und die eine Gewißheit aufrechterhielt: In vier Wochen war die Grundausbildung vorbei. Sie waren ganz unten und wollten hinauf; wenn’s gutging, konnte jeder von ihnen in anderthalb Jahren Leutnant sein. Jetzt solidarisierten sie sich gegen den Hilfsausbilder, den Gruppenführer, den Leutnant. Wieder war diese Spaltung im Spiel, die L. in seinen Pimpfjahren und im Führerlager Schneckengrün durchlitten hatte, doch abermals begriff er sie nicht als Kehrseite einer Medaille, deren blanke Hälfte sein Ziel war.

L. wurde vereidigt auf den Führer. Jede zweite, dritte Nacht wurde von Fliegeralarm zerhackt. Auf anderen Kasernenhöfen sah er Soldaten in neuen Uniformen und ungefärbten Schuhen, sie wurden formiert für die Front. Wenn er gefragt worden wäre, ob er mit ihnen hätte ausrücken wollen, er hätte keine Sekunde gezögert. Die Front, sogar die Ostfront, erschien ihm als die Freiheit.

Und er wurde krank. Scharlach. Ein Sanka brachte ihn nach Zeitz ins Lazarett, dort schlief er tagelang fast ohne Pause, da war das Fieber vorbei. Heller Frühling war inzwischen. L. half in der Lazarettgärtnerei und übte sich in der Kunst des Skatspiels. Bomben fielen auf das nahe Hydrierwerk, Brandschwaden schwärzten den Himmel, verletzte Kriegsgefangene starben in der Baracke nebenan. Manchmal sah er einen Pfleger einen Eimer zum Kesselhaus tragen, darin lag ein halbes Soldatenbein, Erfrierungsopfer aus dem Rußlandwinter.

Als er sich endlich in Zeithain meldete, hatten seine Kameraden so mannigfache Tötungsarten erlernt, daß für ihn ein Aufholen unmöglich war. Noch einmal alles von vorn – seine Stimmung sank auf Null. Das aber wußte zu diesem Zeitpunkt keiner: Die Jungen, die mit ihm eingerückt waren, kamen gerade zurecht, um in Königsberg eingekesselt zu werden. Aus ihnen wurde eine Stoßformation gebildet, die Einbrüche abzuriegeln hatte, von ihnen sah kein Viertel die Heimat wieder. Scharlachbazillen zur rechten Zeit haben seine Lebenserwartung wesentlich verlängert.

Einige Tage saß er herum, bis Nachwuchs einrückte. Er hatte den Frischlingen einige Ausbildung voraus, der Zorn der Ausbilder richtete sich auf Langsamere, Ungeschicktere; ein Stückchen hatte er sich nach oben geschoben. Das eigentliche Waffenhandwerk fand er spannend und männlich. Aber die Disziplin. Da erklärte ein Feldwebel im Ballistikunterricht, das Geschoß würde nach dem Verlassen des Laufs eine Weile geradeausfliegen, bis Erdanziehung und Luftwiderstand die Flugbahn krümmten. Da behauptete L., dies stimme nicht, sofort wirkten diese Faktoren, schon im ersten Millimeterbruchteil. Der Feldwebel erläuterte seine Auffassung noch einmal, L. blieb hartnäckig, der Feldwebel jagte den Aufsässigen um den Block. Die Unteroffiziere waren rußlanderfahren, mehrfach verwundet, die meisten trugen Nahkampfspange und Eisernes Kreuz, sie sahen in L. einen Schnösel von der Oberschule, der sich über sie lustig machte. Diese Männer, meist Facharbeiter, waren zuverlässig und tüchtig auch, nachdem man sie als Soldaten verkleidet hatte, sie waren das Rückgrat der deutschen Wirtschaft gewesen und bildeten jetzt das Rückgrat der Armee, sie witterten versteckten Hohn eines Burschen, der sich womöglich sagte: In einem halben Jahr bin ich Unteroffizier wie ihr, in anderthalb Jahren Leutnant, und wer steht dann vor wem stramm? In »Jungen die übrigblieben« stellte der Autor Uhligs Haltung als inneren Widerstand eines Aufrechten dar, der sich gegen Ungerechtigkeiten aufbäumte und den die Kommißmaschine zu zerbrechen suchte. Da Antifaschismus nicht im Spiele war, da L. mit dem braunen und feldgrauen System so lange konform ging, wie er nicht auf der Schattenseite fror, muß der Chronist ergänzen, daß die Arroganz eines Burschen eingemischt war, der ein paar physikalische Gesetze begriffen und ein paar Fremdwörter gelernt hatte und sich einen Witz auch dann höchst ungern verkniff, wenn die Wirkung auf ihn zurückfiel. Im Roman:

»Und du? Und du selbst?«

Walther verstand, daß der Vater jetzt nichts von Schießleistungen, von seinem Stand beim Oberfeldwebel, von Märschen und Siruprationen hören wollte. »Ich selbst«, sagte er, zog den Rauch tief ein und ließ ihn aus der Nase hervorquellen. »Ich selbst, ja.« Dann plötzlich schnell, als wäre ein Damm gebrochen und eine schon lange gestaute und gepreßte Flut bräche sich Bahn: »Weißt du, Vater, mir fällt es manchmal schwer. Nicht das Marschieren, der Dienst, das Körperliche oder das bißchen Geistige, das verlangt wird. Sondern einfach das Jawohlsagen, das Gehorchen, das Strammstehen vor irgendeinem blöden Unteroffizier. Wenn du wüßtest, was es für mich bedeutet, so einem bloß die Schuhe putzen zu müssen! Ich putze meine eigenen nicht gern, und dann soll ich sie noch für einen solchen Trottel putzen! Und wenn der sagt: ›Hinlegen‹, dann muß ich mich in den Dreck schmeißen, und wenn der sagt, ›hier riecht’s so komisch‹, dann muß ich unter der Gasmaske japsen. Dabei können die Leute kaum ihren Namen schreiben. Das beste Beispiel ist mein Unteroffizier. Dauernd andere Weiber, dumm wie ein Hund! Und der hat das Recht, mich zehnmal vor der ganzen Abteilung schreien zu lassen: ›Ich bin das größte Rindvieh der 5. Kompanie!‹ Du kannst dir vorstellen, wie mich das rasend macht! Es gibt auch Leute, Vater, bei denen es mir nichts ausmacht, ihre Befehle auszuführen. Wir haben einen Oberfeldwebel, bei dem habe ich nie das Gefühl, mich zu erniedrigen. Dem würde ich vielleicht sogar mal freiwillig die Schuhe putzen. Aber die anderen …«

Das ist Uhligs Problem, bei L. war es nicht anders. Ein Unteroffizier, der »amare« konjugieren könnte, ein Feldwebel mit abiturreifem Ballistikwissen, ein Psychologieprofessor als Leutnant, dazu noch eine saubere Kaserne, schmucke Uniform, reichliches Essen – Naziherz, was willst du mehr?

Er eckte an, brachte seinen Leutnant zur Weißglut, sollte an die Front verbannt werden und wurde dann doch nur innerhalb Zeithains strafversetzt. Er war so auf Knallerei versessen, daß er Munition und Sprengmittel klaute; die Kompanie stand Kopf, als der U. v. D. eine niedliche 2-cm-Flakgranate unter seinem Kopfkissen und fünf Kilo Sprengmittel im Spind fand. Das brachte Strafdienst und dennoch heimliche Sympathie ein. Und siehe da, als die ersten sechs von sechsunddreißig Gefreite wurden, war er dabei. Einer seiner Kameraden hieß Rudolf Agsten. Stimmgewaltig schrie er bei Feierstunden vor dem angetretenen Bataillon zeitgemäße Verse, seine Spezialität war »Deutschland, erwache!« Viel später wurde er Generalsekretär der LDPD und Mitglied der DDR-Volkskammer.

Am Schwarzen Brett las L. von der Invasion in der Normandie. Einmal wurde die 24. Grenadierdivision im Mittelabschnitt der Ostfront lobend erwähnt; da gingen die Ausbilder mit zugesperrten Gesichtern umher, denn sie wußten: Nun lebte die Hälfte ihrer Kameraden nicht mehr. Das Attentat des 20. Juli, ein heißer Sommer, ein trockener Herbst, schließlich Weihnachten – kein General kam auf die Idee, nun sei genug geübt worden, und wo fast nichts mehr Friedensware wäre, bräuchte es auch keine friedensmäßige Ausbildung.

Zeithains Offiziersnachwuchs kannte nur einen Feind, den im Osten. Die Übungsanlage für den Häuserkampf hieß »Russendorf« und war gebaut mit Ziehbrunnen und eingegrabenen T-34-Kuppeln am Rand. Der Winter, auf den sich Zeithains Soldaten vorbereiteten, war der russische Winter, die Beutewaffen, mit denen sie hantierten, stammten aus Beständen der Sowjetarmee. Wer als »Feind« eingeteilt wurde, zog die Jacke verkehrt herum an und schrie: »Urräh!« Bei der Zielansprache hieß es: »Daumensprung links von Hausecke kriechender Iwan.« Ein sowjetischer Film über Scharfschützenausbildung lehrte Zeithains Jungkrieger das Fürchten. Kein Wort fiel, mit dem versucht worden wäre, den künftigen Gegner lächerlich zu machen. Der hatte seine Zähne längst gezeigt.

Die Fronten rückten näher, an Sonntagen belehrte L. nun schon Volkssturmmänner über die Panzerfaust. Im Februar noch hob er mit den Fremdarbeitern eines Dorfes ostwärts von Zeithain ein paar hundert Meter Schützengräben aus, denn die Sowjetarmee war bis zur Oder durchgebrochen. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend treckten Flüchtlinge über die Chaussee; nach Tagen schaute er schon nicht mehr hin. Glaubte er, eine Armee, die von der Wolga bis zur Oder vorgestoßen war, könnte an seinem Graben gestoppt werden?

Am ersten März wurden er und zwei Dutzend seiner Kameraden nach Plauen versetzt. Jetzt war er Gruppenführer von zehn Jungen, von denen einige noch nicht sechzehn waren. Sie stammten vom linken Rheinufer, waren in Pommern beim Arbeitsdienst gewesen und zurückgespült worden. Sie waren schwächlich, immer müde; bei den Waffen der Großdeutschen Wehrmacht wurden Kindergrößen nicht geführt. Diese Jungen bekamen keine Post, bei ihnen zu Hause war schon der Ami.

