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II. Pistole mit sechzehn
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Doch das Wichtigste für ihn war zwischen 1936 und 1939 nicht die Hitlerjugend, sondern die Schule. Ein halbwegs neues Gebäude am Stadtrand mit Blick auf den Park, ein praktisches freundliches Haus, Raum bietend für je eine Klasse von der Sexta bis zur Oberprima – der Sextaner L. trug neue Schulbücher in neuer Tasche nach Ostern 1936 zum erstenmal dorthin. Durch den Großvater mütterlicherseits, den Oberlehrer i. R., flackerte noch einmal die Überlegung auf, die ein Jahr ältere Schwester Käthe doch noch mitzuschicken, aber der Gaswerks-Opa siegte mit diesem Argument: Da kriegt sie bloß ’ne Brille und folglich nie einen Mann. Vor allem aber war Käthe als kaufmännischer Nachwuchs für das elterliche Geschäft ausersehen. Schluß der Debatte.
Für das Gerangel um die Führungsspitze in der Klasse fehlte es ihm an Körperkraft und Lautstärke. Er lernte. Diese drei Jahre bis zum Kriegsbeginn boten ihm fordernde Schule, angefüllt, ausgefüllt mit Lehrstoff, dargeboten von Lehrern, die mit geringer Ausnahme ihr Fach verstanden und ernst nahmen. Der Chronist zweifelt fast an seiner Erinnerungsfähigkeit, so stark ist er verwundert, daß noch an jedem Montag eine christliche Andacht abgehalten wurde. Der Physiklehrer bediente das Harmonium, Pflicht war es, das Gesangbuch mitzubringen. Rektor Schönfelder, schon vor- und bloßgestellt als Gelegenheitsbarde des ›Mittweidaer Tageblatts‹, wachte an der Aulatür über die Einhaltung dieses Gebots. Ein Jahr darauf wurde er pensioniert – er kehrte nach Kriegsbeginn zu seiner und der Schüler Qual als Lateinlehrer für untere Klassen zurück –, ein junger Rektor trat ein, Lehnert, Alter Kämpfer der NSDAP, ein Politischer Leiter. Andacht wurde durch Fahnenappell ersetzt, zwei Studienräte aus dem demokratischen Lager trugen alsbald das Hakenkreuz am Jackett. In der Wolle gefärbte Nazis waren der Sport- und der Chemielehrer, der Sportlehrer war Reserveoffizier und rückte gelegentlich zu einer Übung ein; wenn er wiederkam, hatte er seine Kommandos so verkürzt, daß sie nur noch wie Bellen klangen. Knallend verkündete er, er sei von der Truppe zurück, nun pfeife es aus einem anderen Loch, und ordnete Körperschule an, ein Intensivtraining mit dreitägigem Muskelkater als Folge. Der Zweitkleinste und beinahe Schwächste der Klasse war flink und zäh, eine Niete im Kugelstoßen, doch behende die Kletterstange hinauf, und was er je gelernt hat im ungeliebten Geräteturnen, das bei diesem Mann. Geschwommen wurde und geboxt, und Spezialität war ein Spiel namens Bückeball, Handball auf eine Turnhalle zugeschnitten, bei dem der Ball nur bis Hüfthöhe gespielt werden durfte und sonst fast alles erlaubt war. Das war seine Welt, da wühlte er verbissen, und wenn es eine Strafbank gegeben hätte, er hätte immerzu auf ihr gesessen. So gerieten seine Sportzensuren nie so schlecht, daß sie ihm die Freude an diesem Unterrichtsfach verdorben hätten. Er glänzte in Geschichte; Griechen und Perser schlugen ihre Schlachten, Armin trieb die Römer zu Paaren, das Mittelalter ließ ihn relativ kalt, aber dem preußischen Friedrich gehörte seine kundige Sympathie, er betete die Namen preußischer und österreichischer Generäle und aller Schlachten her und wunderte sich nicht, daß ihm als Sachsen die Liebe zum Preußenkönig anerzogen wurde, der doch mit Sachsen rüde genug umgesprungen war. Sächsische Geschichte wurde nicht gelehrt, die Richtung hieß »Preußen als Keimzelle des Deutschen Reiches«, und dieses Preußentum, so wollten es Geschichtsbücher und Lehrer, war der Vorläufer von Hitlers Ideen, und Blücher ein früher SA-Mann. Friedrichs lange Gardesoldaten waren die Ahnen der SS. Die Sachsen galten als verdächtiges Gemisch von Hofschranzen, Verrätern und Schwachköpfen, die Lustschlösser anstelle von Festungen gebaut hatten; es lohnte nicht, sich mit ihnen zu befassen.
Allmählich schied sich die Spreu vom Weizen. Mit achtundzwanzig Jungen und acht Mädchen hatte diese Klasse begonnen, Ostern 1940 überstanden noch vierzehn Jungen und zwei Mädchen. Die anderen hatten die jeweiligen Ziele nicht erreicht, genauer gesagt: Die Schulleitung hatte den Eltern nahegelegt, ihre Kinder herunterzunehmen. Denn kein Lehrer gefährdete ohne Not den Ruf einer Familie, mit deren Mitgliedern er etwa der »Liedertafel« angehörte oder dem »Verein ehemaliger Realschüler«, mit denen er vielleicht selbst die Schule oder die Tanzstunde besucht hatte oder ihnen zumindest jeden Tag auf der Straße begegnen konnte. Etliche, die die Oberschule verließen, wechselten zur Handelsschule über; die Eltern argumentierten im Bekanntenkreis, ihre Sprößlinge seien nun einmal mehr fürs Praktische. Ein Kern hielt sich bis zum Abbröckeln lange vor dem Abitur.
Denn der Sommer 1939 brachte den Krieg, sein brüllendes Näherrücken bestimmte die Gespräche der Älteren. Alle Väter waren Frontsoldaten gewesen, kannten Hunger und Inflation – niemand sehnte sich nach Krieg. Zwei Tage lang schien es, als beschränke sich das Schlachten auf Polen. L. spazierte mit seinen Eltern an der Zschopau entlang, sie trafen Bekannte, die ihnen sagten, England und Frankreich hätten den Krieg erklärt. Da wurden die Gesichter seiner Eltern maskenhaft starr.
Wenige Tage später rückte der Vater ein. Er war zweiundvierzig und laborierte an der Galle. Es war klar: Die Mutter konnte das Geschäft nur eine kurze Zeit allein führen, es hätte ohne den Chef geschlossen werden müssen, die Familie wäre ohne Existenz gewesen. Aber nach zwei Wochen war der Vater wieder da, noch einmal wurde er im Herbst eingezogen und bewachte polnische Gefangene, die bei Wittenberg Rüben rodeten, dann gab er abermals sein Feldgrau auf Kammer ab und wurde nicht wieder behelligt.
In diesem heißen September, in dem Polen zusammenbrach, radelten Mittweidas Oberschüler täglich an die Talsperre, sie spielten Wasserhasche und Fußball bis zur Erschöpfung, manchmal lagen sie im Gras und schauten zu den Flugzeugen hinauf. Alle kannten alle Typen, Ju 52 und He III und die berühmte Me 109. Traurig waren sie, daß sie diesen Krieg nicht mitschlagen durften, sie waren ja erst dreizehn, vierzehn, und bis sie Soldat sein konnten, war zweifelsfrei alles längst vorbei. Vielleicht kamen sie zum nächsten zurecht? Aber der jetzige Krieg, so stand in allen Zeitungen, würde ja jedes Problem in Europa auf tausend Jahre lösen.