Es war ein bildschöner März. Jeden Montag wurde Plauen gebombt, Flugzeuggeschwader paradierten über einen blanken Himmel und klinkten schulmäßig aus, dabei wurden sie von keinem Geschütz und keinem Jäger behelligt. Nach dem Angriff zogen Soldaten in die Stadt und versuchten zu retten und zu bergen. In die Kaserne floß weder Strom noch Wasser, die Klos wurden abgeschlossen, und einige hundert Landser entleerten sich in Latrinen jenseits des Zauns. Die Rationen wurden abermals gekürzt, nie mehr wurde jemand satt. Ein Gerüchtgespenst ging um: Plauens Soldaten sollten im Fußmarsch die Ostfront bei Görlitz erreichen, denn Transportmittel für ein paar hundert Soldaten gab es nicht mehr.

Da tauchte eines Tages ein Heldenwerber auf, ein Hauptmann mit dem Deutschen Kreuz in Gold und der Goldenen Nahkampfspange, und hielt eine Rede, die in der These gipfelte, noch seien die wundervoll kriegsentscheidenden Waffen nicht ganz fertig, eine winzige Spanne müsse der Feind noch hingehalten werden, diese Galgenfrist müßten die Jungen erkämpfen, die Unerbittlichen, Besten, Härtesten. Werwolf! Hagen von Tronje, Schlageter, Horst Wessel! Eine Woche, einen Monat noch, wir werden weitermarschieren, werden siegen, weil wir den Führer haben.

Da meldete L. sich, unter anderem weil er den Fußmarsch, Hungermarsch nach Görlitz fürchtete und weil er wußte, daß es keine Lebenschance für ihn gab, wenn gerade an seinem Abschnitt der russische Sturm losbrach. Noch einmal würde er ausgebildet werden und schließlich im Rücken des Feindes kämpfen, verschworen mit wenigen, die schlau und zäh waren wie er, auf deren Findigkeit es ankam, die die Initiative auf ihrer Seite hatten, hervorragend trainiert, bewaffnet und ernährt waren. Von Einmanntorpedofahrern hatte er gehört und von Kamikazefliegern, Old Shatterhand und Tarzan lockten, jetzt war die Stunde da, in der er sich bewähren konnte wie die Helden eines Lettow-Vorbeck, wie Graf Luckner, Max Schmeling, wie jener Pionier Klinke, der die Schanzen von Düppel gesprengt hatte. Der Heldenwerber fragte: Wer stammte aus dem Elsaß, aus Oberschlesien, der Zips, dem Banat? Wer sprach polnisch, flämisch, eine baltische Sprache? Die meisten waren Sachsen und Egerländer, da suchte er die heraus, die ihm am sportlichsten erschienen.

Für die Ausgewählten war der Dienstalltag vorbei. Sie wurden neu gekleidet, einen Tag lang liefen sie eitel in hellbraunen Schuhen umher, dann schmierten sie sie schwarz. Montags grollten wieder die Bomber. Der Wehrmachtsbericht meldete schwerste Kämpfe um Danzig, in Pommern, Kurland und an der mährischschlesischen Grenze. Berlin brannte. Eine Zuteilungsperiode wurde von vier auf fünf Wochen gedehnt. Auf das Feld vor der Kaserne sank ein Flugblatt, in ihm stand, die Hungerrationen von 1918 wären höher gewesen als die vom März 1945. In einigen Tagen also war er Werwolf. In Gedanken öffnete er seinen Spind, der konnte die Konserven kaum fassen.

2

Für sein Leben gern war er Moralist. Bei abendlichen Wegen mit einem Freund hatte er es als Höhepunkt an Offenheit und Klarheit empfunden, wenn er aussprach, was er von diesem Freund hielt, und hörte, was er selbst galt. Seine größte Angst war, er könne für feig gehalten werden. Immerzu wünschte er, jemandem das Leben zu retten; sein Alptraum: Ein Kind war von Flammen eingeschlossen, er wußte, daß er selbst kaum eine Chance besaß, aber er mußte es herausholen, um sich nicht ins Gesicht spucken zu müssen. Dabei kam er um. Das Begräbnis hatte er sich bildstark ausgemalt. Der Grabstein: Granit. Nichts auf ihm als sein Name.

Sie waren sechzehn zukünftige Werwölfe und hockten an den Wänden eines Waggons, der nach Süden rollte. Das Gegengleis war mit Zügen voller Kriegsmaterial und Flüchtlingen verstopft; sie standen ohne Lokomotiven. Es war ein heller Frühlingstag mit einem unendlichen Himmel und klarer ruhiger Luft. Meist blickten die sechzehn nach Osten, denn dorthin mußten und wollten sie, von dort drängte die Front auf sie zu. Am Horizont vermuteten sie Wolken, merkten, daß es ein Gebirge war, und einer mutmaßte, das wären die Kleinen Karpaten. Da sprach keiner mehr.

Malacky, der Zug hielt, auf einmal war Stille um sie, sie lauschten nach Osten und in den Himmel hinauf; die Stille blieb, die Gefahr schien weit. Der Gefreite, der die Marschpapiere trug, war selbst nicht überzeugt, daß er durch sie Befehlsgewalt besaß. Jemand fand eine Verpflegungsstelle, wo man am Packen war und Knäckebrot und Leberwurstbüchsen wegschenkte. Ihr Marschbefehl wies sie an, bis Zohor hinunterzufahren und im Winkel nach Jablonove hinauf, aber die slowakischen und deutschen Eisenbahner schüttelten die Köpfe: Dorthin fuhren keine Züge mehr. L. sagte: Wir marschieren los, weit kann’s nicht sein. Da unkte jemand, dort, wohin sie sollten, wäre bestimmt schon der Iwan, dann klügelte einer, unter solchen Umständen könne man an Ausbildung nicht denken, aber sie sollten ja auf dem Truppenübungsplatz Türkenberg ausgebildet werden, und der zuerst einwarf, sie kehrten am besten nach Plauen zurück, hieß Knauthahn.

Debatte: Wir haben den Befehl, aber es hat doch keinen Zweck, warum habt ihr euch freiwillig gemeldet, verdammt unklare Lage, da könnt ihr mal zeigen, was in euch steckt, es geht doch nicht nach dir, nach dir schon lange nicht! L. fühlte Wut in sich aufsteigen, und den Ausschlag gab der Gedanke, Feigheit könnte Knauthahn und einige andere zu ihren Ansichten treiben. Große Schnauze in Plauen, aufgesprungen und die Hacken geknallt und die Brust gereckt, jawohl, ich will im Rücken des Feindes kämpfen, jawohl, will sprengen, schießen, würgen! Zwei waren in Prag, zwei in Brünn aus dunklen Gründen verlorengegangen, nun saßen die übrigen auf Baumstämmen am Bahnhof von Malacky, und Knauthahn argumentierte, sie hätten einen Marschbefehl für alle zusammen und müßten folglich zusammenbleiben, dann fügte er noch etwas von Mehrheit und Abstimmung hinzu. Und L., der nicht gelernt hatte, etwas zur rechten Zeit zu beenden, abzubiegen, der dies auch in den nächsten dreißig Jahren zu seinem Schaden nicht lernen wollte und konnte, erklärte, er würde notfalls allein zum Türkenberg gehen, und dann sprach er es doch aus: »Du bist feig.«

Natürlich hatte Knauthahn mit diesem Argument gerechnet. Er errötete, weil er nach dem Brauch seines Alters und seiner Erziehung hätte zuschlagen müssen, aber das war hier unmöglich, und so maulte er, sie hätten ja nicht einmal Waffen, aber L. konterte lässig, die würden sie schon irgendwo finden. Er hätte jetzt gern gewußt, ob er wirklich allein auf diese Berge zu marschieren mußte, er sehnte sich fast danach, wenn er auch wahrscheinlich vor Wut geheult hätte, aber jetzt gab es kein Zurück mehr. Drei Jahre später erfand er bei einer seiner häufigen Darstellungen die Variante, er hätte gerufen: »Ich gehe zum Türkenberg, und wenn aus jeder Pfütze ein Russe züngelt«, aber so blumig drückte er sich nicht aus, er war bleich und schwitzte vor Aufregung und Zorn, doch das legte sich, als einer vorschlug, jeder solle sagen, wohin er wolle, vor oder zurück, Türkenberg oder Plauen. Immerhin schlugen sich vier auf L.s Seite; Fritz Gietzel, von dem hatte er es nicht anders erwartet, Steinbach, zwei andere, auf deren Namen sich der Chronist nicht zu besinnen vermag, und diese beiden verdienten vor allem, daß er ihre Namen wüßte. Einer stammte aus Heidenau bei Dresden, der andere aus dem Thüringer Wald, einer war blond und großnäsig und immer mit der Klappe vorneweg, der andere dunkel und bedächtig, er merkte erst nach einer Weile, wenn man ihn aufzog, nie nahm er etwas übel. Elf fuhren zurück in Richtung Plauen, neun kamen dort an, zwei fielen im Fichtelgebirge im Kampf gegen die Amerikaner. Knauthahn war nach dem Krieg Gewerkschaftssekretär, und auf Leipzigs Straßen trafen sich L. und Knauthahn 1950 und hieben sich auf die Schultern: Mensch, wie bist du durchgekommen, Junge? Und 1973 trafen sie sich noch einmal in Berlin und erkannten sich zu ihrer gewaltigen Verwunderung und erzählten sich, daß ihre Kinder nun schon verheiratet wären, und Knauthahn war durch einen Herzinfarkt aus der Bahn geworfen. Aber in Malacky, am 2. April 1945, da sagten sie Feigling und Idiot zueinander und hatten beide recht, wobei Knauthahn von kluger Feigheit war und L. von heldischer Idiotie, und dann marschierten fünf Tapferkeitssüchtige eine schlechte Straße entlang nach Osten, sahen Frühlingsgras an den Seiten, Kühe und pflügende Bauern, glaubten kriegsverdächtige Laute zu hören: Grollen über den Bergen wie Gewitter, aber dort standen keine Wolken, und so begriffen sie: Zum erstenmal in ihrem Leben hörten sie die Front. Da waren Dutzende Millionen Menschen schon tot, da waren Fronten über Hunderte Millionen hinweggerollt, da lebten immer noch fünf Kerle in Europa, die die Front nie gehört hatten und meinten, sie müßten dorthin.