In diesem Herbst und Winter lagen die Straßen dunkel. Für einen Jungen, der vierzehn wurde und sich für Mädchen zu interessieren begann, waren die abendlichen Schattenspiele von romantischem Reiz. Unmassen von schwarzem Papier, Reißzwecken und Initiativen wurden für die Verdunklung verbraucht. Leuchtabzeichen tauchten auf, Buchstaben waren am beliebtesten; der erste Fliegeralarm war eine erschöpfend beredete Sensation. Jüngere Lehrer rückten ein, Pensionäre kehrten in die Schule zurück, die Disziplin lockerte sich. Immerzu war Anlaß, zu flaggen oder zu einem Gemeinschaftsempfang in der Aula zusammenzuströmen. Die Einschränkungen blieben erträglich, der Krieg war siegreich; nun, da er einmal da war, verlor er auch für die erfahrene Generation von seinem Schrecken. Man mußte mit dem Krieg leben und tat es. Deutschstämmige Umsiedler aus Bessarabien füllten eine Schule, sie zogen weiter auf geraubte Höfe nach Polen. Eine Lazarettbaracke wurde eingerichtet, manchmal brachten Mittweidas Hitlerjungen und BdM-Mädchen den Verwundeten Blumen und sangen und musizierten. Alle älteren Führer waren eingerückt, manche kamen auf Urlaub und berichteten, sie trugen Litzen und Orden, wurden Fähnrich und Leutnant. Im ›Mittweidaer Tageblatt‹ standen die ersten Anzeigen: Gefallen für Führer und Volk. Jüngere Führer rückten nach, in den Straßen dröhnten nach wie vor die Landsknechtstrommeln, durch die Wälder hallte das Kriegsgeschrei der Geländespiele. Sie waren ein Mischmasch von Germanenstrategie, Pfadfinderromantik und radebeulischer Indianerei, auf Cheruskergerangel aufgepfropfter blaublumiger Winnetou, und als tot galt, wem ein Wollfädlein vom Oberarm gerissen wurde. Manchmal entschied die größere Haltbarkeit der roten gegenüber der blauen Wollsorte ein Gemetzel; die Sieger trugen die Beutefäden, Lebensfäden triumphierend wie Skalpe am Hemdknopf heim in die Stadt, wo auf dem Marktplatz die Fahnen in den Torbogen eines Gasthofs hineingetragen wurden, denn darin lag das Jungvolkbüro, genannt Dienststelle, und dreimal grüßte ein Heil der lebenden und der toten Geländespieler den fernen Führer.
Die Konfirmation im Frühjahr 1940 verlief wie im Frieden, Geschenke türmten sich, nichts fehlte auf der Tafel. Er war in einem läßlichen evangelischen Christentum aufgewachsen, mit fünf betete er abendlich, mit sieben quälte ihn schlechtes Gewissen, wenn er es eine Woche lang vergessen hatte. Die Großeltern besuchten jeden zweiten Sonntag die Kirche, die Mutter folgte ihnen zweimal im Jahr, der Vater einmal in fünf Jahren. Das Verhältnis zur Kirche in dieser Familie war überständig und bröckelte ab; der Einfluß auf E. L. war immerhin so stark, daß er sich von der Konfirmation ein machtvolles inneres Erlebnis versprach, etwas Unerhörtes, nie Gefühltes. Nichts trat ein, die Konfirmation war eine tiefe Enttäuschung, und vom nächsten Tag an war er Atheist. Besser: Er war Untheist. Gott existierte für ihn nicht mehr, kein Glaube gab ihm Kraft; Religion oder Nichtreligion wurden ihm nie wieder zum Problem. Eine Zeitlang allerdings beneidete er die, die einen Gott besaßen, das war viel später, als er im Zuchthaus Bautzen ganz allein war, da hätte er Gott brauchen können. Aber kurzfristig läßt Gott sich nicht aufbauen, und er versuchte es auch nicht erst.
In diesem Frühjahr 1940 starb Gott für ihn. Der Führer lebte und war Gott genug, Erzengel Göring schickte seine himmlischen Heerscharen gegen britische Schiffe und Städte, und der Teufel war Churchill. Gottes Propheten hießen Prien und Galland, L. wußte alles über die Funktion eines Sturzkampfflugzeugs und die Bestückung der »Scharnhorst« und die Feigheit der Franzosen, die sich hinter der Maginotlinie verkrochen. In den Sommerwochen, da Frankreich stürzte, hörte er jeden Mittag heißen Herzens den Wehrmachtsbericht und steckte Fähnchen auf einer Karte, und wenn das Jungvolk durch die Stadt marschierte, gellten die Lieder der Saison: Bomben auf Engeland! Ein Winkel schmückte jetzt seinen Ärmel, denn er war nicht nur zum Jungenschaftsführer ernannt, sondern auch zum Hordenführer befördert. Kein Tropfen Ernüchterung fiel in diesen Rausch, den totale Propaganda schäumen ließ, nicht einmal die Sorge um einen Bruder, der jetzt etwa durch Frankreich keuchte oder auf einem U-Boot von Atlantikwogen gebeutelt wurde. Krieg aus der Wochenschau und über Radiowellen, siegreicher Krieg, der weit entfernt geschlagen wird, kann wundervoll sein.
Sommer und Mädchen, Filme und Schlager hatten ihren normalen Platz. Ein Leben lang kehrt die Erinnerung zum ersten Kuß zurück – haben da nicht Kirschbäume geblüht? Aber er küßte nicht in lauer Nacht, sondern unter Ausnutzung der Verdunklungsvorschriften. Er brachte sein jeweiliges Mädchen nicht nach Hause, nachdem sie in einer Milchbar die Händchen gehalten hatten, sondern zu der Heldenfeier am 9. November oder dem gemeinsamen Üben, wie man einen Verschütteten aus einem Keller befreit, oder zu einem Lichtbilderabend über die Trachten deutscher Volksgruppen in Siebenbürgen. Emsig genutzte Gelegenheit zum Flirt bot sich, wenn Jungvolkführer und Jungmädelführerin Schulter an Schulter fürs Winterhilfswerk mit der Sammelbüchse klapperten. Wenn heute im Radio ein Schlager aus dieser Zeit gespielt wird, bei den Namen Rosita Serano oder Zarah Leander schmettert und stampft in des Chronisten innerem Ohr das Engelandlied. Der Jungenschaftsführer Erich aus dem Fähnlein 6/214 küßte das Jungmädel Christa aus der Jungmädelgruppe 6/214. Nie wieder konnte er über den Schauspieler Lingen reinen Herzens lachen, denn er lachte über ihn im »Theaterhaus«-Kino, bis Fliegeralarm ihn in den Keller trieb.
Da brach Aufregung in die Familie ein: Dem Vater wurde angeboten, ja, er wurde gedrängt, eine große Eisenwarenhandlung in Bromberg im eroberten Polen zu übernehmen. Der Chronist hat sich später bisweilen einen Vater gewünscht, der politisch weitblickender gewesen wäre und ihn vor Irrtümern bewahrt hätte. In diesem Haus war oft genug geäußert worden, Politik verdürbe den Charakter, keiner hatte je aktiv Politik betrieben, aber alle hatten Hitler gewählt. Jetzt sollte sich Alfred L. etwas für einen Pappenstiel aneignen, das einem anderen, einem Juden vermutlich, mit Gewalt weggenommen worden war; das widersprach seinem Gefühl für Redlichkeit und Rechtlichkeit. Er, der nie in seinem langen Leben auch nur drei Mark zahlen mußte, weil er etwa bei Rot eine Kreuzung überquert hätte, zögerte keinen Augenblick. Der Eintritt in die NSDAP wäre Bedingung gewesen, er lehnte ab, da war für ihn in der Handelskammer des Kreises Rochlitz kein Platz mehr, und die Gefahr nahm zu, er müßte wieder Soldat werden. Doch die Wellen glätteten sich, er verkaufte weiterhin Herde und Töpfe und Nägel, nun schon auf Bezugsschein, Nachschub tröpfelte spärlicher, allmählich leerten sich die Läger. Manchmal half ihm sein Sohn, nie tat er es gern, und so stark Alfred L. wünschte, Erich würde sein Nachfolger, so sah er doch, daß Begabung und Neigung fehlten, und drängte mit keinem Wort.
Aus dem Jungenschaftsführer wurde ein Jungzugführer; jetzt hing eine grüne Schnur von der Schulter herunter zum Knopf der Brusttasche. Fünfunddreißig Jungen befehligte er nun und hielt selbständig Dienst ab, Heimabend und Sport und Altmaterialsammeln, er lehrte seine Pimpfe die neuen Lieder: Das Fallschirmjägerlied, und: Panzer rollen in Afrika vor. Die Heimabendthemen wählte er nach seinen Lieblingsbüchern: Der Marsch der Kimbern und Teutonen, die Skagerrak-Schlacht, die Fahrt der »Emden«, Rommel als Stoßtruppführer im Ersten Weltkrieg, das Sterben des Berliner Hitlerjungen Herbert Norkus, und natürlich immer wieder der Lebenslauf des Führers. Jetzt nahm er die Pimpfenprobe ab und verlieh das Recht, das Fahrtenmesser zu tragen, unbeschadet des Umstands, daß es Fahrtenmesser im Handel nicht mehr gab.
Denn der Krieg, der zog sich nun doch etwas hin, der Säufer Churchill wollte nicht kapieren, daß er längst geschlagen war. Aus Griechenland und von Kreta herunter mußten Britanniens Söldner gefegt werden – sollte es wirklich nötig sein, daß Hitlers Wehrmacht den Erzfeind aus seinem Bunker unter dem zerbombten London ans Licht zerrte? Da trat Alfred L. eines Sonntagmorgens ans Bett seines Jungen, er war leichenblaß, als er sagte: »Krieg mit Rußland. Nun haben wir den Krieg verloren.«
Jetzt erst war wirklich Krieg, jeder begriff es. In diesem Sommer marschierte allein Jungvolk durch Mittweida, SA und SS gab es nur noch auf dem Papier. Die eigentliche Hitlerjugend der Vierzehn- bis Achtzehnjährigen machte einen rapiden Schrumpfungsprozeß durch, da sie an chronischem Führermangel litt, denn schon Siebzehnjährige rückten zum Arbeitsdienst ein. Einigermaßen mobil waren noch Flieger-HJ und Nachrichten-HJ, exklusive Gruppen von technisch Interessierten, in Agonie lag die Stamm-HJ, der große Haufen. Dort zockelten noch zehn Prozent zum Dienst, die meisten ohne Uniform, sie blödelten ein bißchen und gingen wieder zu ihren Mädchen oder ins Kino; immer waren Ausreden zur Hand: Überstunden im Betrieb, keine Schuhe, sie hatten nichts gewußt. Hier waren nicht einmal mehr die Führer begeistert, es gab nichts, woran sich ein Funke hätte entzünden können. Vor allem die Arbeiterjungen, nicht die Oberschüler, ließen sich in die Stamm-HJ abschieben, weil sie dort kaum behelligt wurden. Klasseninstinkt? Der behutsame, nicht nach außen dringende, nicht faßbare Einfluß proletarischer Eltern? Der Chronist muß passen.
Bescheidenste Erfahrungen machte er immerhin. Von seinen fünfunddreißig Jungen meldeten sich drei oder vier nur jedes dritte oder zehnte Mal zum Dienst. Er mahnte, schickte schriftliche Befehle. Ein Kriegs-Jugenddienstgesetz machte den Dienst zur Pflicht und sah im Weigerungsfall Arrest als Strafe vor. Er hat nie gehört, daß Jugendliche, weil sie den Dienst schwänzten, tatsächlich eingesperrt worden wären. Immerhin war ein Druckmittel gegeben, und er brachte es vor, wenn er in Arbeiterküchen darauf hinwies, daß der Sohn dieser Familie wieder und wieder nicht zum Dienst erschienen war. Am Tisch saß ein Vater, der wenig redete: Er hatte Schicht, konnte sich nicht kümmern, wollte es dem Jungen noch mal sagen. Oder der Vater stand an der Front, eine Mutter argumentierte: Sie arbeite in der Spinnerei, versorge drei Kinder, sie könne nicht auf alles aufpassen. Warum bekäme der Junge nicht wenigstens einen Bezugsschein für eine Hose? Keine Schuhe – barfuß schicke sie den Jungen nicht.
War das vielleicht schon ein Jahr früher? Da lief seine Klasse im Sportunterricht über tausend Meter, er hielt sich in der Spitzengruppe, zog in der letzten Runde an, kam zu aller Überraschung auf den zweiten Platz, sah die Riesenmöglichkeit, zum erstenmal sportlichen Lorbeer zu ernten, das ließ seine Kräfte wachsen, auf den letzten Metern kämpfte er den Spitzenreiter nieder und siegte, siegte zum erstenmal über die Größeren und Stärkeren, siegte in einer Zeit, die er jahrelang bis auf die Zehntelsekunde auswendig wußte. Da hielt er sich unversehens für ein Langstreckentalent, er rannte, wann und wo sich ihm Gelegenheit bot, besaß genügend Zähigkeit, immer wieder die Dreitausendmeterstrecke in Angriff zu nehmen; sein großes Vorbild war der kleine Japaner Murakoso, der es bei den Olympischen Spielen in Berlin mit den finnischen Riesen aufgenommen hatte. Zehntausendmeterläufer wollte er werden, Marathonläufer vielleicht, er würde der Welt zeigen, wozu Willenskraft fähig war.
Und er lief. Vom Markt zum Bahnhof und zurück, zur Talsperre hinunter, allein oder seinem Jungzug vornweg. Nie hatte er irgendeine Anleitung. Er probierte alle Strecken zwischen 400 und 3 000 Metern aus, verzichtete bald auf die mörderischen 800. An manchem Abend zog er seine Runden über 3 000 Meter, hatte den toten Punkt bei 1 800, überwand ihn, glaubte, bei 5 000 läge seine größte Chance. Die Olympiade 1940, vorgesehen für Tokio, war ausgefallen, 1944 war der Krieg gewiß gewonnen, aber da würde er noch nicht starten können. 1948 würde er zweiundzwanzig sein und wie einst Murakoso gegen die langen Kerle aus Finnland anrennen.
Da fanden Bahnmeisterschaften in Rochlitz statt, Sportgierige aus Mittweida fuhren mit ihren Rädern hinunter. In brütender Hitze keuchte er dreitausend Meter hinter Jungen her, die bis zu zwei Jahre älter waren, das Anfangstempo riß ihn aus seinem Rhythmus, der erste ernsthafte Wettkampf, den dieser Selfmade-Läufer bestritt, sollte sein letzter sein. Abgeschlagen schleppte er sich ins Ziel, ausgepumpt und zu Tode enttäuscht. Eine Stunde lang lag er im Schatten, ehe er Erschöpfung und Scham überwunden hatte. Während der Heimfahrt kamen seine Freunde auf die Idee, am langen Berg hinter Rochlitz zu probieren, wer sich am längsten im Sattel hielt. Da packte ihn der Ehrgeiz, er trat, bis ihm schwarz vor Augen wurde, im Straßengraben lag er zum zweitenmal bleich und schweißnaß, und am nächsten Tag kippte er während des Unterrichts aus der Bank.
Kein Grund zur Aufregung, sagte der Arzt. Das Herz war überstrapaziert worden, das war nicht bedenklich in diesem Alter, das wuchs sich aus. Ein Vierteljahr kein Sport, dann vorsichtig wieder beginnen, auf sich selbst aufpassen, in einem halben Jahr wäre alles wieder im Lot. Während des Sportunterrichts saß L. jetzt am Rand der Turnhalle. Es kam ihm vor, als hätte man ihm beide Beine abgehackt. Kein Marathonlauf jemals, kein Olympiasieg – er schwartete eine zehnbändige Schillerausgabe durch einschließlich der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges und des Abfalls der Niederlande. Wahrscheinlich würde er nun Historiker werden, Geschichtsbücher schreiben über den preußischen Friedrich, über die Schlachten auf den Spicherner Höhen und den Todesritt von Mars la Tour. Nie waren seine Heimabende romantischer als in dieser Zeit.
Da wurde er nach Schneckengrün im Vogtland zu einem Lehrgang der Gebietsführerschule befohlen und fuhr hin mit Teddy Schulze, den er mochte und der jahrzehntelang sein Freund blieb. Teddy war eine kraftvolle sportliche Begabung und obendrein ein begnadeter Schifferklavierspieler. L. trug eine Bescheinigung bei sich, die ihn vom Sport befreite. Schneckengrün wurde der Ort seiner bis dahin bittersten Erniedrigung. Hier kommandierte ein Bannführer, der an der Front ein Auge eingebüßt hatte, an seiner Seite standen Absolventen einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt, die ein Praktikum ableisteten, ehe sie in eine SS-Führerschule einrückten. Jungzugführer L. wies seine Bescheinigung vor und bewirkte Befremden auf allen Gesichtern. Kein Vorwurf eigentlich, eher Ratlosigkeit. Was sollte man hier mit einem Herzkranken? Das Gesunde galt so viel, daß Krankheit ein Makel war, Kranke gehörten nicht in die Reihe der Kämpfer, der Jugend, wie der Führer sie liebte und brauchte. Hier sollte das HJ-Leistungsabzeichen erworben werden, dafür waren sportliche Bedingungen zu erfüllen. Ein Kranker – warum hatte er nicht seinem Bannführer gemeldet, daß er herzkrank war, man hätte ihn gar nicht erst nach Schneckengrün schicken sollen. Schon lange? Angeboren? Da erklärte er, wie es zu seiner Schwäche gekommen war und bezeichnete sie als vorübergehend. Also war es gar nicht so schlimm, da sollte er sich mal nicht haben! Dennoch stand er dabei, wie die anderen weitsprangen, er durfte Sand rechen und das Bandmaß halten. Sein Freund Teddy sprang fünfeinhalb Meter und wurde von keinem überboten. L. war, so würde man heute sagen, weg vom Fenster. Die Herrenmenschen sprangen. Das erstklassige Menschenmaterial sprang. Die nordische Rasse sprang. Nordische Rasse mit Herzfehler – es war ein Widersinn.