Hatten diese fünf nichts gelernt in Geschichte und Geographie, besaßen sie nicht einen Funken gesunden Menschenverstand? Dachten sie, eine Armee, die von der Wolga bis hierher vorgedrungen war, könnte an der March aufgehalten werden? Meinten sie, Armeen, die in der Normandie aus dem Meer gestiegen waren, wären zu stoppen an Werra und Fulda? Diese fünf klammerten sich an dumpfe Hoffnungen, weil sie sich nicht vorstellen konnten, was sein würde, wenn Hitlerdeutschland den Krieg verlor. Sie fürchteten noch nicht einmal Gefangenschaft, Elend, Hunger, Austreibung, für sie war die sieglose Zukunft absolute Schwärze, sie würden nicht sein, nichts würde sein. Deshalb mußte ein Wunder durch Wunderwaffen geschehen; sie siegten, weil sie den Führer hatten. Manchmal hatte L. schaudernd gedacht: Dann alles noch mal von vorn, noch mal Frankreichfeldzug und Marsch zum Ural. Bis die neuen Waffen heulten, mußte der Feind hingehalten werden, in den Kleinen Karpaten und überall, und als Schwein galt ihm, wer sich jetzt drückte.

Die Berge stiegen sanft an mit Buchen und Eichen, die Straße führte in einem Bachtal aufwärts, in eine Senke waren Kasernenblöcke eingeschachtelt, vor ihnen stand ein Hauptmann und sagte: »Da könnt ihr uns ja gleich helfen, den Türkenberg zu verteidigen.« Nichts von Lehrgang; Wirrwarr überall, in wüsten Kammern rüsteten sich die fünf aus mit Tarnjacken und ungarischen Gewehren, denen sie gründlich mißtrauten. Sie fanden Berge von Konserven mit jungen Erbsen und fast nichts Eßbares sonst, und jemand teilte sie ein, während der Nacht den Durchgang in einer Minensperre zu bewachen und die hindurchzuschleusen, die noch von Osten kämen. Sie standen zwischen Landsern, die die Fußlappen abwickelten, unter ihnen brannte rohes Fleisch, sie hörten von Rückzug über zwanzig, dreißig Kilometer jeden Tag, und einem wurden die Schultern geklopft, weil er einen Panzer abgeschossen hatte; er war grau im Gesicht und zu Tode erschöpft.

Kalt war die Nacht an der Minensperre und stockdunkel, niemand kam. Am nächsten Morgen erfuhren sie, die Nahkampfschule würde nach Schönsee in der Oberpfalz verlegt, aber vorher müsse hinhaltender Widerstand geleistet werden bis zu einer Auffangstellung an der March. Jeder bekam einen Marschbefehl nach Schönsee und ein Fahrrad. L. schnallte eine Panzerfaust ans Rad und einen Beutel mit Erbsenbüchsen auf den Gepäckträger, so kurvte er nach Jablonove hinunter.

An diesem Tag fiel kein Schuß. Am Abend faßte ein Feldwebel ein Dutzend Soldaten zusammen, die auf einen Hügel vorgeschoben werden sollten; der Feldwebel fragte, wer das Maschinengewehr nehmen wollte. Nun war L. während der Ausbildungszeit ein versierter MG-Schütze gewesen, ein Fuchs in der Bedienung dieser Waffe, hatte sie monatelang durch Zeithains Sand geschleppt und die Pappkameraden das Fürchten gelehrt. Was natürlicher, daß er sich meldete – aber da packte ihn böse Ahnung, ziehendes Gefühl in der Brust, wie er es noch nie gespürt hatte, melde dich nicht, nicht melden, jetzt bloß nicht melden. Druck im Schädel und im Kehlkopf, der Feldwebel fragte noch einmal. L. dachte: Gietzel und Steinbach und die beiden anderen warten jetzt, daß du dich meldest, wer denn sonst als das MG-As, Sekunden verstrichen, da sagte der Blonde aus Heidenau: »Da nehme ich’s eben«, und der Dunkle aus dem Thüringer Wald meldete sich als Schütze zwei.

Im Morgengrauen wurden Steinbach und L. von einem Leutnant auf einen Hügel geschickt, dort wäre ein Panzerdeckungsloch. Die beiden streckten die Gewehre vor, ließen die Blicke schweifen, setzten Fuß vor Fuß, tappten in die Leere, fürchteten Schüsse jeden Augenblick, erreichten die Kuppe und ließen sich in das Loch fallen. Ein vortreffliches Loch in vortrefflichem festem Boden, die ausgeworfene Erde war sorgsam verteilt, hier hatten Überlebenskünstler gearbeitet. Kein Mensch, kein Laut, kein Krieg. Wieder dieser hohe, helle Himmel wie zwei Tage vorher, und L. überlegte, ob er wohl am vergangenen Abend feig gewesen war, nicht mehr der Held von Malacky, nicht mehr wie Luther, der nach Worms hatte gehen wollen, müssen, auch wenn die Stadt voller Teufel gewesen wäre. Das hatten sie gelernt: Zuerst den feindlichen MG-Schützen niederkämpfen, den gefährlichsten Mann der Gruppe. Das hatten sie nicht gelernt: Der Gegner rottete zuerst den eigenen MG-Schützen aus. Aber es war logisch.

Einen halben Tag lang sahen sie zu, wie auf den jenseitigen Hügeln der Feind aufmarschierte. Auf der eigenen Seite waren die schwersten Waffen das leichte Maschinengewehr und die Panzerfaust, drüben waren es Granatwerfer und Panzerabwehrkanone. Keine Artillerie gab es in diesem Gefecht, keine Panzer, keine Flugzeuge, die stürmten gegen Bratislava und in der Mährischen Senke, wurden hinter der Oder zum Endkampf um Berlin gehortet, hier war Nebenkriegsschauplatz, Scharmützel, hier marschierte eine Partei auf wie im Siebenjährigen Krieg, protzte die Granatwerfer ab und zog von Hand die Geschütze in Stellung, das geschah mit vielem Hin und Her vor den Augen von Steinbach und L. Schützenreihen stiegen vom jenseitigen Hang herab. Das Kräfteverhältnis war fünfhundert zu zwei, trotzdem schossen Steinbach und L., bis die Angreifer im Grund verschwanden, sie sahen sie näher am Fuß ihres Hanges, schossen, trafen nicht, stritten, wer zuerst zurückspringen sollte, spring du, ich schieße, schließlich zickzackten sie gleichzeitig über den Hügelkamm, hörten Projektile pfeifen, hasteten auf das Dorf zu und sahen den Leutnant, der sie hinaufgeschickt hatte, verzweifelt winken und hörten ihn schreien, wo sie denn blieben. Über dem Dorf wolkten Rauchbäume der Granatwerfereinschläge, die Dorfstraße entlang flohen Landser – MG-Feuer, Gewehrfeuer, ein Oberfeldwebel schoß Panzerfäuste im Bogen ab über Gehöftdächer hinweg. Steinbach und L. hätten sich fünfzig Meter gegen den Strom stemmen müssen, um zu ihren Rädern zu kommen, aber das wagten sie nicht, wurden aus dem Dorf geschwemmt, sahen die Wiesen gesprenkelt mit Fliehenden, waren nicht mehr Werwölfe, die in den Rücken des Feindes drängten, sondern stoben zurück und besannen sich erleichtert auf den Marschbefehl nach Schönsee in der Oberpfalz, keuchten einander zu, daß alles gutgehen würde, wenn nur keine Panzer kämen. Vier Männer schleppten ihren verwundeten Kameraden auf einer Zeltplane, der schrie, sie sollten ihn erschießen; an ihnen rannten sie vorbei. L. sah Gietzel auf einem Fahrrad, rief ihn an, und das erste, was Gietzel hervorstieß, war, daß die MG-Schützen noch vor dem Angriff durch Scharfschützen getötet worden waren, Kopfschüsse. Da wird L. nicht daran gedacht haben, daß die beiden noch am Leben sein könnten, wenn er am Bahnhof von Malacky kein sturer Held gewesen wäre, dieser Gedanke kam später, wenn auch nicht viel später, und lange schlug er sich mit ihm herum, und auch der Chronist ist nicht fertig damit, wenn er auch nicht mehr oft daran denkt, meist nur am vierten April, oder wenn er mit der Eisenbahn durch Malacky fährt. Das muß man, will man zum Balkan hinunter.

Am Bahndamm stand der Hauptmann, der sie am Türkenberg empfangen hatte. Er reckte die Pistole und schrie, hier sei die neue Widerstandslinie; jeden würde er niederknallen, der nicht stehenbliebe. Rechts und links von ihm klirrte die Flucht über den Schotter; er schoß nicht. Hier waren die Wiesen sumpfig, einen Kilometer vor sich sah L. den Wald. Die meisten fielen in Schritt, Gietzel schob sein Rad, er und Steinbach und L. schöpften Hoffnung daraus, daß sie zu dritt waren; sie glaubten, sie könnten sich aufeinander verlassen nach diesem Tag. Die Welle der Fliehenden versickerte im Wald, der Bahndamm war nur noch ein blasser Strich. Die drei blieben hinter der ersten Gebüschinsel liegen. Vor ihnen auf der Wiese warf ein Offizier sein Fahrrad weg und rannte in Sprüngen weiter. Das Feuer nahm zu, am Bahndamm war schon ein Maschinengewehr in Stellung gebracht worden. Plötzlich, ohne Erklärung, sprang Steinbach auf, rannte in schulmäßigem Zickzack zurück, verschwand im Wald und ward nicht mehr gesehen. Ein böses Wort schrie L. ihm nach: Feiges Schwein! Aber schon überlegte er, wie er selbst nach hinten kommen könnte, ganz weit nach hinten, doch er besaß kein Rad, und draußen auf der Wiese lag eins. Steinbach – den sah L. wieder drei Jahre nach dem Krieg, da spielte Steinbach Fußball bei Dresden-Friedrichstadt, dem Torso des ruhmreichen Dresdner Sportclubs, und mühte sich, nicht abzufallen neben Schön, Pohl, Lehmann und Kreische senior im Sportpark von Leipzig-Leutsch gegen Chemie, und Steinbach war dabei, als Horch Zwickau die Dresdner zusammentrat in diesem letzten Spiel von Dresden-Friedrichstadt, diesem Skandalspiel, das den Anstoß gab, daß Schön viel später Bundestrainer wurde und nicht Trainer der DDR-Nationalmannschaft. Aber daran war natürlich kein Gedanke auf der sumpfigen Wiese von Malacky; auf das Fahrrad rannte L. zu, während Projektile zirpten, auf das Fahrrad, das ihn über die March bringen sollte und durch Österreich und Böhmen nach Bayern, fort von der Front, schon gar nicht in des Feindes Rücken. Er riß das Rad hoch und schwang sich in den Sattel, hörte das Pfeifen um seinen Kopf, trat, sprang ab, schob, rannte, hörte immerfort das Pfeifen, warf sich nicht hin, hätte hundertmal getroffen werden können, wurde nicht getroffen, erreichte die Gebüschinsel, und nun waren sie zu zweit, Gietzel und L., besaßen jeder einen Marschbefehl nach Bayern und jeder ein Fahrrad. Durch stillen Wald fuhren sie, die Toten von Jablonove lagen hinter ihnen, Erregung klang ab, und da fiel ihnen ein: Man mußte ja nicht direkt Schönsee ansteuern, man konnte einen Umweg machen, und einer sagte: »Paar Tage zu Hause, Mensch«, und der andere überlegte schon, wie man radeln mußte, um nach Dux zu kommen oder nach Mittweida. Bei der Rast zogen sie ihre Marschbefehle aus der Tasche, Zettel mit einem Stempel und den Worten, daß der Gefreite Gietzel, der Gefreite Loest auf dem Weg nach Schönsee wären, nichts weiter, vor allem nicht, woher sie kämen. »Mensch«, sagte einer, »wir verschieben unseren Herkunftsort nach Norden, erst Mähren, Schlesien, dann die Lausitz.«