Immerzu wehte Wind. Nie wurde einer satt. Kenntnisse über den Kampf des Generals von Lettow-Vorbeck waren nicht gefragt. Wer konnte Schifferklavier spielen? Teddy hing die Hohner um und spielte, als hätte er sein Lebtag nichts anderes getan. Am nächsten Tag warf Teddy die Handgranate weiter als jeder andere, er war der Star des Lehrgangs. Und dann gab es noch diesen Herzkranken.
Nie wurde ein Roman über die Hitlerjugend geschrieben. Wer robust, hart im Einstecken und Austeilen war, kam mit den Bedingungen der HJ zurecht und fühlte sich bestätigt. Aber die Sensiblen, die Schwachen. Vielleicht so: Ein Herzkranker versuchte mit seiner Schwäche fertig zu werden, riß sich zusammen, der Herzmuskel riß, er starb im Augenblick des großen Glücks, da er es wenigstens einmal im Hindernislauf oder beim Boxen den Großen, Starken, Bewunderten und Beneideten gleichgetan hatte. Das wäre ein möglicher Nebenstrang in einem Roman oder auch eine selbständige Geschichte. Was wäre eine Fabel, die ins Zentrum traf? Jeder Schriftsteller plagt sich mit seinen eigenen weißen Flecken herum.
Er war ganz unten angelangt und merkte, wie demütigend es ist, am Boden zu sein, aber keine Sekunde lang kam er auf die Idee, ein System daran zu messen, wie es sich zu seinen schwächsten Gliedern verhielt. Unten war es gräßlich, also mußte er hinauf, und so meldete er am dritten Tag, er wolle am Zwanzigkilometermarsch teilnehmen. Der Gruppenführer nickte befriedigt: Da war einer, der den inneren Schweinehund besiegte.
Während dieses Marsches wurde er die Angst nicht los, zusammenzubrechen. Aber selbst wenn er hinschlug: Dann sahen wenigstens alle, daß er kein Simulant war, und wußten, daß er bis zum Umfallen gekämpft hatte, davor mußten sie Achtung haben. Nach zehn Kilometern fragte einer der ehemaligen Napola-Schüler, der künftige Waffen-SS-Führer: Geht’s? L. nickte. Und der Führer sagte: Na also! L. atmete gleichmäßig, horchte auf sein Herz, das gleichmäßig schlug. Alles schien gut, er war kein Krüppel.
Diese vier Wochen in Schneckengrün waren für L. auch in der Erinnerung eine solche Last, daß er zwölf Jahre danach, als er die Erzählung »Linsengericht« schrieb, seine erfundene Gestalt des Harry Hahn in Schneckengrün SS-Werbern in die Hände fallen ließ; später montierte er diese Szene in den Roman »Der Abhang« ein. Die Kiesgrube, an deren Hang die Werber ihre Opfer fertigmachten, übernahm er aus seiner späteren Erfahrung aus Zeithain.
Niemals mehr erwähnte er sein Herz, auch nicht, als sie bei kaltem Regen in einem Freibad in Plauen eine Viertelstunde lang schwammen, wie die Bedingung des HJ-Leistungsabzeichens es befahl; die Temperatur des Wassers lag bei zwölf Grad. Als er heimfuhr, glaubte er, er hätte ein Stück der Hölle hinter sich. Dachte er auch ein Jahr später, als er in Hartmannsdorf half, Zehnjährige auf ihre Eignung für die Nationalpolitische Erziehungsanstalt zu prüfen, an Schneckengrün?
Was auf dieser Welt, welcher Roman hätte die epische Breite eines Familienalbums? Im Krieg wurde selten fotografiert, Filme waren knapp. Immerhin wurde Fähnleinführer L. vor seiner Formation marschierend festgehalten, hinter ihm die Fahne, vor ihm die Trommler, die begeisterten Jungzugführer und die begeisterten Jungenschaftsführer und in Sechserreihen das unbegeisterte Fußvolk. Der Chronist nimmt die Lupe: Der da ist zwei Jahre später gefallen, keine andere Erinnerung an ihn gibt es als diese: Ein Junge, glatt, hübsch. Der da: Im Westen. Der da: Den traf er vor kurzem und dachte erschrocken: Ein alter Mann. Ein Familienalbum ist Wahrheit, Last, Druck. Man kann keine Hakenkreuzfahnen von Geburtshäusern holen. Klack – wieder ein Stern mehr auf der Schulterklappe. Klack – das HJ-Schießabzeichen an der Brusttasche. Klack – da sind einige aus seiner Klasse, Jahrgang 1925, schon Mitglieder der NSDAP. Von einem borgte er sich manchmal ein NSDAP-Abzeichen aus und steckte es an, wenn er einen Film sehen wollte, der für Jugendliche unter achtzehn nicht zugelassen war. Das fotografierte niemand.
2
Drei Häuser weiter wohnte der Kommunist Vogelsang mit Frau und Sohn. Ein letztes Mal Dr. Sauer: »Die KPD hatte sich von neuem organisiert. Aber unserer Geheimpolizei gelang es, Nest auf Nest auszunehmen und an Hand der gefundenen Aufzeichnungen die gefährlichsten Elemente des KPD-Geheimdienstes festzunehmen. Auch der aus Mittweida stammende Spitzenfunktionär Vogelsang, ein Beauftragter des Moskauer Zentralkomitees, wurde Mitte August 1933 in Berlin verhaftet. Er arbeitete mit gefälschten Pässen und Namen.«
L. sah ihn oft von der Arbeit kommen, eine zerbeulte Tasche unter dem Arm, aus der die Thermosflasche schaute. Das war schon während des Krieges. Hans Vogelsang war aus der Haft entlassen worden und arbeitete in einer Wattefabrik. Sein Sohn war Gefolgschaftsführer der Mittweidaer Marine-HJ, Mutter Vogelsang kaufte bei Loests ein. Wenn dort von Vogelsang die Rede war, hieß es: Ein Kommunist, aber einer von der anständigen Sorte. Vogelsang verrichtete seine Arbeit und hielt den Mund, etwas anderes blieb ihm nicht übrig. Wäre in Mittweida eine rote Fahne oder eine antifaschistische Parole aufgetaucht: In der nächsten Stunde hätte die Gestapo diesen Mann abgeholt. Hätte er auch nur einen politischen Witz erzählt, es wäre sein letzter gewesen. In den fünfziger Jahren wurde in Romanen und Erzählungen gern diese Szene abgewandelt: Ein verführter Jugendlicher lernt einen älteren Arbeiter kennen, der pfiffelt verstohlen niegehörte Töne, später stellte sich heraus: Es ist die Internationale. Dieser Mann erwirbt das Vertrauen des Jugendlichen, endlich fördert er aus einem Versteck eine zerlesene Schrift: Das kommunistische Manifest. Dem Jugendlichen gehen die Augen auf, gemeinsam schreiten sie in eine hellere Zukunft.
Er grüßte Herrn Vogelsang, wie ein Junge einen erwachsenen Nachbarn grüßt. Grüßte er mit »Heil Hitler!«? Eigentlich grüßte er immer mit »Heil Hitler!« und erhobener Hand. Wenn er es Herrn Vogelsang gegenüber tat, dann nicht, um zu provozieren. Wahrscheinlich nickte Herr Vogelsang zurück.
In Texten dieser Art fehlt nie die Erörterung, was und wieviel der Autor von KZ-Greueln gewußt hat, es gilt als moralisches Kriterium erster Ordnung. In diese Kindheit spielte von ferne der Begriff »Konzert-Lager« hinein. Dort wurden, so hörte er, Kommunisten umerzogen. Ein »Konzert-Lager« war in Sachsenburg, zehn Kilometer von Mittweida entfernt; es wurde bald aufgelöst. Wenn er um sein zehntes Jahr aufgefordert worden wäre, ein »Konzert-Lager« zu zeichnen, hätte er versucht, eine Blaskapelle darzustellen, im Karree standen Männer und hörten zu, am Rande wären da noch niedrige Häuser oder Zelte gewesen. Die Kapelle spielte gewiß einen Militärmarsch. Oder die Männer sangen ein erzgebirgisches Volkslied, vielleicht das vom Vuglbeerbaam. Dann gingen sie an die Arbeit, denn in diesen Lagern brachte man ja Kommunisten das Arbeiten bei. Herr Vogelsang war dort gewesen, nun war er wieder hier. Er war umerzogen, nun ging er morgens in die Fabrik und kehrte abends heim. »Heil Hitler, Herr Vogelsang!« Mit Frau Vogelsang hat er gelegentlich gesprochen, sie war eine kräftige Frau mit lauter, manchmal fröhlicher Stimme. In seiner Familie hörte er auch das: Wirklich anständige Leute. Als Herr Vogelsang im Lager gesessen hatte: Die arme Frau!
Aber vielleicht grüßte er diesen Mann mit »Guten Tag«? Denn in der Familie, im Haus und in der vertrauten Umgebung galten die alten Formeln. »Guten Morgen, Herr Vogelsang!« Hans Vogelsang hütete sich, die Internationale zu pfiffeln. Ein Problem oder gar ein Vorbild war er für L. nicht. Nach dem Krieg wurde er Bürgermeister von Mittweida, Landrat von Döbeln und Vorsitzender der SED-Parteikontrollkommission im Bezirk Leipzig. In dieser Eigenschaft verpaßte er dem Genossen L. im Herbst 1953 eine Rüge.
Zu wem also schaute er auf, da nicht zum Kommunisten Vogelsang? »Loest, was haben Sie getan bis heute?« So begann jede zweite Lateinstunde, er saß im Blickfeld seines Rektors und konnte es sich nicht leisten, ungenügend vorbereitet zu sein. Ein großgewachsener, dünner Mann, der sich sehr gerade, geradezu steif hielt, schmaler Kopf mit angebürstetem Haar, Bärtchen, Falten zum Kinn hinab, goldgefaßte Brille: Rektor Lehnert. Sein Vorname? Er ist vergessen, damals spielte er keine Rolle. Dieser Mann hatte in der ersten Lateinstunde angeordnet, das Arbeitsmaterial habe griffbereit an der linken Pultseite zu liegen; er brauchte sich nicht zu wiederholen. In seinen Stunden wurde gearbeitet von der ersten bis zur letzten Minute. »Loest, was haben Sie getan bis heute?« Er hatte Vokabeln gelernt und Grammatik gebüffelt und wieder ein Stück aus Cäsars »Gallischem Krieg« präpariert. Die Sitte, in der Stunde vor den Ferien einigen Ulk zu treiben, hatte für Lehnert keine Gültigkeit; er war Preuße bis zum letzten Klingelzeichen. Als der Krieg begann, schaffte er den Begriff »hitzefrei« ab, denn an der Front gäbe es ihn für den deutschen Soldaten auch nicht. Nie hob er die Stimme, das hatte er nicht nötig. Nie lachte er, wahrscheinlich hat er nicht ein einziges Mal gelächelt. In seinen Stunden schielte niemand zum Nachbarn.
Die Schüler verehrten ihn. An diesem Mann war alles eindeutig, es gab nichts Halbherziges, Verwaschenes. Vorsagen galt in seinen Stunden nicht als läßliches Vergehen, bei dem der Lehrer rügend die Braue hob, Lehnert nannte es Betrug. Einmal, schon im tiefen Krieg, vertrat er den Vertreter des Sportlehrers, zog die Jacke aus und öffnete das Hemd, da sahen seine Schüler eine tiefe Narbe auf einer Brustseite, eine Einbuchtung, in die man hätte eine Faust legen können. Deswegen könne er Übungen am Reck nicht vormachen, sagte Lehnert, eine Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg. Dieses Gespräch von wenigen Sätzen empfanden seine Schüler beinahe als Intimität.
Sein Spitzname: Der Rex. Er war Nazi; es geht nicht an, ihm nachträglich eine Mitläuferbescheinigung auszustellen. Er war schon vor 1933 Mitglied der NSDAP gewesen, sicherlich begünstigte das seinen Aufstieg zum Direktor. Er war Politischer Leiter. Einen Winter über dozierte er in einem Kursus, in dem Mittweidas Hitlerjugendführer auf ihre geplante Mitgliedschaft in der NSDAP vorbereitet wurden. Den Marxismus erklärte er so: Er wolle alle Menschen gleichmachen, aber es gäbe verschiedene Begabungen und Temperamente, es gäbe Fleißige und Faule, da müßten also die Fleißigen für die Faulen mitarbeiten, und alles würde im Chaos enden. Den Materialismus definierte er so, und das war kein geistiger Eigenbau, das wurde landauf, landab so gelehrt und entstammte zentralen Schulungsbriefen: Der Materialismus schätzte alles nur nach seinem materiellen Wert ein, das herrlichste Gemälde bedeutete den Materialisten nur den Preis für Leinwand, Farbe und Rahmen. Mittweidas Nazinachwuchs schmunzelte: Wie überlegen war man doch diesem jüdisch-bolschewistischen Blödsinn! Arier waren schlauer, man war Arier, Gott sei Dank.
Lehnert war Nazi. Er war nicht der fette grölende Säufer, den Bücher und Filme mit kleiner Münze darstellen, und nicht der Saalschlachttyp der Kampfzeit. Er war korrekt, gerecht, spartanisch. Für diesen Mann ging eine ganze Schule durchs Feuer. Er war Kathedertäter.
Fast alle Lehrer überlebten den Krieg. L. hatte nie das Bedürfnis, mit einem von ihnen über das zu sprechen, was sie ihm anerzogen hatten; sicherlich wäre er Ausflüchten und Halbheiten begegnet. Mit einem hätte er für sein Leben gern gesprochen, mit dem Rex. Aber Lehnert wurde mit zwei Dutzend anderer Mittweidaer Faschisten interniert, im Herbst 45 mußten sie unter Bewachung ehemaliger polnischer KZ-Häftlinge auf schlesischen Äckern Kartoffeln roden. Die Bedingungen waren so hart, daß Lehnert den ersten Nachkriegswinter nicht überlebte.
Im Sommer 1942, L. war sechzehn, ging die Rede, eine neue Waffen-SS-Division sollte aufgestellt werden, die Division »Hitlerjugend«. Die Werber argumentierten: Ein Dilemma bestünde darin, daß die Ausbildungszeiten zu kurz seien; deshalb würde diese Elite länger trainiert werden, nicht drei oder vier Monate, sondern anderthalb Jahre. Bewährte Führer aus anderen Waffen-SS-Einheiten sollten die Division befehligen, die Mannschaften würden ehemalige HJ-Führer sein, das Beste vom Besten, fanatisch, hart. Diese Division sollte geschliffen werden für den entscheidenden Schlag.
L. und sein Klassenkamerad Joachim Barthel wurden sich schnell einig: Da gehen wir hin! Nicht zur stupiden Infanterie, die Waffen-SS hatte beste Waffen, beste Verpflegung! Wer schon nicht in einen Panzer kriechen wollte, konnte dort auch Panzergrenadier werden oder Panzerabwehr-Kanonier oder Funker. Also auf zum Rex, denn der mußte die Genehmigung geben.
Er saß, als L. und Barthel die Hacken knallten und die Rechte reckten, schief auf dem Stuhl, den Arm seitlich auf der Lehne. Die beiden SS-Willigen sagten ihr Sprüchlein auf und baten ihren Rektor, er möge ihnen die Erlaubnis und vor allem den Notreifevermerk geben, den Abitur-Ersatz. Der Rex schüttelte ihnen keineswegs anerkennend die Hände. Ob ihn des Nachts bisweilen das Grauen packte, wenn ihn die Erkenntnis überfiel, daß er einen Jahrgang nach dem anderen in den Tod entlassen hatte, daß aufgerieben wurde, was bei ihm um Ovid und Tacitus bemüht gewesen war? Da standen nun wieder zwei, er sollte ihnen das Recht auf besonders frühen Heldentod bescheinigen, und da sagte er: Ihr kommt auch nächstes Jahr noch zurecht.