Nach Norden traten sie, erreichten gegen Abend Malacky und klopften an Türen, hinter denen niemand antwortete, gingen in ein leeres Haus, Ställe standen offen, ein Schwein grunzte im Hof, Hühner pickten. Sie hätten gern ein Huhn geschlachtet, wußten aber nicht, wie man das machte. So kochten sie Kartoffeln, wuschen sich, aßen. Sie kamen nicht von dem schlechten Gewissen los, in ein fremdes Haus gedrungen zu sein; es wäre ihnen peinlich gewesen, wären die Bewohner zurückgekommen.

Ihre Räder und Gewehre stellten sie neben die Betten, schoben einen Schrank vor die Tür und schliefen auf nackten Matratzen. L. wäre vor Mittag nicht munter geworden, Gietzel rüttelte ihn mitten in der Nacht. Sie horchten hinaus, Panzer dröhnten vorbei, Schritte klapperten, nicht allzu fern tackte ein Maschinengewehr. Da schoben sie hastig ihre Räder auf die Straße und reihten sich ein in die Flucht. Brand warf roten Schein zwischen die Häuser. Pferdewagen, Soldaten, Sturmgeschütze – ohne ein Wort und ohne Befehl hastete aus Malacky hinaus, was laufen, fahren konnte. Zwischen ihnen schoben sie ihre Räder, lauschten auf das Maschinengewehrfeuer in ihrem Rücken, in ihrer Flanke. Im Freien merkten sie, daß die Nacht nicht völlig dunkel war, stiegen auf und fanden aus dem Pulk hinaus, fuhren über eine leere Straße, durch ein Dorf. Am Straßenrand ballte sich eine Truppe, schwarze Schatten dicht beieinander, schweigend, ein Zug, noch ein Zug, eine Kompanie. Als Gietzel und L. vorbei waren, flüsterten sie von Rad zu Rad, ob das wohl Rotarmisten gewesen wären, für möglich hielten sie es. Später bauschte L. diese Szene auf: Er hätte leise russische Worte gehört, Flüche, man habe sie offenbar selbst für Russen gehalten. Aber damals zweifelte er, argwöhnte nur, und dann geschah nichts mehr bis zur Marchbrücke vor Dürnkrut, dort wachte ein freundlicher Posten unter einer Zeltplane, der ihnen bereitwillig den Weg wies. Nach Wien hinunter? Nach Böhmen hinüber? Gute Fahrt wünschte er mit heller Stimme, freute sich, daß er wieder zweien den Weg in die Heimat zeigen konnte.

Unvergleichliche Fahrt. Seit einem Jahr war ihr Tag zerhackt gewesen durch eine Kette von Befehlen, jetzt konnten sie rasten, treten, absteigen, schieben, wie sie wollten. Wegweiser: Iglau, Prag. Eine Burg prunkte auf einem Bergkegel, sie hätten sie besichtigt, wenn es nicht zu strapaziös gewesen wäre, die Räder hinaufzuschieben, und zu leichtsinnig, sie unten stehenzulassen. Sie klopften an Bauernhäuser, baten um Brot und bekamen Wurst, Kuchen, Milch, auch von Tschechen. Auf der Ladefläche eines Lastwagens sparten sie die Mühe, die Steigungen vor Iglau hinaufzuschieben, dort schliefen sie in einem Wehrmachtsheim, und als sie am Morgen auf die Straße traten, regnete es in Strömen. Da zeigten sie in der Bahnhofskommandantur ihre Marschbefehle und erzählten ihre Geschichte: Aus der Gegend von Olmütz kämen sie und müßten schnell zumindest nach Prag. Ihre Fahrräder, Tarnjacken, vielleicht die Forsche ihrer Jugend überrumpelten die Unteroffiziere, Feldwebel. Vielleicht glaubten diese Männer mit den Sturmabzeichen und Eisernen Kreuzen, diese abgebrühten Hasen, die alles kannten und alles wußten, vielleicht glaubten sie diese Story, denn es sind die Neunzehnjährigen überall, die sich als Fallschirmjäger, Ledernacken, Kamikazeflieger, Einmanntorpedofahrer melden; Winkelried und der Gardeschütze Matrosow waren neunzehn, falls deren Geschichten nicht ausgedacht sind von cleveren Frontberichterstattern. Und weil man mit Neunzehnjährigen fast alles machen kann und die Feldwebel und Unteroffiziere das wußten – denn auch sie waren neunzehn gewesen und hatten gegen Engeland fahren wollen und Frankreich niedergeworfen, bis sie in Rußland steinalt geworden waren, und wer von ihnen vierundzwanzig war, gehörte zu einer anderen Generation und wußte, daß in zwei Wochen der Krieg zu Ende war, der argwöhnte, daß es dann haarig zugehen könnte inmitten der Tschechen, der verspürte nicht den Ehrgeiz, jemanden aufs Kreuz zu legen – so ließen sie die beiden Kampfgierigen in den Zug steigen, der überfüllt war wie alle Züge in der eng gewordenen Festung Europa und dessen Passagiere unablässig davon sprachen, was sie mit Tieffliegern erlebt oder über sie gehört hatten.

Prag war voller Leben und Trubel und voller deutscher Soldaten. Wer hatte in einem Wehrmachtsheim dünnes Bier vor sich und einen Teller mit Brot und saurer Gurke und sogar Wurst? Es waren die beiden Gefreiten, die in Prag abhanden gekommen waren, zwei der Freiwilligen von Plauen, der todesmutigen Rangerkandidaten, die beizeiten den Zug verpaßt hatten, nun friedlich frühstückten, sich interessiert anhörten, was in Malacky und Jablonove geschehen war, und die Frechheit besaßen zu sagen: »Schade, daß wir nicht dabei waren!« Ihre Story war nicht ganz klar: Sie bekämen Lebensmittelmarken und Sold von einer Wehrmachtsstelle in Prag, noch sollte entschieden werden, wohin sie geschickt würden, und es wäre für sie hochinteressant, authentisch zu erfahren, daß der Türkenberg im Eimer war, also müßten sie zurück nach Plauen, und die Zeit bis dahin verbrachten sie in Wehrmachtskinos, Wehrmachtsheimen und Gaststätten. »Bleibt mit hier«, rieten sie, »Prag ist prima.« Aber Gietzel dachte: Ein knapper Tag bis Dux. Und L. dachte: Ein überlanger Tag bis Mittweida. Immerhin waren sie so klug, ihre Marschbefehle nach Schönsee vorzuzeigen und zu behaupten, sie führen stracks dorthin. Der Abschied war frostig.

Am Abend hockten sie in einem klapprigen Zug, der bis Kralup fuhr. Auf Zugbänken schliefen sie und stiegen auf die Räder, sobald es hell wurde. Es begann der Tag der größten sportlichen Leistung, die L. je vollbrachte. Eine wunderbar warme Sonne stieg auf über der Landstraße nach Komotau, über Äckern und Saaten und den Wäldern der Hopfenstangen. Am hohen Vormittag bog Gietzel ab, Dux entgegen, sie schüttelten sich die Hände und versprachen, sich in einer Woche zwölf Uhr mittags im Hauptbahnhof in Eger wiederzutreffen. Sie wünschten sich gute Tage.

Mittags stieg er in Komotau vom Rad und schob es auf den Kamm des Erzgebirges hinauf. Einmal marschierten ihm Männer in Parteiuniform entgegen, Spaten und Hacken geschultert, sie hatten Panzersperren gebaut. Da fühlte er sich beklommen: Man rechnete also damit, der Feind könnte bis ins Erzgebirge vordringen? War es dann nicht gleichgültig, ob er von Ost oder West kam? Kein schlechtes Gewissen packte ihn, daß er sich Urlaub nahm, er hatte ein Argument: Jedem Soldaten, der an die Front geschickt wurde, stand Abstellungsurlaub von vierzehn Tagen zu. Niemand konnte ihm jetzt diesen Urlaub bewilligen, folglich nahm er ihn sich selbst.

Vier Stunden lang schob er sein Rad, es wurde Nachmittag darüber. Keilberg und Fichtelberg sah er zur Linken und blickte zurück in die Weite des Egertals. Wind strich hier oben, bald mußte er die sächsische Grenze erreichen. Zwei Polizisten lungerten an der Straße, fragten, woher er komme, wohin er wolle, grämliche ältere Männer, offenbar gesonnen, ihr Scherflein zum Endsieg beizutragen, indem sie einen Deserteur schnappten. Eine neue Geschichte erfand er: Im Egertal wäre der Verkehr zusammengebrochen, denn bei Falkenau hätten die Amerikaner am Mittag eine Brücke zerbombt. Er schlage deshalb einen Bogen über das Gebirge, um von Chemnitz aus mit dem Zug weiterzufahren. Da forderten die Polizisten ihn in ihr Dienstlokal, und als sie sich in der Polizeiwache von Sebastiansberg gegenübersaßen, probierte einer von ihnen einen läppischen Trick: »Sie sind am dritten März fünfundzwanzig geboren?« – L. fühlte sich obenauf: »Am vierundzwanzigsten Februar sechsundzwanzig.« Er beantwortete Fragen nach seiner bisherigen Einheit, dem Tag seiner Einberufung. Aber da hakten sich die Polizisten fest: Er stamme aus Mittweida, seine Eltern lebten dort? Und dorthin wolle er? Sein Wunsch sei logisch, verständlich. Aber er ging ihnen nicht auf den Leim, sondern beharrte auf seiner Geschichte: Nach Chemnitz wolle er, es führe kein anderer Weg nach Bayern. Aus dem Isergebirge komme er, er sei Werwolf und wolle in seinen neuen Einsatzraum. Eine halbe Stunde lang hin und her, Mittweida oder nicht, dann gaben die Polizisten klein bei: »Wir können Ihnen nichts beweisen.« Er bekam sein Soldbuch zurück und stieg aufs Rad, kreuzte die sächsische Grenze, kaute Speck und trank Wasser aus einem Bach. Er jagte nach Marienberg hinunter, beneidete Gietzel: Der saß längst zu Hause; fürchtete, die Polizisten von Sebastiansberg könnten ihre Kollegen in Mittweida benachrichtigen: Paßt auf, ob ein gewisser Loest kommt! Er trat in die Pedale, das Kinn auf den Lenker herunter, Heimfahrt, Friedensfahrt. Leer lagen die Straßen an diesem Abend, kein Auto traf er und keine Streife. Auf der Höhe von Dreiwerden hielt er an. Ohne Verdunklung in dieser Kriegsnacht hätte er jetzt die Lichter seiner Heimatstadt gesehen.

In dieser Nacht flogen britische Bomber über Mitteldeutschland und weckten Sirenen auch die Bewohner Mittweidas. Manche gingen in die Keller, manche traten vor die Häuser, horchten, schauten, andere blieben in den Betten. Alfred Loest stellte sich vors Haus, begrüßte Schatten, die aus den Nebenhäusern traten. Schein am nordwestlichen Horizont: Espenhain, Böhlen, Leuna, dort fielen Bomben wie in vielen Nächten. Da schob jemand ein Fahrrad neben ihn und sagte: »Guten Abend, Herr Loest.« Keine Verwunderung, kein Erkennen, Alfred L. erwiderte den Gruß, hörte das Entwarnungszeichen und wandte sich seinem Haus zu. Er konnte die Tür nicht schließen, das Vorderrad eines Fahrrades klemmte dazwischen.

Zwei Stunden lang saßen sie am Tisch, Vater, Mutter, Schwester und der heimgekehrte Sohn. Umarmungen, Muttertränen. Hastiger Bericht, hastiges Essen, dann versteckte der Vater Fahrrad, Karabiner und Handgranaten. Erst mal ausschlafen, morgen in Ruhe beraten – ihn hatte niemand gesehen? An die Polizisten von Sebastiansberg dachte der Gefreite L., wog die Gefahr und achtete sie gering gegenüber dem Glück, zu Hause zu sein. Er beruhigte sich: Die Polizisten hatten seinen Namen und die Adresse seiner Eltern nicht notiert und würden den Diensteifer nicht auf die Spitze treiben. Dies hoffte er so stark, daß es ihn vor tödlicher Gefahr blind machte; in diesen Tagen wurden Soldaten wegen geringerer Vergehen gehenkt.

Am Morgen erwachte er: seine Dachkammer, seine Bücher, das Schlagen der Kirchenuhr, kein U. v. D. pfiff. Danach hatte er sich ein Jahr lang wie nach nichts anderem gesehnt. Später stand er in der Eisenwarenhandlung seines Vaters; die Regale waren in sechs Kriegsjahren kahl geworden. Er bummelte durch die Stadt; sie hatte sich so verändert, daß sie nicht im entferntesten hielt, was sie in der Erinnerung versprochen hatte, als er durch Zeithains Sand gerobbt war. Zu Hause aßen Vater, Mutter und Schwester dünner gewordene Suppe von gewohnten Tellern. In die Schule waren Flüchtlinge gepfercht worden, das Jungvolk hatte seinen Dienst infolge Fehlens von Führern, Räumen und Schuhen eingestellt. Einmal ging er ins Kino, da heulten nach zehn Minuten die Sirenen. Der Wehrmachtsbericht: Amerikaner und Briten stießen in Thüringen und Norddeutschland vor. Hannover fiel. Einmal traf er ein Mädchen, mit dem er die Tanzstunde besucht hatte; das Mädchen fragte ihn, ob der Krieg noch gewonnen würde, und er antwortete verzweifelt, er müsse ganz einfach gewonnen werden. Sie waren zusammen Schlittschuh gelaufen und hatten sich auf vielen Wegen geküßt. Keine Erinnerung daran. Ihre Hände hingen herab. Das Mädchen fragte ihn, ob er bliebe, aber er sagte, er müsse wieder fort. Es wäre ihm gleichgültig gewesen, hätte es in dieser Minute sein müssen.

Am fünften Morgen wurde er von seinem Vater geweckt: Die Amerikaner standen vor Leipzig. Hastiger Familienrat: bleiben, untertauchen? Aber er war in der Stadt gesehen worden. Gefahr durch Amerikaner, durch Feldgendarmerie, welche war größer? Rat des Vaters: Am sichersten bist du in deiner Einheit. Von der Art dieser Einheit hatte E. L. wohlweislich nichts erzählt. Wieder setzte er sich aufs Rad und fuhr übers Gebirge, diesmal in die andere Richtung. In der Nähe von Chemnitz sah er zu, wie Tiefflieger die Straße leer fegten. Er lag im Graben und dachte: Hannover gefallen, die Amerikaner vor Leipzig, noch werden die neuen Waffen nicht eingesetzt – sind sie immer noch nicht fertig? Jetzt noch einmal die Entscheidung von Malacky wäre er wieder zum Türkenberg gegangen? Er schlief in einer Scheune, stieß am Morgen in den böhmischen Kessel hinab und traf Gietzel in der elterlichen Küche inmitten spielender kleiner Geschwister an. Auch hier Debatte, ein wichtiges Moment darin: Sie hatten sich beide freiwillig gemeldet zum Werwolf, waren zusammen zum Türkenberg gezogen, jetzt riefen sie sich das gegenseitig ins Bewußtsein. Sie hatten beileibe nicht aus dem Krieg aussteigen wollen, hatten sich nur Urlaub gegönnt, der ihnen zustand. Vor sich selbst konnte jeder allenfalls vergessen, wie er in Plauen gelobt hatte, Einzelkämpfer zu werden, Durchhalter bis fünf Minuten nach zwölf. Hier stand nun einer, der dabeigewesen war, keiner wollte als erster sagen: Müssen wir so schnell nach Schönsee? Denk an die beiden in Prag!

Wieder Abschied. Am Bahnhof warteten Gietzel und L. auf einen Zug nach Westen. Dünnen Kaffee schenkten BdM-Mädchen aus, dann lief der Zug ein, ein Katastrophenzug, vollgepfropft mit Menschen und Koffern und Angst, in ihn hinein zwängten die beiden Durchhalter sich und ihre Räder. Aus allen Fenstern suchten Augen den Himmel ab, langsam rollte der Zug durch Komotau, Klösterle, Karlsbad. Dahinter bremste der Zug ruckend und kreischend, Dampf quoll aus der Lokomotive, über die Trittbretter ergoß sich der Strom der Flüchtenden, die hin- und hergerissen wurden zwischen zwei Ängsten: von Tieffliegern getötet zu werden oder ihren Platz bei der Rückkehr besetzt zu finden. Ein Flugzeug strich über den Zug hinweg, eine der letzten Maschinen von Görings Luftwaffe, eine erbärmliche Krähe, und die Menschen in den Feldern ringsum fluchten auf den Idioten da oben, der ausgerechnet einen Zug in diesen Tagen der Tieffliegerpanik ansteuern mußte. Sie rannten zum Zug zurück, aber der fuhr nicht weiter, denn der Lokomotivführer hatte sich beim Sprung von der Maschine den Fuß verstaucht, vielleicht gebrochen. Nach einem Arzt wurde geschrien, und als L. und Gietzel merkten, daß es hier nicht vorwärts ging, hoben sie ihre Räder herunter und traten weiter nach Westen.

Die nächste Nacht verbrachten sie in einem Schuppen auf einem Bahngelände. Soldaten saßen in der Schuppenmitte um ein sparsam und kunstvoll unterhaltenes Feuer; die Gespräche der Landser waren nüchtern und weise. Vom sowjetischen Granatwerferorkan an der Danziger Bucht war die Rede, von Märschen und Schlachten und Toten und Niederlagen, und L. und Gietzel hätten sich lieber die Zunge abgebissen als verraten, daß sie sich mutwillig als Werwölfe gemeldet hatten. Diese Männer wunderten sich nur über eines noch: daß sie lebten. Die Flucht durch Frankreich zurück hatte einer mitgemacht, ein anderer verfluchte die Balkanberge, durch die er von Griechenland heraufgehastet war, Berge von Athen bis Graz. Und wieder sagte der, der zu Anfang gesprochen hatte: Nichts konnte furchtbarer gewesen sein als das Granatwerferfeuer an der Danziger Bucht. Da beneidete L. diese Männer um ihre Erfahrungen, er hätte Jahre geopfert, wenn er sie hätte nacherleben können. Zehn Jahre später erinnerte er sich noch an die Stimmung dieser Nacht: Er setzte die Romangestalt des Harry Hahn ans Feuer alter Waffen-SS-Männer, als sie in die slowakischen Berge zogen, und das Dorf in der Nähe nannte er Jablonove wie das Dorf, durch das er um sein Leben gerannt war.

Einmal noch wurden sie von einem Zug mitgenommen; der verkroch sich im Morgengrauen in einem Tunnel. Das war schon in Bayern. Dann radelten sie durch friedliche Dörfer und friedliche Städtchen, in denen die Bewohner fiebrig-eifrig Wehrmachtslager räumten. Sie trafen einen Mann, der auf einem Handwagen einen Riesenkarton Streichhölzer heimwärts zerrte, und baten ihn um eine Schachtel, aber der Mann lehnte ab: Er würde wegen einer einzigen Schachtel nicht die Verpackung aufreißen. In der Toilette eines Bahnhofs schlug L. neben einem Ritterkreuzträger der Waffen-SS sein Wasser ab, ihn hätte er um ein Haar gefragt, ob es noch Zweck habe, zu kämpfen.