Die Waffen-SS-Division »Hitlerjugend« wurde ohne Barthel und Loest aufgestellt, wurde gründlich ausgebildet und im Juni 1944 gegen einen Brückenkopf der Alliierten in der Normandie in Marsch gesetzt. Elite krachte auf Elite. Diese Division wurde aufgerieben. Der Rex hat L.s Lebenserwartung entscheidend erhöht und sein Hirn freigehalten von zweijährigem SS-Einfluß, der nach dem Krieg schwierig herauszuwaschen gewesen wäre. L. wäre in die Ecke gedrängt worden und hätte sich mit belastenderen Schuldgefühlen herumschlagen müssen. Der Rex hat ihm womöglich das Leben gerettet und mit Sicherheit sein Wesen von Verkrustung bewahrt, hat ihm Sensibilität erhalten in einem Maße, daß später aufgehellt werden konnte, der Rex, der Nazi, der Preuße, doch nach dem Warum konnte er im Frieden nicht befragt werden. Barthel und L. meldeten sich enttäuscht ab. Aber Barthel kam dennoch ums Leben, er geriet als Heeresartillerist in Mähren in die letzten Kanonaden, seitdem fehlt von ihm jede Spur. Seine Mutter stand jahrelang nach dem Krieg jeden Abend am Bahnhof, ihr Junge stieg nicht aus dem Zug. Darüber verlor sie den Verstand und verlosch. L. träumte hundertmal die gleiche Geschichte: Achim war wieder da, war schon lange da und wohnte im alten Haus und hatte sich verwunderlicherweise nicht bei ihm eingefunden. Allmählich wurden diese Träume seltener, Mitte der fünfziger Jahre blieben sie aus.
3
Vom Sommer 1942 an trug er die grünweiße Schnur des Fähnleinführers und Achselklappen und eine silberne Litze um die Mütze wie ein Offizier. Jetzt hörten hundertzwanzig Jungen auf sein Kommando, das heißt, sie hätten hören sollen. Aber zwanzig bis dreißig hörten außerordentlich ungern auf ihn und einige überhaupt nicht. Er probierte den simplen NS-Trick: Ein paar Rauhbeine ernannte er zu Jungenschaftsführern, prompt reagierten sie ihre Energien nicht mehr gegen ihn, sondern gegen ihre ehemaligen Kameraden ab. Etliches, das bisher zum Dienstbetrieb gehört hatte, starb ab: Sommerlager, Wochenendfahrten, dafür fehlte es an Lebensmitteln, an Schuhen. Bezugsscheine für Uniformstücke wurden an die ausgegeben, die sie am dringendsten brauchten, vor allem an die Führer natürlich, und alle aus L.s Klasse trugen den Winter über Hitlerjugendhosen, auch Andrießen, der es im Jungvolk nicht zu Führerehren gebracht hatte und nun unfroh ein rotweißes Schnürchen in der HJ trug. Er konnte sich nicht vorm Dienst drücken, was er liebend gern getan hätte, denn dann hätte er nicht Fußball spielen dürfen beim Mittweidaer Fußballclub 1899, was er mit Leidenschaft und Befähigung betrieb. Sah er sich auf dem Posten des National-Linksaußen als Nachfolger eines Pesser, Urban oder Arlt?
Die Schule spielte eine immer kläglichere Rolle. Längst zweifelte niemand aus dieser Klasse daran, daß nun auch sie für diesen Krieg noch zurechtkämen, und das lange vor dem Abitur. Da lohnte es nicht mehr, sich anzustrengen, und alle Lehrer drückten beide Augen zu, außer dem Rex, der das volle Pensum verlangte: Cäsars gallisches Kriegstagebuch wurde übersetzt in flottes Wehrmachtsberichtsdeutsch, terra hieß Gelände. Ob der Deutschlehrer wirklich meinte (wie er nach dem Krieg feilbot), er erwecke demokratische Gedanken, wenn er die Große Französische Revolution ausführlich behandelte? Aber bei einem Appell in der Aula philosophierte er über den verfluchten Satz, daß es süß sei, für das Vaterland zu sterben.
In diesem dritten Kriegsjahr wurde häufiger gestorben, immer öfter war jemand dabei, den L. kannte, ein Schüler aus einer höheren Klasse, ein ehemaliger Jungvolkführer, bekannt als großartiger Geigenspieler oder Mathematik-As oder Handballgröße oder Schürzenjäger, sie fielen während der Frontbewährung als Fahnenjunkerunteroffiziere oder danach als Leutnants oder erstickten in ihrem zerbombten U-Boot. Verluste im Jahrgang zweiundzwanzig, im Jahrgang dreiundzwanzig, der Jahrgang vierundzwanzig rückte ein. Die Hälfte der Jungen in seiner Klasse gehörte dem Jahrgang fünfundzwanzig an, unter ihnen wurde aus immer aktuellerem Grund diskutiert, zu welcher Waffengattung sie sich melden sollten. L. sehnte sich nicht in die Lüfte und wollte weder in einem Schiffsrumpf noch in einem Panzer eingesperrt sein, aber die brave alte Infanterie, in der schon Großvater und Vater gedient hatten, erschien ihm zu simpel, also meldete er sich zu den Panzergrenadieren. Reserve-Offizierswerber wollte er werden, Offizier für die Dauer des Krieges, dann wollte er Landwirtschaft studieren. Denn ein paarmal hatte er Ferienwochen auf einem Hof in Pommern verlebt, wo Verwandte aus der Linie des Albert L. wohnten, dort hatten es ihm Pferde und Roggenfelder angetan. Auch mit Schmalz gebackene Kuchen, auch geräucherte Gänsebrüste. Es ging die Rede, den dreihundert Jahre lang im Familienbesitz gewesenen, 1928 verschluderten Hof zurückzuerwerben. Das konnte er sich vorstellen: Erbhofbauer in Pommern. Aber erst mußte dieser Krieg gewonnen werden. Daß er ihn überleben würde, stand für ihn fest.
Den Blitzsiegen schloß sich verteilter Schlagabtausch an, dann prasselte es hageldicht; 1943 wurde spürbar, daß die anderen am längeren Hebel saßen. Niederlagen um Stalingrad und im Kaukasus, Halbgott Rommel konnte Nordafrika nicht halten, Amerikaner und Engländer landeten in Italien, Hitlers Busenkumpan Mussolini stürzte ab, die Offensive von Kursk rannte sich fest, Radarstrahlen enttarnten die U-Boote, weit mehr Bomben fielen jetzt auf Deutschland als auf England. L. saß am Radio, sah die Wochenschau, las Zeitung. Er lauschte durch das Pfeifen der Störsender hindurch so gut es ging dem Londoner Rundfunk und angeblichen Soldatensendern, ganz selten drang Radio Moskau durch. Er hörte die Namen deutscher Soldaten, die in Gefangenschaft geraten waren, und die Namen befreiter sowjetischer Orte; Fakten über Fakten schlugen auf ihn ein, die beweisen sollten, daß Hitler den Krieg entfesselt und verloren hatte. Längst nicht alles glaubte er, preßte aber immer wieder sein Ohr an den Lautsprecher, gierig auf verbotene Frucht. Im Sommer 1943 wurden die Rationen arg gekürzt, obwohl Göring versichert hatte, von jetzt an ginge es dank eroberten Raumes nur noch aufwärts. Da war L. endlich selbst betroffen, nun hieb ihm der Krieg auf den Magen. Vom Sommer 1943 an war der Hunger sein immerwährendes Problem für die nächsten fünf oder sechs Jahre. In allen Büchern, die er später schrieb, spielt Essen eine lustvolle Rolle.
Nachts heulten nun auch in Mittweida die Sirenen. Über den Hydrierwerken um Leipzig und Halle flammte der Horizont rot und gelb. Nach nächtlichem Alarm begann die Schule eine Stunde später. Fast jeden Nachmittag war Dienst: Heimabend, Sport, Geländedienst, Schießen. Diesen Satz eines Offiziers hatte er gelesen: »Wer nicht schießen kann ist draußen ein toter Mann.« Er wollte kein toter Mann sein, also wurde er Jungschütze im Schützenverein Mittweida e. V., dort und mit seinen Pimpfen gab er ungezählte Kleinkaliberschüsse liegend, kniend und stehend ab. Auf dem Geburtstagstisch dieses Sechzehnjährigen lag eine Pistole, Parabellum 9 Millimeter. Vorher war er oft dabeigewesen, wenn Vater seine Waffe aus dem Ersten Weltkrieg gereinigt hatte, er kannte sich aus mit dem komplizierten Gelenkverschluß. »Du bist nun alt genug«, hieß es, »mach keinen Unsinn damit.« Er freute sich über dieses Geschenk, eine Sensation war es nicht. Mit Freunden schoß er in einem Steinbruch nach Blechbüchsen. Er war ein Mann, der eine Waffe besaß, nun war er endgültig bereit zum Krieg.
Deutschland, Deutschland, über alles! Die Fahne hoch! Die Hymnen wurden gesungen nach jedem Appell, nach Beförderungen, zu Beginn des Schuljahrs, an seinem Ende, zu Führers Geburtstag, vermutlich jede Woche. Deutschland, Deutschland, über alles! Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen! Dabei alberte keiner, flirtete keiner. L. sang die beiden Strophen tausendmal. Ein Drittel Jahrhundert später hört der Chronist manchmal um Mitternacht die Nachrichten des Deutschlandfunks und zuvor die Hymne der Bundesrepublik Deutschland, textlos. Danach Pause, Stille. Das Ohr des Chronisten wartet. Nach einer Pause von anderthalb Sekunden meint sein Ohr, es müßte weitergehen im Stampfrhythmus, wie es tausendmal weiterging mit dem Horst-Wessel-Lied, härter jetzt, kämpferischer, nicht mehr weihevoll: Tam tam tam tam! Die Dauer dieser Pause ist eingeschliffen wie die Fortsetzung. Vernunft und die Strecke eines halben Lebens kommen dagegen nicht an.
Schneckengrün lag zurück, er fuhr nach Hartmannsdorf, aus Minus wurde Plus, er war wieder oben! Jedes Jahr einmal testete die Jungvolkführung des Kreises Rochlitz die Elf-und Zwölfjährigen, wer von ihnen Fähigkeiten ahnen ließ, in die Führungsspitze aufzusteigen; die Gau- und Kreisleiter der Jahre 1970 und 1980, die Reichskommissare für Krim und Kaukasus, Burgund und Brabant, die Nachfolger für Mutschmann und Dr. Ley, der künftige Reichsjägermeister und der spätere Leiter der deutschen Gerichtsbarkeit im Protektorat Böhmen und Mähren wurden gesucht. Aus Städten und Dörfern des Kreises waren die fünfzig gewecktesten, sportlichsten, klügsten, eifrigsten Jungen in die Jugendherberge von Hartmannsdorf geschickt worden, auf daß aus ihnen zwei, drei ausgesiebt würden, damit sie auf der Nationalpolitischen Erziehungsanstalt den Eliteschliff erführen. L. war Hilfsauswähler, Hilfsschleifer, er ließ singen und springen, notierte 60-Meter-Zeiten und Zielwurfergebnisse, verteilte Noten für Bettenbau und Schuhputz.
Härtetag: Nach dem Frühstück traten die Jungen an, jeder verstaute zwei Doppelstullen im Brotbeutel, der Chefauswähler befahl: Die Stullen durften nur auf Befehl gegessen werden! Mit der Bahn fuhr der Trupp nach Chemnitz und marschierte zum Hallenbad, dort sprangen die Hilfsschleifer ins Wasser und lauerten unter dem Dreimeterbrett, die künftige Elite plumpste herunter, wurde herausgefischt und zur Leiter bugsiert mit Rettungsschwimmergriffen, und L. staunte damals, und den Chronisten kommt Beklemmung an bei der Erinnerung, daß keiner der Jungen auch nur einen Augenblick zauderte, daß keiner heulte und sich sträubte, alle stiegen die Leiter hinauf und liefen auf dem Brett vor und ließen sich fallen, Nichtschwimmer zum Teil, und wurden gerettet und kletterten aus dem Becken, sie hatten die Mutprobe, die viel stärker eine Gehorsamsprobe war, bestanden. Wie viele von ihnen hätten später, wären sie nicht 1945 von sich selber befreit worden, auf Befehl Juden erschossen?
Wieder traten sie an und marschierten aus dem damals noch unzerbombten Chemnitz heraus, jeder der Jungen trug die feuchten Badesachen im Brotbeutel und daneben die Stullen. Nach drei Stunden rasteten sie in einem Wäldchen, ihnen wurde erlaubt, sich ein wenig zu zerstreuen. Listig erinnerte keiner der Verführer an das Eßverbot, die Jungen setzten sich ins Gras oder kletterten über Felsbrocken oder spielten Krieg im Unterholz, und alle, alle hatten Hunger, Mittag war vorbei, es wurde nachmittag, und seit dem Morgen hatte keiner etwas gegessen. Wieder wurde angetreten und weitermarschiert. Vor der Jugendherberge von Hartmannsdorf mußten die Jungen ihre Stullen vorzeigen, und nicht einer hatte auch nur die Wurst heruntergenascht. Der Chefauswähler nickte: Herrliches Menschenmaterial! Für den Rest des Tages war dienstfrei.
Nach dem Ersten Weltkrieg fragte Erich Kästner in einem Gedicht, was geworden wäre, wenn wir den Krieg gewonnen hätten; »zum Glück gewannen wir ihn nicht«, war sein Resümee. Wenn Hitlerdeutschland seinen Krieg gewonnen hätte, wären die meisten der Sieger Wächter geworden zwischen Sizilien und dem Nordkap, hätten immerfort Posten gestanden vor Kasernen und Gefängnissen und Lagern, um die Besiegten in Schach zu halten. Wirkliche Herren wären nur wenige geworden, darunter die Auserwählten von Hartmannsdorf. Zum Glück wurden sie es nicht.
Wieder Alltag. Altpapiersammeln, Schule, Mädchen, Fliegeralarm. In Mittweida hatte sich ein Teil der Berliner Lorenzwerke vor den Bomben verborgen, in rasch errichteten Werkstätten in einem Tal zwischen Stadt und Wald produzierten Berliner Ingenieure mit britischen und kanadischen Gefangenen elektrisches und feinmechanisches Rüstungszubehör. In den Gebäuden eines ehemaligen Erziehungsheims genas frontversehrte Waffen-SS, das Technikum bildete Luftwaffeningenieure aus. Alle Fabriken produzierten für den Krieg oder produzierten nicht; längst hatten sich die Schraubenregale in Alfred Loests Lager geleert. An klaren Abenden hörte L. wieder und wieder verbotene Sender; was er für sich entnahm war Angst vor einem ungeheuren Strafgericht, das nach einer Niederlage auch über ihn hereinbrechen würde. Nach dem Krieg ist weidlich gerätselt worden, ob es klug von den Alliierten war, von Deutschland bedingungslose Kapitulation zu fordern, ob nicht die angedrohten Strafen und die geplante Zerstückelung verzweifelten Widerstand begünstigt haben. Für L. ergab sich aus der Summe der Sendungen, die er hörte, die Gewißheit: Es bleibt uns ja gar nichts übrig, als immer weiter zu kämpfen. Nie hatte er das Gefühl: Da ist jemand, der will dich, Erich Loest, befreien.
Widerstand in Mittweida? Konspiration mit Kriegsgefangenen? Flugblätter? Sabotage? Er hat nie etwas davon gemerkt, er hörte auch im nachhinein nichts von Aufdeckungen, Verhaftungen. Vielleicht meldete die Gestapo durch Jahre hindurch: Keine besonderen Vorkommnisse. Gestapochef war, wie es nach dem Krieg hieß, der Bankdirektor, der L.s Sparbuch verwaltete; seine hübsche Tochter geigte im Schulorchester Mozarts »Kleine Nachtmusik«. Der Kommunist Vogelsang wartete auf seine Befreiung, der HJ-Führer L. nicht.
Dieses Kapitel wurde schon einmal gedruckt, 1977 in der DDR-Literaturzeitschrift ›Sinn und Form‹. Vorher hatte es zwei Jahre lang in einem Schubfach des Herausgebers Wilhelm Girnus geschmort. Damals war der gewöhnliche Hitlerjugendalltag noch kein literarisches Thema, Christa Wolfs »Kindheitsmuster« war noch nicht erschienen. Hartnäckig legte ein Lektor das Manuskript immer wieder Girnus auf den Schreibtisch, denn er selbst, wenige Jahre älter als L., stammte aus Hainichen, 15 km von Mittweida entfernt, und an jenem Tag, als L. an der Autobahn dem Führer hatte zujubeln sollen, schrie und winkte er auf der anderen Seite. Schließlich bestellte Girnus den Autor zu sich und hielt ihm einen ausschweifenden Vortrag über die eigenen Umtriebe vor der Nazizeit, er war Vorsitzender des Kommunistischen Hochschulbundes gewesen. Girnus hatte zehn Jahre lang im KZ gesessen, L. wußte es. Am Ende brachte Girnus einige beherzigenswerte Einwände zum Text und die große Verwunderung: Eine Stadt wie Mittweida ohne antifaschistischen Widerstandskampf, das könne er sich gar nicht vorstellen! Der Held der Geschichte, dieses sanfte Fleisch, er verstünde ihn nicht. So ohne jede Auflehnung … L. sagte: So wie ich waren neunzig Prozent. Girnus mochte es nicht glauben. Schließlich willigte L. in nützliche Vorschläge ein und versprach, darüber nachzudenken, ob es in Mittweida nicht doch aktiven Widerstand gegen den Faschismus gegeben hätte. Dabei blieb es. Girnus druckte.