Sie erreichten Schönsee eines Abends. So blieben schließlich zwei von den zwanzig Freiwilligen von Plauen, die nun doch Werwölfe wurden, sich mit Tarnkombinationen und Maschinenpistolen ausrüsteten und mithalfen, Kartons mit Fleischkonserven, Heidelbeerkonserven, Knäckebrot und Zigaretten auf Pferdewagen zu laden und in den Wald zu karren. Allmählich überblickten sie die Formation: Vierzig Mann wurden befehligt von einem Oberst, ihm unterstanden drei Majore, etliche Hauptleute, Oberleutnants, Leutnants, Feldwebel, Unteroffiziere und schließlich diese beiden Gefreiten. Man sagte ihnen: Auf diesem Berg dort sitzt unser Funktrupp, hält Verbindung mit dem OKH, über diesen Kamm läuft die böhmische Grenze. Die Soldbücher wurden eingesammelt; auf einem Zettel, den L. dafür erhielt, stand nichts als Der Gefreite Loest ist direkt dem OKH unterstellt. Er begriff, daß es nun unmöglich sein würde, sich von der Truppe zu entfernen. Aber das wollte er ja nicht, wollte auf dem Weg weitergehen, den er in Plauen eingeschlagen hatte, denn der Satz war tief in ihn eingedrungen, daß es deutsch sei, eine Sache um ihrer selbst willen zu tun.

Wald über Hügeln und Tälern, im Wald schliefen sie und hoben Gruben aus, in denen sie Waffen und Munition, Lebensmittel und Schuhe, Zigaretten und Wolldecken versenkten. Die Vorräte, so wurde ihnen gesagt, waren auf ein halbes Jahr berechnet, und es würde erschossen, wer sich daran vergriff. Aber das nahmen sie nicht ernst: Eine Zwanzigliter-Milchkanne voller Kümmelschnaps vergruben sie nicht, sondern stellten sie ins Gebüsch, hin und wieder wallfahrteten sie dorthin und füllten ihre Feldflaschen, kümmelten bedächtig, und in heiterster Laune waren sie, als ihnen ein Oberleutnant mitteilte, der Sturmangriff der Sowjetarmee auf Berlin habe begonnen.

Nach Tagen harter Arbeit versammelte der Oberst seine Wölfe um sich und gab das Ziel bekannt: Diversionstätigkeit im Rücken des Feindes. »Wir werden kämpfen, bis die Amerikaner merken, daß wir nicht unterzukriegen sind, und sich mit uns gegen die Sowjets verbünden.« Er verlangte Lautlosigkeit; nichts durfte im Wald liegengelassen werden, keine Knäckebrotpackung, nicht einmal ein Streichholz. Er spitzte die Lippen zu einem Pfiff; so, sagte er, pfeife die Kohlmeise, das sei künftig ihr Erkennungszeichen. »Beweisen Sie, daß Sie Karl May nicht umsonst gelesen haben.«

Eines Nachmittags kamen die Amerikaner. Sie fingen drei Werwölfe, die auf einer Lichtung in der Sonne gesessen hatten. L. lag im Unterholz, sah Gamaschenschuhe ein paar Meter vor sich auf dem Weg, hielt die Maschinenpistole im Anschlag. Sein Herz klopfte, aber er tat nichts, das ohne Sinn gewesen wäre, und als die Amerikaner weitergezogen waren, als es wieder still geworden war im Wald, war er mit sich zufrieden: Sie waren von der Front überrollt, er war Werwolf, es gab kein Zurück.

Morgens in der Dämmerung krochen sie aus ihren Löchern, die über eine Schonung verteilt waren, und sammelten sich am Loch eines Majors zur Befehlsausgabe. Sie pfiffen wie die Kohlmeisen und wagten nie ein lautes Wort, erhielten Verpflegung und Befehle und schlüpften in ihre Löcher zurück. L. und Gietzel hatten diese Aufgabe: nachts zwischen elf und eins an einer alten Mühle auf die Kuriere einer anderen Werwolfeinheit zu warten. An dieser Mühle rauschte ein Bach über ein Wehr, das verlassene Gebäude bildete eine Kulisse wie in einem Gruselfilm. Neun Uhr abends klemmten sie die Maschinenpistolen unter den Arm, schlichen durch den Wald, voller Angst erst, später mit wachsendem Mut, den sie gegenseitig anheizten: Die Amerikaner waren zu feig, sich nachts in den Wald zu trauen. Aber wenn sich die beiden Wölfe der Mühle näherten, sank ihr Mut, der Mond schien gegen kalkweißes Gemäuer; polterte es nicht irgendwo? Sie hockten sich dicht nebeneinander, legten die Maschinenpistolen über die Knie, lauschten. Bleierne Müdigkeit überfiel sie, wurde größer als die Furcht, sie nickten ein, schraken hoch, froren. Zehn Jahre später schrieb L. die Erzählung »Hitlers Befehl«. Als er einen gespenstischen Schauplatz für eine grausige Begebenheit brauchte, verlegte er diese Mühle aus dem Böhmerwald in die Ardennen, ließ an ihr Frantisek Homola und seine Rangerkameraden in die Falle der Faschisten tappen. Voller Martern waren diese Nächte; im Morgengrauen schlichen die beiden Wölfe zurück und meldeten ihrem Major, niemand wäre gekommen. Nie kam jemand.

Bis zu jenem Nachmittag: Da krochen drei Männer in ihr Dickicht, blaß und abgehetzt, Angst stand in ihren Augen. Ihre Werwolfgruppe war von Amerikanern mit Hunden aufgespürt worden, eine Übermacht hatte sie aus ihren Löchern getrieben. Sie waren durchgebrochen, entkommen. Drei von dreißig.

Manchmal teilte der Major bei der morgendlichen Befehlsausgabe ein Splitterchen von dem mit, was in der Welt vor sich ging. Hamburg und München fielen, aber noch tobte die Schlacht um Berlin, dort kämpfte der Führer. Von neuen Waffen war nicht mehr die Rede, nur davon, daß Amerikaner und Briten in den Krieg gegen die Russen einschwenken könnten. Das Beispiel des Preußenkönigs wurde bemüht, der scheinbar am Ende gewesen war, aber dann starb seine schlimmste Feindin, und das Blatt wendete sich. War nicht Roosevelt kürzlich gestorben?

Eines Tages mühten sich Gietzel und L., ihr Loch auszubauen. Einer brach Erde los und schippte sie in einen Rucksack, der andere verteilte sie im Unterholz. Als L. gegen Mittag aus dem Loch kroch, flüsterte Gietzel, es würde geschossen, in einer bestimmten Richtung, dort lag der Oberst. Sie steckten das Notwendigste in die Brotbeutel: Schokakola, Ölsardinen, Knäckebrot, MP-Magazine. Die Schießerei kam auf sie zu, Handgranaten barsten, dann war Stille, in sie hinein brüllte eine Stimme: »Werwölfe! Ergebt euch! Wer in zehn Minuten nicht herauskommt, wird erschossen!«

Da war L. kein Moralist mehr, da glaubte er nicht, er müsse kämpfend untergehen, wie das Gesetz es befahl. Angst packte nach ihm, Lebensangst, Todesangst, da rissen er und Gietzel ihre Tarnkombinationen herunter, damit sie schneller laufen könnten, krochen von dieser Stimme weg, die rief: »Alle herauskommen! Schreiner herauskommen! Loest herauskommen!« Sie krochen, fürchteten: Unten am Weg mußten Amerikaner lauern, mußten sie eingeschlossen haben. An diesen Weg schlichen sie heran, hielten die Maschinenpistolen vor, waren gefaßt, jeden Augenblick beschossen zu werden. Den Weg sahen sie, zwängten sich durch die letzten Fichten, sprangen gleichzeitig hinüber, bekamen kein Feuer, fielen ins Unterholz, hörten Schüsse weit hinten und noch immer diese Stimme, die Namen aufrief wie beim Jüngsten Gericht. Ohne Rücksicht auf Ästeprasseln rannten sie, stießen auf einen anderen Weg, hörten Rufe, Schritte, hoben die Waffen und sahen: Da trieb ein Bauer eine Kuh. Hundert Meter hinter ihnen war noch Krieg, hier wurde eine Kuh zum Verkauf getrieben oder zum Tausch oder zum Bullen. Sie flohen weiter, die Maschinenpistolen in angstschweißigen Händen und in der Brusttasche einen Zettel, auf dem stand, sie wären direkt dem OKH unterstellt. Sie keuchten auf den Berg hinauf, auf dem die Funker sitzen sollten. Dort, so war ihnen gesagt worden, wäre der Sammelpunkt, sollten sie versprengt werden.

In dieser Nacht sank die Temperatur unter den Gefrierpunkt; es fiel ein wenig eisvermischter Schnee. Sie wagten sich nicht in die schützenden Täler, weil sie fürchteten, sie könnten so einen ihrer Kameraden verfehlen. Sie froren bis ins Mark hinein und ersehnten in jeder Minute das Ende dieser höllischen Nacht. Als es hell wurde, strich ein Aufklärungsflugzeug über die Wipfel, sie hatten den Eindruck, über ihnen bliebe es fast stehen.

An diesem Tage aßen sie, was sie in ihren Brotbeuteln gerettet hatten; davon wurden sie nicht satt. Immerfort kreisten ihre Gedanken um das Thema, wer der Mann gewesen war, der sie aufgefordert hatte, sich zu ergeben, und woher er ihre Namen kannte. Als es Abend wurde, packte sie Verzweiflung: Noch solch eine Nacht würden sie nicht überstehen. Zwei Wege schienen möglich: versuchen, in einem Dorf unterzukriechen oder sich ins Lager zurückzuschleichen, zu vertrauen, daß die Amerikaner abgezogen waren, ihr Loch nicht gefunden oder nicht alles mitgenommen hatten. Sie entschieden sich für das Dorf.

In der Dämmerung schlichen sie über harte Schollen heran. Einen Mann hinter einem Schuppen fragten sie nach Amerikanern. Es wären Panzer durchgefahren, jetzt wären keine mehr hier. Konnten sie die Nacht über bei ihm bleiben? Der Mann schüttelte den Kopf, das riskierte er nicht. Aber drei Häuser weiter wohnte der Ortsgruppenleiter der Volkswohlfahrt, dort sollten sie klopfen.

Entsetzen trugen sie in dieses Haus. »Laßt die Waffen draußen!« rief der Mann, »bloß nicht die Waffen ins Haus!« Er flehte sie an, wieder zu gehen, ihn nicht ins Unglück zu stürzen, ihn und seine Familie. Dann packte ihn Mitleid: Aufwärmen sollten sich die Jungen rasch und etwas essen, dann um Christi willen verschwinden. Die Frau sagte: »Ich hab gerade gebuttert.« Sie sah Jungen vor sich, dachte an ihre Jungen draußen im Krieg, hoffte, eine andere Mutter würde sich ihrer annehmen, wie sie sich dieser Jungen annahm. Sie zog den Kaffeetopf aus der Ofenröhre, schnitt Brot ab und strich Butter auf, und die beiden aßen, aßen, fühlten noch nicht einmal den Beginn einer Sättigung. Die Frau hatte vier Jungen geboren, einer war gefallen, einer in England in Gefangenschaft, zwei waren irgendwo. Die Frau schnitt noch immer Brot ab, strich Butter auf, Gietzel sackte über dem Tisch zusammen. Da kapitulierte der Mann: »Ich verstecke eure Waffen. Bleibt auf der Ofenbank. Ehe es hell wird, wecke ich euch.«

»Hoffentlich«, sagte L., »fällt in dieser Nacht kein Schnee, damit unsere Spuren Sie nicht verraten.« Er dachte: Hoffentlich fällt Schnee.

Es schneite in dieser Nacht. Es war noch nicht hell, da führte der Mann sie auf den Boden und bedeckte sie mit Heu. Den ganzen Tag über schliefen sie einen Erschöpfungsschlaf, nur einmal weckte der Mann sie, brachte ihnen Knödel und Fleisch und berichtete, was er im Radio gehört hatte: Hitler war im Kampf um Berlin gefallen. Das galt den beiden als furchtbare Nachricht, nun war alles aus. Der Führer war unsterblich gewesen, nun war er tot. L. malte sich ein Blut- und Brandgemälde: Der Führer feuerte mit einem Maschinengewehr aus einem Fenster der Reichskanzlei, fiel durch Kopfschuß. Die Welt, wie L. sie gesehen hatte, stürzte zusammen. Der Führer war tot, er selbst lebte – nie hatte er geglaubt oder gar sich vorgestellt, dies könne geschehen. Unter Heu lag er, satt, gesund, fror nicht. Regungslos lag er, als müsse nun alles auf der Welt erstarren. Erst war es so still, als läge er wirklich im Grab, als wäre die ganze Welt ein Grab. Dann hörte er Schritte auf dem Hof, eine Frau rief einer anderen Frau etwas zu, er glaubte, sie müsse rufen, daß der Führer tot wäre und daß sie nun auch alle sterben würden. Aber von Eiern war die Rede, eine Tür klappte zu, eine Milchkanne schlug an. Er bewegte die Zehen, sie ließen sich bewegen. Er mußte austreten, das drang allmählich in sein Hirn. Er mußte enorme Energien aufwenden, Heu von sich zu schieben, sich in einen Winkel zu schleppen und die Hose aufzuknöpfen. Sein Wasser lief an einem Balken hinunter, also lebte er. Im Hof wurde ein Pferd angespannt, das ging nicht ohne Ärger ab. Er knöpfte die Hose wieder zu und kroch ins Heu. Ihm dämmerte, daß er nun ganz auf sich gestellt war.

Im Abenddunkel verließen die Werwölfe das Haus. In der Nacht beobachteten sie im Osten Mündungsfeuer und zählten die Sekunden, bis der Schall an ihr Ohr drang: Weiter als fünfzehn Kilometer war die Front nicht entfernt. Sie schlichen zurück ins Tal und überquerten den Weg, auf dem der Bauer die Kuh getrieben hatte, lauschten, hörten nichts. Eifrig flüsterten sie sich zu: Die Amerikaner mußten abgezogen sein. Trotzdem nahm ihre Erregung zu, je näher sie dem Dickicht kamen, in dem ihr Loch lag. Sie pfiffen wie die Kohlmeisen, niemand antwortete, sie krochen Meter für Meter weiter, jeden Augenblick bereit, Feuer zu erwidern. Ihre Tarnanzüge lagen noch so, wie sie sie hingeworfen hatten, daneben Rucksäcke, Decken und Fleischbüchsen. Noch vor Morgengrauen brachen sie einen Vorratsbunker auf und schleppten Büchsen, Knäckebrot und Heidelbeergläser seitab. Einen Tag lang aßen sie so viel, wie sie vermochten; umsichtig packten sie ihre Rucksäcke, leid tat es ihnen um die Zentner an Lebensmitteln, die hier verdarben.

Wieder stiegen sie den Plösser Berg hinauf, spürten den Höhenwind. Sie fanden einen Weg, der abwärts nach Osten führte; die Luft wurde linder, je weiter sie ins Tal kamen. Als es dämmerte, krochen sie in ein Dickicht, zogen Zweige über sich, ängstigten sich: Hunde konnten sie aufspüren. Aber sie waren zu erschöpft, als daß einer gewacht hätte. Manchmal schoß Artillerie, das Mündungsfeuer war noch immer zehn oder fünfzehn Kilometer entfernt. Sie redeten über den Führer, der nun schon lange tot war, der kein Gott gewesen war und sie im Stich gelassen hatte. Sie nannten ihn auch nicht mehr den Führer, sie nannten ihn Hitler, und die kühle Respektlosigkeit paßte zu ihrer Lage. Sie waren also keineswegs tot, sie wollten nach Hause, am liebsten in den Mutterleib zurück. Ein paar Tage noch würde sich nun der Krieg hinschleppen, diese Tage mußten sie überleben. L. stellte sich vor, wenn ihn die Amerikaner fingen, brächten sie ihn nach Italien, und er müßte im Hafen von Brindisi in glühender Hitze Kohlesäcke von Bord eines schwarzen Schiffes schleppen. Also nach Hause! Mit der gleichen Hartnäckigkeit hatte er vor Wochen zum Türkenberg gewollt. Das war tausend Jahre her.

In der nächsten Nacht zogen sie durch ein Dorf, in dem ein Amerikaner in einer offenen Haustür lehnte; schwaches Licht leuchtete in seinem Rücken. Er redete sie an, sie gingen schweigend weiter. In einem anderen Dorf hatten Amerikaner einen Gutshof hell erleuchtet, es klang, als ob sie darin Fahrzeuge reparierten. Hundert Meter davor verließen L. und Gietzel die Straße, hundert Meter dahinter kehrten sie darauf zurück. Immer wieder berieten sie, in welchem Fall sie schießen und in welchem sie sich ergeben sollten. Das Wasser, in dessen Tal sie blieben, hieß Radbusa, und der Ort, über dem sie eines Morgens ins Dickicht schlüpften, vermutlich Hostau, das heutige Hostoun. Gegen Mittag krochen sie an den Waldrand vor und blickten in eine Mulde, drüben stiegen bewaldete Kuppen auf – sie waren aus dem schrofferen Teil des Gebirges heraus. Unten rollten Lastwagen, weit weg landete eines dieser kleinen Flugzeuge, die am Tag über die Wälder strichen. Den Nachmittag über schauten sie zu, wie die Amerikaner Panzer und Geschütze auffuhren, wie dort, wo die Straße im Wald verschwand, Granaten einschlugen und Rauchpilze aufstiegen. Schützenpanzer rollten vor, Infanteristen stürmten; allmählich trat Ruhe ein, die Sperre war durchbrochen. Das alles sahen sie wie von einer Theaterempore aus. Da hofften sie, die Amerikaner würden nicht allzu weit vordringen, ehe die Dunkelheit sank.

An diesem Abend konnten sie es nicht erwarten, aus ihrem Gebüsch zu kommen. Schon während des Sonnenuntergangs verschnürten sie ihre Rucksäcke, wobei sie alberten, Kameramänner einer Propagandakompanie müßten diese Szene drehen: Werwölfe machten sich auf zu heldischem Nachtwerk.

Sie mühten sich nicht einmal, die Höhe zu umgehen, auf der am Nachmittag das Gefecht gezuckt hatte, zwischen beiseite gezerrten Stämmen marschierten sie hindurch. Im nächsten Dorf klang Trubel aus einem Gasthof. Sie schlugen einen Bogen, marschierten, marschierten. Sie dachten, sie müßten irgendwann auf amerikanische Vorposten und später auf die der Deutschen stoßen, wenn sie auch nicht annahmen, es würde etwas geben, das einer geschlossenen Front ähnlich sah. Am Ortsschild von Bischofteinitz vorbei klirrten sie in die schlafende Stadt hinein, sahen weiße Tücher an allen Häusern, es war Sonntag, der 6. Mai 1945. Auf dem Marktplatz sahen sie im ersten dünnen Dämmern Shermanpanzer, Lastautos, Jeeps, keinen Posten dabei. So groß ihr Schreck war, L. griff doch in einen Jeep hinein und riß eine Packtasche heraus, sie rannten los, wollten hinaus aus der Stadt, irgendwo mußte Wald sein, und den mußten sie erreichen, ehe es tagte. Unfaßbar: Die Amerikaner hatten ihre Fahrzeuge auf den Platz gestellt ohne eine Wache daneben und schliefen in den Häusern. Durch eine Siedlung von Einfamilienhäusern hasteten sie, hörten Signale aus einer Trillerpfeife, gleich darauf traten Männer mit runden Helmen aus den Gärten, vor ihnen, neben ihnen, einer streckte ihnen das Gewehr entgegen, tappte angstvoll zurück, und L. ließ Maschinenpistole und Packtasche fallen und hob die Hände und rief diesem Mann zu, er möge nicht schießen, das rief er in seiner Aufregung deutsch, obwohl er in der Schule so viel Englisch gelernt hatte, daß er den einfachen Gedanken in fremder Sprache hätte ausdrücken können.

Dann standen sie mit erhobenen Händen, GIs nahmen ihnen Handgranaten vom Koppel, MP-Magazine aus dem Rucksack und Uhren vom Handgelenk. Das taten sie ohne Hast und Haß. L. war gefangen, seiner Tötungsmaschinerie ledig und aller Pflichten, die mit ihr verbunden gewesen waren. Er mußte eine rasche Angst überwinden, aber eine Stunde später schon schwappte Freude über, am Leben zu sein und zu bleiben, da fühlte er sich kindisch fröhlich und hätte sogar mit den GIs gealbert, in deren Formation er marschierte, aber die sahen dazu nicht den geringsten Grund. Einer setzte ihm ein MG-Dreibein auf den Rucksack, da radebrechte er, dies sei gegen die Bestimmungen des Red Cross, und ein Gl trat ihm ein wenig gegen die Wade. Er lebte, nun würde er hundert Jahre alt werden. Am Straßenrand lag ein toter deutscher Soldat, das Gesicht im Dreck, das war keineswegs er selber, er stapfte vorbei auf gesunden Beinen, Rucksack und Dreibein auf dem gesunden Rücken. Wenn ihm ein Gl einen Stoß gab, daß er fast gestürzt wäre, wenn ein anderer befahl: »Sneller! Sneller!«, was bedeutete das schon. Bei einer Rast hätte hin und wieder ein Gl gern seine Uhr gehabt, die schon ein anderer hatte. »No, Sir«, sagte er, »sorry.« Er dachte neben vielem anderen, und auch das war ein Lebensgedanke: Vielleicht lernst du jetzt richtig englisch.