Der Kriegsalltag schleppte sich hin mit zermürbender Arbeit, der Sorge um das tägliche Brot, dem Einteilen der Rationen. Als bedrückend wurden nicht so sehr die Rückzüge an immer noch weit entfernten Fronten empfunden wie die Zerstörung deutscher Städte. Diese Namen klangen wie Abteilungen der Hölle: Köln, Kassel, Dortmund, Aachen. Aus dem zerbombten Hamburg und dem sirenendurchheulten Rheinland kamen Jungen in die Klasse und ins Fähnlein, einer lebte in der Familie, für ein Jahr besaß L. einen jüngeren Bruder. In der Schule waren zwei Klassen aus Krefeld mit ihren Lehrern untergebracht für ein halbes Jahr, danach wurden sie gegen andere Klassen ausgewechselt, und er bekam den Auftrag, sie unbeschadet nach Hause zu bringen in überfüllten Zügen, beim Umsteigen in Leipzig, Kassel und Düsseldorf keinen abhanden kommen zu lassen, und er bewältigte diesen Transport mit Schläue und Findigkeit. Diese Jungen brachte er unversehrt nach Krefeld und übergab sie ihren Müttern, die ihm aus Dankbarkeit Geld zusteckten. Von diesem Geld fuhr er nach Köln und stand vor dem Dom und fuhr weiter nach Bad Godesberg, wo er zum Siebengebirge hinaufschaute, er aß Stammgerichte und sah Ruinen und Bunker und Flak an den Rheinbrücken, mißachtete die Losung, die da befahl, erst zu siegen, dann zu reisen, aber in Düsseldorf hatte er nichts anderes zu tun, als an Schlageters Grab in der Golsheimer Heide den Arm zu recken.
Die Freunde des Jahrgangs 1925 rückten ein. Für den Zurückbleibenden folgten Monate voller Unrast, Nervosität. Während der Chronist schreibt, grassiert unter der Jugend das Schlagwort »sinnlos«. In diesem Sommer und Herbst 1943 fand L. alles sinnlos. Mutterseelenallein trat er sein Fahrrad über sächsische und brandenburgische Straßen nach Pommern zum Bauernhof seiner Verwandten. Drei Tage lang aß er sich satt, fuhr weiter an die Küste nach Dievenow, wurde von Berliner Jungen in einer Laube aufgenommen, schwamm ein einziges Mal und streunte wieder landeinwärts. In Kamin umringten ihn in einer Jugendherberge Berliner Mädchen, die hierher verschickt waren und sich tödlich langweilten. Sie flehten ihn an zu bleiben und versicherten, ihm die halben Rationen abzutreten, und ihre Rädelsführerin, die ohne Zögern daranging, sich ihn unter den Nagel zu reißen, gelobte, sich von ihrem Vater, einem Bäckermeister, Aschkuchen sonder Zahl schicken zu lassen. Wie die Made im Speck hätte er leben können, Hahn mit dreißig Hennlein, aber am nächsten Morgen, noch ehe die Schönen erwacht waren, schnallte er sein Bündel aufs Rad, durchquerte Berlin und sah ausgebrannte Stadtviertel und verzweifelte auf heißer Straße über Jüterbog nach Riesa, von dort mogelte er sich mit der Eisenbahn bis Erlau, die letzte Station vor Mittweida, denn niemand sollte ihn mit dem Zug ankommen sehen, und mit bemühtem Schwung bog er hoch zu Stahlroß wieder in seine Stadt ein. Am nächsten Tag fragte er sich: Was sollte er hier?
Manche seiner Klassenkameraden schrieben die ersten Feldpostbriefe von der Front. Einer wurde auf die schon abgeschnittene Krim eingeflogen, gefangengenommen und starb später in einem Lager, einer verscholl im Mittelabschnitt der Ostfront. Die Klasse war auf acht Jungen und ein Mädchen zusammengeschrumpft. Zensuren wurden unwichtig. Integral und Differential, Anglizismen, die Erdzeitalter, Lessing: Leider hatte er sich von den Irrlehren der Französischen Revolution zeitweise anstecken lassen und ein fehlerhaftes Stück namens »Nathan« geschrieben. Dennoch war er groß.
Noch einmal brach der Kriegsalltag auf: Leipzig brannte, Mittweida schickte einen Omnibus voll Jungen zu Hilfe, Schaufel und Eßbesteck waren mitzubringen. Zwanzig Jungen organisierte L. und führte sie durch Tage und Nächte, sie kampierten in einem Keller in der Nähe des Bayrischen Bahnhofs auf Fenchelstroh, das sie aus einem Waggon bargen oder stahlen, sie halfen, Fensterrahmen zum Glaser zu bringen und schippten Haustüren frei, sie wurden in einer Schule mit Makkaroni versorgt, die sie von Papptellern aßen und die nach Pappe schmeckten, Soldaten saßen neben ihnen, die stumm löffelten und wieder hinausgingen und Keller freiwühlten, aus denen Klopfzeichen drangen. Manchmal fiel ein Satz: Drei Tage verschüttet, sieben Tote, drei Lebende. Er organisierte Verpflegung für seine Truppe: Die Jacke war mit Jagdwürsten vollgestopft, einmal karrte er zehn Eimer Marmelade heran, wie ein Weihnachtsmann verschenkte er süße Gaben in dem Haus, in dem sie wohnten. Zeitweilig besaß er einen halben Zentner Butter, den größten Teil jagte ihm ein Ortsgruppenfunktionär ab. Sie waren gute Kameraden untereinander, und ehe sie sich abends auf Fenchelstroh betteten, schifften sie zischend in die Glut, die nebenan Ruinenreste verzehrte. Auf dem Stroh unterhielt er sein Völkchen mit Geschichten, die er »Schwänke aus seiner Jugend« nannte.
Nach vier Tagen fuhren die meisten nach Hause, ein harter Kern blieb. Mit einem Malerkarren betrieb ihr Anführer ein privates Fuhrunternehmen zwischen dem Hauptbahnhof und dem Bayrischen Bahnhof, denn Straßenbahnen fuhren nicht. Einmal stand eine weinende Frau mit Koffern und zwei kleinen Kindern vor dem Hauptbahnhof, er fragte, wohin sie wollten, lud die Koffer auf und versicherte, nun ginge alles in Ordnung, und als die Frau noch immer weinte, fügte er hinzu, sie könne ruhig damit aufhören, denn er hätte ja alles in die Hand genommen. Gern entsinnt sich der Chronist seiner guten Tat und täte es reineren Herzens, hätte der edle L. die fünf Mark Trinkgeld verschmäht.
Tags darauf war er krank, Erkältung, Fieber, Grippe. Seine Kameraden organisierten einen Arzt, der stieg in den Keller hinunter und untersuchte ihn auf dem Fenchelstroh, verabreichte landläufige Medizin und empfahl schleunigste Heimfahrt. Aber einer fand, es ginge nicht an, aus bestandener Schlacht mit profaner Erkältung heimzukehren, eine Rauchvergiftung wurde konstruiert: L. hätte in einem brennenden Keller heldisch gewerkt, seine Kameraden hätten ihn mutvoll gerettet. Die Mär mit der Rauchvergiftung brachte ihnen im vollgestopften Zug ein Sonderabteil ein. Mutter L. war froh, ihren Jungen wieder daheim zu haben. »Jaja«, sagte sie nebenher, als sie von Heroentum hörte, und steckte ihren Erich mit einer Wärmflasche ins Bett.
Warten auf die Einberufung, nichts machte Freude. Zu seinem Mädchen verhielt er sich so eklig, daß es sich nach einem anderen umsah. Als er nach dem Krieg in seine Stadt zurückkehrte, war es verheiratet und schob den Kinderwagen.
Im März 1944 gab die Postfrau einen Einschreiber ab: Einberufung nach Leipzig zu einem Grenadier-Ersatzbataillon. Also doch Infanterie. In dieser Kaserne hatte schon Großvater Albert gedient. Ehe L. Soldat wurde, verstaute er die grünweiße Schnur, das Braunhemd mit den Schulterklappen, Fahrtenmesser und Koppelschloß in einer Schublade und wies seine Mutter an, nichts davon unter keinen Umständen wegzuschenken. Als im April 1945 Shermanpanzer auf den Feldern vor Mittweida auftauchten, steckte die Mutter das Brennbare in den Ofen und das Nichtbrennbare in die Aschengrube. Die Pistole warf der Vater Teil für Teil in einen Teich.
Hin und wieder sieht der Chronist in einem Museum ein Fahrtenmesser. Blut und Ehre. Die grünweißen Schnuren sind damals wohl alle verbrannt.