3

Hinter Stacheldraht lagen sie Mann an Mann, manche besaßen eine Decke, eine Zeltplane, andere einen Sack, einen Mantel, manche nichts. Sie verpflegten sich aus Rucksäcken und Brotbeuteln, die Läuse hatten es nahe von einem zum anderen. Am Tag prunkte die Sonne dieses ungeheuren Frühlings, nachts war es bitterkalt. Tag für Tag wurden neue Lastwagenladungen durchs Tor gedrückt, die Ankommenden hockten sich in die Gänge, die letzten fanden nicht mehr Platz, sich hinzulegen. Der Sieger fegte zusammen, was Uniform trug, Soldaten und Volksstürmer, Rot-Kreuz-Schwestern und Hitlerjungen, Wlassow-Verräter und NS-Ortsgruppenleiter, und sonderte erbittert aus: Fallschirmjäger und Waffen-SS.

Er saß auf seinem Rucksack; wenn die Sonne stieg, zog er das Hemd aus. Aus einem Lautsprecher schallten Anweisungen, es sollten Fünfzigergruppen gebildet werden. Feldwebel machten sich an die Arbeit, gewesene Führer schwangen sich zu neuen Führern auf. Er hatte in den ersten Stunden der Gefangenschaft den gefährlichen Zettel, auf dem stand, er sei direkt dem Oberkommando des Heeres unterstellt, zerschnipselt, nun saß er da ohne die Möglichkeit, zu beweisen, wer er war. Als Graf Heribert v. Möllenbrock hätte er ein neues Leben beginnen können oder als Kurt Schulze, hätte sich fünf Jahre älter machen können und bezöge so fünf Jahre vorfristig höhnisch grinsend die Altersrente; aber wie soll ein Neunzehnjähriger auf diese Idee kommen. Er erwog durchaus einen Namenswechsel, denn wie leicht konnten die Amerikaner durch alle bayrischen Camps die Kunde schicken: Fahndet nach dem Werwolf E. L.! Wie, so überlegte er natürlich auch, waren die denn an die Namen gekommen? Diese Möglichkeit bestand: Ein Hauptmann hatte Schnaps ausgegeben und die Empfänger auf einer Namensliste abgehakt, sein Deckungsloch war zuerst aufgespürt und die Schnapsliste gefunden worden. Loest herauskommen! Gietzel herauskommen! Dieser Ruf konnte sich wiederholen.

Aber zunächst einmal wurden Fallschirmjäger und SS- Männer, Wlassowskis und Krankenschwestern, Verwundete und Kranke ans Tor gefordert, die Offiziere bekamen ihr eigenes Geviert, die Sonne jubelte, und die Läuse heckten. Wasser tropfte für Tausende aus einem einzigen Hahn. Tee wurde ausgegeben und nach vier Tagen die erste Suppe. L. kaute mit seinen Nachbarn Gerüchte durch, was mit ihnen geschehen sollte, Lager in Texas oder Straßenbau in Belgien? Aus dem Lautsprecher tröpfelten Nachrichten: Göring war gefangen, in Böhmen und Kurland hatten die letzten Deutschen kapituliert. Suppe-Empfang für die Gruppen 342 bis 350, Tee-Ausgabe für die Gruppen 167 bis 178. Nürnberger trafen Landsleute siebzehn Uhr an der Baracke zwo.

Sie waren beschissen worden, so hörte er es rechts und links, waren schwer angeschissen worden, von wegen neue Waffen, gleich nach Stalingrad hätte Hitler aufgeben sollen. Sie alle fühlten sich als Opfer von Hitler, Göring, Goebbels ab Stalingrad, die Zeit davor ließen sie im dunkel. Ihre Taten ließen sie im Vergessen und ihren Anteil am Krieg, sie zogen nicht einmal diesen Krieg in Zweifel, sie hatten Schuldige gefunden und fühlten sich als die armen Schweine, die nun im Dreck lagen. Die Amis mit ihrer Übermacht, für die war es ja kein Kunststück gewesen. Und der Iwan, hundert T 34 gegen einen Tigerpanzer. Nun mußten sie die Scheiße ausbaden. Ihnen sollte keiner wieder kommen. Friedfertig fühlten sie sich von einem Tag auf den anderen, Lämmer, nun sollte der Ami sie mal schnell nach Hause zu ihren Frauen und an ihre Arbeit lassen, aufzubauen gab es ja wahrlich genug. Die Feldwebel und Unteroffiziere redeten mild daher, kümmerten sich: Immer wieder versuchen, den Darm zu leeren! Und wenn es noch so weh tat, und wenn bloß ein paar Bröckchen kämen; wer sich da gehen ließ, bekam nach einer Woche den Brand. Gerecht verteilten sie die Suppe und das Scheibchen Büchsenfleisch – sie hätten es als unfair empfunden, hätte man sie an verflossene Schikane erinnert.

Mann an Mann lagen sie, allmählich verdichteten sich die Gerüchte: Wer aus der amerikanischen Zone stammte, wurde bald heimgeschickt, bei den anderen dauerte es etwas länger. Nun floß schon täglich Tee und alle zwei Tage Suppe. Wenn es dunkelte, wenn alle Geräusche erstarben, spielte ein lieber musikalischer Deutscher auf der Trompete: »Guten Abend, gute Nacht!«

Da lagen sie nun, die Panzerschützen mit einst stolzen Abschüssen, Partisanenjäger aus bosnischen Bergen, Dörferverbrenner aus der Ukraine, treffsichere MG-Schützen des Frankreichfeldzugs, Verminer von allerlei Rückzugsstraßen, »Guten Abend, gute Nacht, mit Rosen bedacht«. Da dachten sie sehnsüchtig an ihre Kinder daheim, requiriertüchtige Feldköche aus dänischen Radarstellungen, lämmerfleischschätzende Zahlmeister aus der griechischen Etappe, Brückensprenger, Panzerfäustler, Träger des Deutschen Kreuzes in Gold und diverser Nahkampfspangen, mit denen sich brüsten durfte, der das Weiße in Augen des feindlichen Polen, Franzosen, Briten, Serben, Griechen, Russen, Amerikaners gesehen hatte, »mit Näglein besteckt«, da lagen sie in ihren Tarnjacken und Feldblusen, Leningradbeschießer und Krimschildträger, »von Englein bewacht, sie zeigen im Traum dir Christkindleins Baum«, Feldgendarmen auf allen Straßen und Bahnhöfen, Durchhalteartikler der Propagandakompanien, Fahrradschwadroneure der ersten Vormärsche, Coventrybombardierer, Sonderführer für den Großviehabtrieb aus Bjelorußland, »schlupf unter die Deck«, Stukaflieger, Ortskommandanten und Judenregistrierer aus Lettland, sie alle hatten Begriffe wie Schienenwolf, Werwolf, Wolfsschanze, Verbrannte Erde, Brückenkopf, Kopfschuß, Flammenwerfer, Kettenkrad und Panzerschreck total vergessen, nun ruhten sie hier und lauschten deutschen Tönen, »morgen früh, wenn Gott will«, waffenlos waren sie, leider verlaust, was hielt man sie denn hier noch fest, wo daheim die traute Frau und die lieben Kinder nun schon so lange sehnsüchtig warteten, »wirst du wihihider geweckt.«

Stefan Heym läßt in seinem Roman »Kreuzfahrer von heute« eine Amerikanerin sagen: »Ich hab ja keine große Ahnung, wie diese Deutschen als Eroberer waren, aber in ihre Rolle als Besiegte passen sie sich großartig ein.« Wenigstens: L. hatte keine Kerbe im Kolben.

Nach zwei Wochen, als er durch die Entlassungsmaschinerie geschleust wurde, nannte er doch seinen Namen. Zuerst mußte er den linken Arm heben, auf daß keine Blutgruppen-Bezeichnung darunterstünde, das hätte ihn als Waffen-SS-Mann entlarvt, vielleicht als Überlebenden der Division »Hitlerjugend« – fühlte er sich wenigstens demütig durch einschlägige Erinnerung? Vor einem Offizier nannte er Namen und Geburtsort, denn nach Mittweida wollte er ja unters elterliche Dach und nicht als Graf Möllenbrock oder Kurt Schulze ein ungefähres Leben beginnen; die Gefahr bayernweiter Werwolf-Fahndung erachtete er in dieser Stunde der Heimatsehnsucht gering. Sein Soldbuch wäre ihm in der Minute der Gefangennahme weggenommen worden, behauptete er, einer gewissen Kampfgruppe Köhler, hinhaltend tätig im Fichtelgebirge, hätte er angehört und wäre schlichter Gefreiter der Wehrmacht gewesen, nichts sonst. Mittweida? Da horchte der Offizier auf, der erst mit Fangfragen vertrackte SS-Zugehörigkeit hatte aufspüren wollen, Mittweida, was gäbe es da wohl? Das Technikum!, und die Miene des Amerikaners hellte sich auf. Vielleicht hatte dieser Mann selbst dort studiert, vielleicht ein Verwandter, denn Emigrant mußte er wohl sein; jedenfalls war er wie ausgewechselt. Wenn L. nicht auf dem Technikum gewesen wäre, wo dann? Der Offizier ließ sich schildern, was L. gelernt hatte – Englisch auch? Ein Entlassungsformular schob er über den Tisch, und der Heimkehrer in spe las und übersetzte: I hereby certify to the best of my knowledge and belief the particulars given above are true. Seinen geschwärzten rechten Daumen rollte er übers Papier, der Schreiber am Fenster grinste über das putzige Englisch, das dieser German boy da sprach. Der Überprüfungsoffizier schrieb den Namen Loest in eine Liste. Dahinter waren zwei Spalten, über denen stand »SS« und »okay«. L. war okay.

Am nächsten Morgen traten die Entlassungskandidaten am Tor an. Jeder zweite erhielt eine Büchse Fleisch aus Wehrmachtsbeständen, L. war ein zweiter. Hundert Zigaretten hatte er für eine Lederjacke hingegeben, die trug er im Rucksack neben der Büchse und weiteren hundert Zigaretten aus der Werwolfreserve, ein Tauschobjekt ersten Ranges. Die Strecke Weiden/​Oberpfalz bis Mittweida schätzte er ab; wenn er jeden Tag vierzig Kilometer marschierte, war er dann in einer Woche daheim?

Durch die Erde ein Riß

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